Neue Leitidee "Netto null"

Das Zwei-Grad-Ziel beim Anstieg der weltweiten Temperatur ist kaum noch einzuhalten. Vor allem Europa muss seine Klimastrategie radikal revidieren

„Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“ – dieses auf Sepp Herberger zurückgehende Bonmot beweist seine Gültigkeit nicht nur im Fußball, sondern auch in der internationalen Klimapolitik. Doch während der Trainer der Weltmeistermannschaft von 1954 nach einer gewonnenen Partie vor zuviel Euphorie warnen wollte, verhält es sich bei den jeweils am Jahresende ausgerichteten Weltklimakonferenzen genau umgekehrt: Stets werden die Gipfelergebnisse als Enttäuschung wahrgenommen, doch nach einem kurzen Kater richten sich die Hoffnungen der Klimapolitiker schon wieder auf die nächste UN-Konferenz. Der große Durchbruch kommt bestimmt!

Nach dem Ende 2009 spektakulär gescheiterten Gipfel von Kopenhagen hielt die Schockstarre ein wenig länger an als üblich. Im Vorfeld der Klimakonferenz in Cancún bemühte man sich deshalb um ein wesentlich defensiveres Erwartungsmanagement. Doch gemessen an den enormen Herausforderungen, die der Klimawandel für die Weltgemeinschaft mit sich bringen wird, war auch Cancún eine Enttäuschung. Die Hoffnungen auf den Abschluss eines umfassenden und ehrgeizigen Weltklimavertrags richten sich nun auf den nächsten Gipfel Ende 2011 in Südafrika. Und wer an Erfolge bei Weltklimakonferenzen nicht mehr so recht glauben mag, dem bleibt noch der „Rio plus 20“-Nachhaltigkeitsgipfel im Mai 2012. Und wenn das nicht klappt? Steht Ende 2012 schon wieder ein Weltklimagipfel an. Und 2013? Erscheint der nächste Sachstandsbericht des Weltklimarats IPCC, der sicherlich neue Impulse für die internationale Klimadebatte bringen wird.

Was bei alldem leicht übersehen wird: Für das Weltklima ist es letztlich unerheblich, mit welcher Intensität debattiert und verhandelt wird, entscheidend sind allein die globalen Stoffströme, besonders der Umfang an Treibhausgas-Emissionen. Diese sind seit 1990 weltweit um 30 bis 35 Prozent angestiegen, eine Trendwende ist derzeit nicht in Sicht. Und spätestens seit den Midterm-Elections in den Vereinigten Staaten sollte klar geworden sein, dass die Aussichten auf ein umfassendes internationales Abkommen für die kommenden Jahre gegen Null tendieren. Denn selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass die Regierung Obama ein solches Abkommen unterzeichnen sollte, würde es ihr nicht gelingen, 67 Senatoren zu finden, die zur Ratifikation eines völkerrechtlich verbindlichen Vertrags notwendig sind. Und solange sich die USA nicht bewegen, ist nicht zu erwarten, dass China sich einem wirksamen internationalen Klimaregime unterwerfen wird.

Eine große Lösung wird es nicht geben

Angesichts dieser betrüblichen Aussichten ist es an der Zeit, dass die in der globalen Klimapolitik immer noch führende EU ihre zentralen Ansätze und Ziele kritisch auf den Prüfstand stellt – vor allem das bislang dominierende Top-Down-Paradigma und das damit korrespondierende Ziel einer Begrenzung des Temperaturanstiegs auf maximal zwei Grad Celsius. Nicht mehr die eine „große Lösung“ namens Weltklimavertrag sollte im Mittelpunkt der Bemühungen stehen, sondern ehrgeizige Schritte zu einer „Dekarbonisierung“ der am weitesten entwickelten Volkswirtschaften.

