Mythos der achtziger Jahre

Die deutsche Umweltdebatte ist geprägt von Einstellungen und Mentalitäten, die einem vergangenen Zeitalter entstammen. Darum fehlt es dem grünen Deutschland heute zwar nicht an ökologischem Bewusstsein, wohl aber an Rezepten, wie aus guten Absichten gute Politik werden kann. Höchste Zeit, dass die Umweltbewegung wieder Fragen stellt

Seit wenigen Jahren haben ökologische Themen wieder Konjunktur. Im Jahr 2009 fieberte die Welt mit, als auf dem Kopenhagener Gipfel um die Zukunft der Klimapolitik gerungen wurde. Im Jahr darauf explodierte die Bohrplattform Deepwater Horizon; die folgende Ölpest blieb über Monate in den Schlagzeilen. 2011 standen dann Fukushima und die Energiewende lange im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte. Die Grünen freuten sich über ein noch nie dagewesenes Umfragehoch und lagen bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg sogar vor der SPD. Das grüne Deutschland, es scheint zu erblühen wie nie zuvor.

Man muss aber nur den Blickwinkel etwas verändern, und schon sieht der ökologische Aufbruch ziemlich alt aus. So manchem in Ehren ergrauten Öko dürfte im vergangenen Jahr ein gewisses Déjà-vu-Gefühl beschlichen haben: Der Boom glich auf frappierende Weise jenem der achtziger Jahre. In beiden Fällen stand die Atomkraft auf der Rangliste der Themen ganz oben, gefolgt von kontroversen Infrastrukturprojekten – damals Startbahn West, heute Stuttgart 21. Wie zur Bestätigung der Diagnose wurde mit Winfried Kretschmann ein Grüner zum Ministerpräsidenten Baden-Württembergs gewählt, der für die Partei schon 1980 in den dortigen Landtag eingezogen war. Wer dies für einen dummen Zufall hält, der sei daran erinnert, dass keine andere Partei so stark von den Aktiven der achtziger Jahre geprägt ist wie die Grünen.

Kein anderes Jahrzehnt hat die bundesdeutsche Umweltbewegung so nachhaltig geprägt wie die achtziger Jahre, und als selige Erinnerung wirkt dieses Jahrzehnt bis heute nach. Es war die Zeit, in der sich ganz Deutschland um die sterbenden Wälder sorgte; die Grünen eroberten den Bundestag und etliche Länderparlamente; und Katastrophen wie das Sandoz-Feuer und Tschernobyl rüttelten die Menschen auf. „Ökologie“ wurde zum Modewort – und das nicht nur bei denjenigen, die Umweltschutzpapier verwendeten.

Die vom Umweltthema geprägten achtziger Jahre blieben nicht ohne Wirkung auf Politik und Wirtschaft. Kein anderes westliches Land entschwefelte seine Großkraftwerke so rasch wie die Bundesrepublik: Als die Bäume zu sterben drohten, wurden die Betreiber kurzerhand dazu verdonnert, ihre Kraftwerke innerhalb von fünf Jahren nachzurüsten. Hurtig richteten Länder und Bund Umweltministerien ein – auch wenn sich dahinter bei genauem Hinsehen viel institutionelle Kontinuität verbarg, zeigte sich daran doch eine neue Dringlichkeit des Themas. Der Schutz der Umwelt war nunmehr eine ernste Sache.

Die ökologischen achtziger Jahre endeten mit der Wiedervereinigung, auch wenn diese Zäsur zunächst kaum spürbar war. Der Schwung reichte noch, um die Errungenschaften der bundesdeutschen Umweltbewegung – vom Rechtssystem bis zu den Verbandsstrukturen – relativ umstandslos gen Osten zu exportieren. Aber danach machte sich innerhalb dieser Strukturen rasch ein gewisser Stillstand breit. Umweltpolitik in der Defensive lautete 1994 der vielsagende Titel eines Aufsatzbands in der Taschenbuchreihe fischer alternativ, die 1975 mit Herbert Gruhls Ein Planet wird geplündert begonnen hatte und – wie zur Ratifizierung der Diagnose – wenig später eingestellt wurde. Der harsche Wind der Globalisierung und die Wirtschaftskrise nach der Vereinigung führten zu zahlreichen Beschleunigungs- und Deregulierungserlassen, in denen ökologische Probleme nur noch als lästige Modernisierungsbremsen wirkten.

