Gesellschaft mit geschrumpfter Zukunft

EDITORIAL

Gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 lassen sich etliche Einwände erheben – mit guten Gründen und mit nicht so guten. Überhaupt kein guter Grund ist es, wenn Protestierende zu verstehen geben: „Wissen Sie, es soll ja 10 oder 15 Jahre dauern, bis die Sache fertig ist. Bis dahin bin ich sowieso tot, und  darum bin ich dagegen.“ Was passiert hier? In unserer alternden und zunehmend von Kinderlosigkeit geprägten Gesellschaft schrumpft die Zukunft. Genauer: Es schrumpft die subjektive Zukunft – diejenige zukünftige Zeit, die Menschen für sich selbst als noch gestaltbar und gestaltenswert wahrnehmen. Und in den kommenden Jahren wird in Deutschland und Europa der Anteil der Menschen, die den größeren Teil ihrer Lebenszeit bereits hinter sich haben, unaufhörlich zunehmen. Damit verliert die subjektive Zukunft in unserer Gesellschaft insgesamt weiter an Gewicht, während die subjektive Vergangenheit wächst.

Das hat Folgen. So hat etwa der Demografieforscher Harald Wilkoszewski empirisch gezeigt, dass ältere, kinderlose und unverheiratete Menschen weniger geneigt sind, öffentliche Transfers zugunsten von Familien und Kindern zu unterstützen. Stattdessen favorisieren sie Transfers, die ihnen selbst zugute kommen. Auf der individuellen Ebene sind „Alterskonservatismus“ und „Altersegoismus“ seit langem bekannt; was inzwischen zunehmend droht, sind gesamtgesellschaftlicher Alterskonservatismus und Altersegoismus – mit mächtigen Konsequenzen für die Fähigkeit unserer Gesellschaft, ihre objektive Zukunft zu organisieren, also die konkreten Erfordernisse der kommenden Jahrzehnte in den Griff zu bekommen . 

Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hat unlängst seine eigene Beobachtung zur schrumpfenden Zukunft beigesteuert: „Die Menschen sind zutiefst verunsichert und sehnen sich nach dem Ort, wo sich nichts ändert, wo nichts verändert wird, wo sie sich auskennen und sich sicher fühlen ... Selbst das, was schlecht ist, soll so bleiben, wie es ist.“ Das ist natürlich eine vollständig irrationale und unerfüllbare Erwartung. Die nächsten Jahrzehnte werden Jahrzehnte ungeheuren Wandels sein: Im Jahr 2050 werden 9 Milliarden Menschen auf der Erde leben – und sie alle müssen ernährt werden; es drohen dramatische Auseinandersetzungen um Ressourcen, das Ende des fossilen Zeitalters zeichnet sich drastisch ab, und das globale Klima wandelt sich. Wie könnte wohl die Fähigkeit zu ökonomischer und technologischer Innovation erhalten werden, wenn nicht mit massiven Investitionen in Bildung, Forschung und Infrastruktur? Wer soll den Wohlstand der älteren und schrumpfenden Gesellschaft erwirtschaften? Und wer wird die vielen Älteren pflegen und medizinisch versorgen?  

Keine einzige dieser Herausforderungen wird sich bewältigen lassen ohne sehr viel zupackende Erneuerung, ohne Veränderung, Gestaltung und Umstellung. Kein Fortschritt, keine Innovation, keine neuen Ideen, keine Bewegung, keine Dynamik, einfach nur Festhalten am Bestehenden – diese Option besteht ganz einfach nicht. Gerade wer in unseren westlichen Gesellschaften will, dass im 21. Jahrhundert vieles so bleibt, wie es ist,  der wird außerordentlich viel verändern müssen. Grund genug, das Dilemma von schrumpfender subjektiver Zukunft und wachsenden objektiven Zukunftsaufgaben gründlich in den Blick zu nehmen. 

Zum Schluss zwei Sätze in eigener Sache:  Erstmals in der über zehnjährigen Geschichte dieser Zeitschrift müssen wir den Preis der Berliner Republik im kommenden Jahr –  sehr maßvoll – anheben. Wir täten das selbst lieber nicht und bitten herzlich um Verständnis.

Tobias Dürr, Chefredakteur

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