Schon die bisherigen Treibhausgas-Emissionen werden einen Temperaturanstieg von etwa 1,5 Grad verursachen, verglichen mit dem vorindustriellen Zeitalter. Auf Basis von Modellrechnungen wird die Klimaforschung schon in den kommenden Jahren darüber urteilen können, ob die Zwei-Grad-Marke überhaupt noch zu schaffen ist. Im wahrscheinlichen Fall eines prognostizierten Scheiterns wird die Politik ohnehin ein neues Ziel formulieren müssen. Der einfachste Weg wäre dann, dem bisherigen Top-Down-Ansatz treu zu bleiben und lediglich für eine neue Temperaturobergrenze zu plädieren, beispielsweise 2,5 Grad. Aber abgesehen davon, dass sich dies einer breiten Öffentlichkeit kaum glaubwürdig erklären ließe, würde ein entscheidender Konflikt nur vertagt werden. Die Klimapolitik muss sich, wenn sie wirksame Veränderungen anstoßen will, stärker von der Klimaforschung emanzipieren.

Den von Naturwissenschaftlern und Klimaökonomen bevorzugten Konzepten liegt ein hohes Maß an Steuerungsoptimismus und Rigidität zugrunde, das sich mit den tatsächlich vorfindbaren Strukturen der internationalen Klimapolitik nicht vereinbaren lässt. Zwar kann es in wissenschaftlicher Perspektive durchaus sinnvoll sein, globale Temperaturgrenzen zu definieren. Auf dieser Basis das der Welt bis 2050 noch verbleibende „Emissionsbudget“ festzulegen und die Emissionsrechte im Rahmen eines verbindlichen Weltklimavertrags gerecht auf alle Nationen zu verteilen, wäre durchaus sachgerecht. Technisch und ökonomisch wäre eine solche Transformation möglicherweise auch machbar – politikfähig ist ein solcher Ansatz jedoch nicht! Auf globaler Ebene fehlen in absehbarer Zukunft die Institutionen und Instrumente, mit denen sich ein solches Regime einrichten ließe.

Nicht einmal die EU, die ihre Klimapolitik als „wissenschaftsbasiert“ bezeichnet, wird dem Budgetansatz in seiner strikten Form folgen können. Nicht nur, dass sie beim Aufstellen von Klimazielen flexibel bleiben muss, um in der Lage zu sein, die wechselnden Rahmenbedingungen internationaler Politik, die innenpolitischen Verhältnisse in den Mitgliedsstaaten und die Interessen wirtschaftlicher Akteure hinreichend zu berücksichtigen. Auch wird sich die EU nicht darauf einlassen können, den Klimaschutz mittels eines strikten Budgetierungsmechanismus für die nächsten vier Dekaden als oberste politische Priorität festzuschreiben. Dies ist schon deshalb undenkbar, weil jeder neue Bericht des IPCC auch Anpassungen des Emissionsbudgets zur Folge haben könnte – in der Regel wohl nach unten. Planungssicherheit sieht anders aus.

Beim Top-Down-Ansatz richten sich die politischen Anstrengungen zuerst darauf, einen umfassenden Weltklimavertrag auszuhandeln. Anschließend muss dieser noch ratifiziert werden, was beim Kyoto-Protokoll weitere sieben Jahre in Anspruch nahm! Und selbst dann ist nicht garantiert, dass sich alle Unterzeichner auch wirklich an die Regeln halten, denn die Sanktionsmechanismen fallen in der internationalen Umweltpolitik meist sehr schwach aus. Die Fokussierung auf den globalen Verhandlungsprozess hat für die Regierungen den angenehmen Nebeneffekt, dass sie stets auf die Untätigkeit der internationalen Verhandlungspartner verweisen können, die sie leider daran hindere, eine ehrgeizigere Klimapolitik zu verfolgen. Selbst die EU weigert sich mit diesem Argument, ihr für 2020 gültiges Reduktionsziel von 20 auf 30 Prozent aufzustocken. Dabei entspräche dies einer gerechten Lastenübernahme auf dem Weg zur Erreichung des Zwei-Grad-Ziels – das erst von der EU international durchgesetzt wurde.