Das Dumme war nur, dass sich die Denk- und Verhaltensmuster der Umweltbewegung wesentlich langsamer wandelten als die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen. Der Boom der achtziger Jahre hatte Mentalitäten und Begriffe geprägt, welche die Umweltszene dazu verleiteten, den Gegenwind als Denken von gestern abzutun: Wachstumsdenken und Fortschrittsfetischismus, Mobilitätswahn und Regulierung als Bremse – man hatte das ja alles schon einmal gehört. Da erschien es allemal verlockender, sich an die alten Maximen zu halten und auf bessere Zeiten zu hoffen.

Tatsächlich entpuppten sich die neunziger Jahre jedoch nicht als kurze Schlechtwetterperiode, sondern als der Beginn eines grundlegenden Wandels der politischen Szenerie. Dabei waren die neuen Bedingungen für Umweltthemen keineswegs nur von Nachteil. Beispielsweise tat sich die Europäische Union seit 1990 mit ambitionierten Initiativen hervor; inzwischen gehört die Umweltpolitik zu den am stärksten von europäischen Richtlinien geprägten Politikfeldern. Der Erdgipfel von Rio de Janeiro 1992 initiierte transnationale Verhandlungsprozesse über Klimawandel, Biodiversität und Wüstenbildung, die seither die politischen Vorhaben der Nationalstaaten prägen. Aber all dies traf in Deutschland auf eine Umweltszene, die sich in der Bundesrepublik der achtziger Jahre konsolidiert hatte und die mühsam aufgebauten Strukturen nicht leichtfertig zur Disposition stellen mochte. So fällt es nicht schwer, hinter der vermeintlich globalen Rhetorik deutsche Interessen zu erkennen – allen voran beim eingängigen Slogan „Umweltschutz schafft Arbeitsplätze“, bei dem der Gedanke an die deutsche Exportindustrie nicht fern liegt.

Vordergründig gibt sich die Umweltszene geschichtslos

Insofern leben die ökologischen achtziger Jahre weiter: als eine Vergangenheit, die einfach nicht vergehen will. Bis heute ist die bundesdeutsche Umweltdebatte von Einstellungen und Verhaltensweisen geprägt, die eigentlich einem anderen Zeitalter entstammen – nur ist dies bislang den wenigsten Aktiven tatsächlich bewusst. Vordergründig gibt sich die Umweltszene geschichtslos, allein getrieben von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und einem selbstlosen, idealistischen Bewusstsein. Und doch muss man nur ein wenig an der Oberfläche kratzen, um auf eine unbewältigte Vergangenheit zu stoßen.

Man nehme nur das Waldsterben, das seit drei Jahrzehnten zum Themenfundus der bundesdeutschen Umweltdebatte gehört. Wer die achtziger Jahre bewusst durchlebte, hat die Warnungen zweifellos noch im Ohr: Säureregen bedroht den Wald, alles deutet auf einen nahen Kollaps hin. Die Medien überboten sich gegenseitig mit immer drastischeren Prophezeiungen, und Exponenten der Umweltbewegung ließen sich im Überschwang der Gefühle zu düsteren Szenarien hinreißen. Stellvertretend zitiert sei Hoimar von Ditfurth, der in seinem Buch So lasst uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen prophezeite, dass der Bundesbürger „in zehn oder fünfzehn Jahren mit seinem dann schließlich abgasgereinigten Auto durch ein baumloses, verkarstetes Mittelgebirge fährt, das lediglich aus historischen Gründen immer noch Schwarzwald oder Westerwald oder Teutoburger Wald genannt wird“.

In Expertenkreisen waren die einschlägigen Szenarien spätestens in den neunziger Jahren obsolet. Die öffentliche Debatte blieb davon jedoch seltsam unberührt: Alljährlich veröffentlicht die Bundesregierung einen Waldzustandsbericht mit Zahlenangaben, die zumeist im Tonfall getragener Sorge referiert werden. Immer noch grassiert das Bild der vom Säureregen bedrohten Bäume, obwohl in unseren Wäldern inzwischen ganz andere Probleme lauern: übermäßiges Wachstum durch Stickoxide, biologische Verarmung in Nadelholz-Reinkulturen, Verarbeitung von Baumresten, die bislang im Wald verrotteten, zu kostengünstigen Holzpellets. Aber in einer Gesellschaft, die immer noch in Kategorien der Waldsterbens-Debatte denkt, haben es solche Themen schwer.

Bisweilen werden Denkmuster von damals sogar auf neue Probleme übertragen. Mustergültig zeigte sich das in der Feinstaub-Diskussion, die nach langem Vorlauf hinter den Kulissen im Jahr 2005 plötzlich ins Rampenlicht der medialen Öffentlichkeit katapultiert wurde. Wie auf Kommando verfielen Politiker aller Couleur in die Denkmuster der achtziger Jahre: So wie für Autos damals der Katalysator eingeführt worden war, sollte das Problem nun mittels eiliger Nachrüstung mit Reinigungstechnologien gelöst und ganz nebenbei die Spitzenreiterposition der deutschen Automobiltechnik gefestigt werden. Bis in die Wortwahl war der Analogieschluss zu spüren. Der Abgasspezialist Twintec bewarb seinen Filterbausatz zum Beispiel als „Rußfilterkat“, obwohl es sich von der Funktionsweise her überhaupt nicht um einen Katalysator handelte.

Erst nach einigen Wochen des hektischen Aktionismus setzte sich die Einsicht durch, dass beim Feinstaub irgendwie alles anders war. Tatsächlich hatte die deutsche Automobilindustrie das Thema verschlafen, deshalb waren es französische Hersteller, die den Branchenstandard definierten. Zudem verursachten einige Filterbausätze höhere Stickoxidemissionen, wenn sie denn überhaupt funktionierten – Störungen und Defekte entwickelten sich beim Rußfilter zu einer geradezu unendlichen Geschichte. Und war es überhaupt sinnvoll, sich ganz auf Autos zu konzentrieren, wo der Feinstaub doch zahlreichen Quellen entstammte?

Als sich herausstellte, dass die bewährten Reflexe in die Irre führten, brach die öffentliche Erregung schlagartig ab. Bis heute dümpelt die Feinstaubdebatte unschlüssig vor sich hin: Einerseits mag der gute Deutsche ein Umweltproblem nicht komplett leugnen, andererseits weiß er mit dem Thema nichts rechtes anzufangen. Quälend langsam richteten die deutschen Großstädte Umweltzonen ein, in denen nur Fahrzeuge mit entsprechender Plakette zugelassen sind. Dass die Emissionsbelastung auf diesem Wege nur um wenige Prozentpunkte gedrückt wird, ist unter Experten zwar unstrittig, aber es fällt schwer, darüber öffentlich zu diskutieren.

Zugespitzte Informationen, dramatische Bilder, einfache Lösungen

Zum Erbe der Achtziger gehört auch, dass die politisch Aktiven gern auf die Macht der öffentlichen Empörung setzen. Im Jahr 1981 besetzte Greenpeace beim Hamburger Chemiekonzern Boehringer den ersten deutschen Schornstein. Die Aktion war nur der spektakulärste Ausdruck einer neuen Art, Umweltprobleme zu kommunizieren: zugespitzte Informationen und dramatische Bilder, mundgerecht zubereitet für die Abendnachrichten. Im Kontext der achtziger Jahre hatte diese Strategie durchaus seine Berechtigung. Noch gab es eklatante Umweltprobleme, bei denen man nur ein paar gute Aufnahmen und keine langatmigen Erläuterungen brauchte. Man musste überhaupt nichts von der Sache verstehen, um zu kapieren, dass man Robben nicht töten und Dünnsäure nicht in die Nordsee kippen sollte. Hinzu kam die dankbare Unterstützung von erbosten Unternehmen, die zunächst gar nicht verstanden, dass ihre Empörung Teil eines ausgeklügelten Schlachtplans war.