Wenn der »good guy« nichts zu sagen hat

Die Europäer haben sich in den vergangenen 20 Jahren zu recht eine Reputation als globale klimapolitische Führungsmacht erarbeitet. Beim Kopenhagener Klimagipfel hat die EU jedoch schmerzhaft erfahren müssen, dass ihr die Rolle als good guy der internationalen Klimapolitik nicht zwingend auch eine tragende Rolle in UN-Verhandlungen verschafft. Der EU ist es bisher nicht gelungen, auf dieses Dilemma eine Antwort zu finden. Vorläufig genügt es ihr, altbekannte Positionen zu wiederholen und sich auf ihrer Vorreiterrolle auszuruhen. Wenn der Temperaturanstieg eines Tages über die Zwei-Grad-Marke hinausgehen sollte – so ein zuletzt häufig vorgetragenes Argument –, dann werde die Schuld nicht bei den Europäern, sondern bei den Vereinigten Staaten und den großen Schwellenländern zu suchen sein.

Politisch kann die EU mit einer Taktik des shaming and blaming durchaus Punkte machen, vor allem in der europäischen Medienöffentlichkeit und in der Community der Klimaforscher. Entscheidende Fortschritte in der internationalen Klimapolitik aber dürften auf diese Weise nicht zu erzielen sein. Will die EU ihrer globalen Verantwortung tatsächlich gerecht werden, wird sie sich deshalb stärker als bisher auf die Perspektiven ihrer Verhandlungspartner einlassen müssen – selbst wenn ihr klimapolitisches Image darunter leiden sollte.

Bottom-up statt Top-down

Ein alternatives Paradigma stünde vor der Aufgabe, klimapolitischen Realismus mit einer positiven globalen Leitidee zu verbinden. Gelingen kann dies nur mit einer dynamischen Zielformel, nicht mit einer exakt kalkulierten Emissionsobergrenze. Eine der möglichen Varianten bestünde darin, „Klimaneutralität“ auf UN-Ebene als globales Langfristziel festzuschreiben – also anzustreben, dass der Netto-Ausstoß von Treibhausgasen auf Null reduziert wird. Selbst wenn man dies zunächst noch mit einem breiten zeitlichen Zielkorridor verknüpft, wäre damit die Bewegungsrichtung gesetzt, an der sich alle Staaten messen lassen müssten.

Ambitionierten klimapolitischen Akteuren wie der EU käme in diesem Rahmen die Aufgabe zu, sich auf ehrgeizige Dekarbonisierungs-Pfade zu verpflichten. Sie müssten den Beweis antreten, dass die Transformation in low carbon economies technologisch tatsächlich möglich und ökonomisch auch erfolgreich ist, mit positiven Effekten nicht nur für das Klima, sondern auch für Energiepreise und Versorgungssicherheit. Gelänge dies, würden andere Industrie- und Schwellenländer schon aus Eigeninteresse folgen, auch ohne umfassenden Weltklimavertrag.

Ein solcher Bottom-Up-Ansatz würde zu deutlichen Emissionsminderungen führen. Jedoch wäre eine treffsichere Vorhersage darüber, welchen Temperaturanstieg die Welt damit in Kauf nehmen würde, nicht möglich. Allerdings ist zu bezweifeln, dass es sich beim derzeit favorisierten Top-Down-Prinzip tatsächlich anders verhält. Die klimapolitischen Anstrengungen an flexiblen Orientierungsmarken wie „Klimaneutralität“ auszurichten, wäre kurzfristig effektiver und langfristig erfolgversprechender, als an einer strikten Temperatur-Obergrenze festzuhalten, die sich im politischen Prozess ohnehin nicht realisieren lässt.

Notwendig ist dabei nicht zuletzt auch eine Neuausrichtung des klimapolitischen Narrativs. Will die EU in Zukunft einen starken Einfluss auf die internationale Klimapolitik nehmen und diese Bemühungen in der europäischen Öffentlichkeit auch gewürdigt wissen, wird sie vom bisherigen Katastrophendiskurs Abstand nehmen müssen. Der Klimawandel ist kein Problem, für das es einen klaren Grenzwert und damit nur die eine große Lösung gäbe. Pragmatische Schritte in die richtige Richtung sind ebenso notwendig und sinnvoll. Je schneller und je ehrgeiziger die Weltgemeinschaft beginnt, ihre Emissionen zu reduzieren, desto weniger Anpassungsdruck wird vom Klimawandel später ausgehen. Ein verantwortungsbewusstes Risikomanagement muss weit darüber hinausgehen, unrealistische Hoffnungen auf den jeweils nächsten Klimagipfel zu richten. «

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