Die Öko-Kampagnen der achtziger Jahre lebten nicht nur von dramatischen Bildern, sondern auch davon, dass einfache Lösungen existierten. Beides fügte sich im Normalfall nahtlos zueinander: Wer sich um den bedrohten Wald sorgte, war selbstverständlich für die Rauchgasentschwefelung. Solche technischen Lösungen gab es umso zahlreicher, als sich gerade in den späten siebziger Jahren eine Art ökologischer Reformstau entwickelt hatte. Zum Beispiel war die Rauchgasentschwefelung schon Anfang der siebziger Jahre technologisch ausgereift und nur aus Kostengründen nicht allgemein eingeführt worden. Ähnlich sah es beim Automobilkatalysator und etlichen weiteren Lösungsansätzen aus. Der Boom ökologischer Themen löste den Reformstau rasch auf, indem Behörden auf die beschleunigte Einführung der neuesten Reinigungstechnologien drängten. Im Grunde eine perfekte Arbeitsteilung: Umweltverbände klagen an, Beamte reagieren mit strengen Auflagen.

Jedoch gingen der Umweltbewegung irgendwann die Probleme aus, bei denen man auf diesem Wege zum Ziel kam. Zersiedelung und Bodenschutz, Artensterben und Klimawandel sind typische Herausforderungen, bei denen jede Hoffnung auf eine rasche Lösung illusorisch ist. Vielmehr waren plötzlich langfristige Managementstrategien gefragt, die die Probleme in gewissen Grenzen hielten. Kurzfristige Kampagnen wirkten vor diesem Hintergrund arg schmalbrüstig. Die Umweltbewegung blieb trotzdem bei den Rezepten der Vergangenheit. Dies führte schließlich zum bislang größten Fiasko der Umweltbewegung im 21. Jahrhundert: dem gescheiterten Klimagipfel von Kopenhagen.

Auf dem Gipfel von Kopenhagen gab es nämlich nicht nur multilaterale Verhandlungen, sondern vor den Toren des Konferenzzentrums mobilisierte sich die Zivilgesellschaft. Zehntausende Menschen demonstrierten für das Weltklima, als sei das alles nur eine Sache des guten Willens. „Seal the Deal“ lautete eine verbreitete Parole. Nur lagen keine einfachen Lösung auf dem Tisch, die nur noch gegen Widerstände durchgesetzt werden mussten. Stattdessen herrschte eine komplizierte Gemengelage von Konzepten und Interessen vor, die im Laufe der Verhandlungen immer verwickelter erschien. Die Wucht der öffentlichen Empörung prallte an der Komplexität des Gegenstands folgenlos ab.

Clevere Unternehmer empfingen den Protest mit verdächtig offenen Armen

Damit soll keineswegs suggeriert werden, die Zeit ökologischer Kampagnen sei vorüber und nunmehr müsse das Zepter an kluge Experten übergeben werden, die im stillen Kämmerlein ausgefeilte Lösungen zimmern. Im Kampf mit globalisierten Großkonzernen und politischen Klientelverhältnissen bleibt die Gegenmacht einer empörten Öffentlichkeit weiterhin unverzichtbar. Ganz abgesehen davon, dass eine Umweltbewegung, die allein auf gut vernetzte Insider setzt, eine ziemlich freudlose Veranstaltung wäre. Nur wäre nach den Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte der Glaube naiv, ökologische Kampagnen könnten allein aus sich heraus wirken. Erfolgreiche Kampagnen beruhen auf zahlreichen Voraussetzungen, und einige davon entziehen sich der strategischen Planung.

Damit ist dieser Essay bei dem großen Mythos angelangt, der die ökologischen achtziger Jahre bis heute umgibt: der Vorstellung, das Ergrünen der Bundesrepublik sei in erster Linie dem Engagement betroffener Bürger zu verdanken gewesen. Demnach wäre die Umweltbewegung die Manifestation einer engagierten Zivilgesellschaft – „people power“ in seiner nobelsten Form. In Wirklichkeit gab es einige Akteure, die den ökologischen Protest mit verdächtig offenen Armen empfingen. Das beste Beispiel sind Ingenieure und clevere Unternehmer, die rasch erkannten, dass die ökologische Stimmung neue Herausforderungen und Märkte schaffen würde. Aber es gab da noch einen anderen Verbündeten, über den bis heute erstaunlich wenig diskutiert wird: den Staat.

Diese Tatsache fiel zunächst nicht so recht auf, weil der Atomprotest seit Mitte der siebziger Jahre einen Großteil der zivilgesellschaftlichen Energien in Anspruch nahm. Wer in Brokdorf oder Kalkar am Bauzaun stand, konnte sich den Staat kaum anders vorstellen denn als tumben Leviathan, der sich um ökologische Belange nicht scherte. Aber die harte Haltung im Atomkonflikt war nur eine Seite der Medaille. Seit den siebziger Jahren geriet der Nationalstaat klassischer Prägung durch die heraufziehende Globalisierung und die Krise der öffentlichen Haushalte zunehmend an die Grenzen seiner Möglichkeiten, vor diesem Hintergrund erschienen ökologische Themen als eine attraktive Quelle neuer Legitimität. Die Umweltpolitik wurde zu einem der wenigen Gebiete der öffentlichen Verwaltung, auf denen im späten 20. Jahrhundert noch ein massiver Ausbau von Budgets und Stellenplänen möglich war.

Wie Hans-Dietrich Genscher die deutsche Umweltpolitik erfand

In der Bundesrepublik hatte Hans-Dietrich Genscher das Potenzial des neuen Themas als erster erkannt. Als Bundesinnenminister legte er im Jahr 1970 ein „Sofortprogramm zum Umweltschutz“ vor, dem eine ambitionierte gesetzgeberische Offensive folgte. Mit dem Sachverständigenrat für Umweltfragen sowie dem Umweltbundesamt schuf Genscher Institutionen, die aus der bundesdeutschen Umweltszene nicht mehr wegzudenken sind. Sogar bei der Gründung des Bundesverbands Bürgerinitiativen Umweltschutz 1972 hatte das Innenministerium seine Finger im Spiel. All dies entsprang nicht nur der besseren Einsicht, sondern hatte auch mit persönlichem und parteipolitischem Profilierungsstreben zu tun: Das Thema bot öffentliche Beachtung in einer Zeit, in der die FDP neben Willy Brandts Ostpolitik aus dem Blick zu geraten drohte. So fand das Thema auch in den linksliberalen Freiburger Thesen seinen Niederschlag, in denen es 1971 vollmundig hieß: „Umweltschutz hat Vorrang vor Gewinnstreben und persönlichem Nutzen.“

Die umweltpolitische Initiative verlor an Schwung, als Genscher ins Außenministerium wechselte und der sentimentalen Anwandlungen unverdächtige Helmut Schmidt Bundeskanzler wurde. Mit dem Boom ökologischer Themen seit 1980 wurde die Umweltpolitik dann jedoch endgültig zur Spielwiese agiler Polit-Unternehmer. Exemplarisch erwähnt sei der nordrhein-westfälische Umweltminister Klaus Matthiesen von der SPD, der den Grünen in den achtziger Jahren mittels energischer Initiativen das Wasser abzugraben suchte. Von der Sache her war das nicht kritikwürdig: Nur so konnte die Umweltbürokratie zu einer ernstzunehmenden Kraft heranwachsen. Im Grunde genommen handelte es sich um ein nahezu perfektes Bündnis: Die Zivilgesellschaft protestiert, und Politiker nutzen den Druck, um ambitionierte Maßnahmen durchzusetzen. Nur mit dieser Synergie ist der dramatische Aufschwung der Umweltpolitik wohl überhaupt erklärbar.

Aber auch hier hat sich inzwischen herausgestellt, dass das Erfolgsrezept der achtziger Jahre auf lange Sicht seinen Preis hatte. Ökologisches Denken und Handeln wurde gewissermaßen unter der Hand verstaatlicht: Wer in Deutschland über Umweltprobleme redet, denkt dabei nahezu reflexhaft an Verordnungen und staatliche Maßnahmenbündel. Bis heute fällt es der Umweltszene schwer, über die Grenzen staatlicher Steuerungsfähigkeit nachzudenken, obwohl diese zum Beispiel beim Klimawandel längst offenkundig sind. Schließlich darf alle Begeisterung für Emissionshandel und Ökosteuern nicht verdecken, dass die globale Erwärmung letztlich dem konsumistischen Lebensstil westlicher Prägung entspringt. Es ist nicht verboten, weit draußen ein großes Haus zu besitzen und jeden Tag mit dem Geländewagen in die Stadt zu fahren – und doch ist es ökologisch gesehen eine ziemliche Sauerei.

Wenn der ökologisch bewegte Bürger über die Grenzen staatlicher Macht nicht reden will, dann wollen das Bürokraten erst recht nicht. Somit ist die Umweltdebatte weiter von einem Übergewicht des Staates geprägt, der stets darauf achtet, wie er die Problematik für die eigenen Interessen nutzen kann. Wie sonst soll man jenen seltsamen Hang zu grandiosen Masterplänen erklären, der seit einigen Jahren die Diskussion über die so genannte Energiewende prägt? Allenthalben verkündeten Politiker ihre Zielvorgaben für den Anteil erneuerbarer Energien 2030 und 2040, obwohl doch eigentlich niemand wissen kann, wie Energiebedarf und Kraftwerkskapazitäten in zwei oder drei Jahrzehnten aussehen werden. Vermutlich werden Historiker auf die modischen Masterpläne mit ähnlicher Irritation zurückschauen wie wir heute auf die Planungseuphorie der sechziger Jahre.

Die Umweltszene hat ein Politikproblem

Wozu ambitionierte Großplanung führen kann, ist am Stuttgarter Hauptbahnhof zu besichtigen. Das Absurde an Stuttgart 21 ist doch, dass nunmehr alle Beteiligten Verlierer sind: die Demonstranten, die Entscheidungsträger in Politik und Unternehmen, die nun das Lieblingsprojekt längst geschasster Vorgänger in die Tat umsetzen müssen, und die Steuerzahler, die die absehbaren Mehrkosten schultern werden. (Man fragt sich, was eigentlich aus der deutschen Anti-Atom-Bewegung geworden wäre, wenn es um 1980 auf dem Höhepunkt des zweiten Ölpreisschocks eine Volksabstimmung gegeben hätte.) Dabei ist Stuttgart 21 noch gar nicht die größte Leiche im Keller der Umweltpolitik: Ob Dosenpfand, FFH-Richtlinie oder Umweltzone – es gibt zahlreiche Beispiele für gut gemeinte Politik, bei der am Ende aller Mühen eine gründlich verkorkste Situation stand. Offenkundig hat die Umweltszene ein Politikproblem: Dem grünen Deutschland fehlt nicht das ökologische Bewusstsein, aber es mangelt sehr wohl an Rezepten, wie man aus guten Intentionen gute Politik macht.

All dies ist umso seltsamer, als sich in der bundesdeutschen Umweltdebatte schon früh ein Gegenentwurf zur großen ökologischen Masterplanung finden lässt. Gemeint ist die Enquete-Kommission „Zukünftige Kernenergie-Politik“, die vom Deutschen Bundestag im Frühjahr 1979 einberufen wurde und unter der Leitung des SPD-Politikers Reinhard Ueberhorst ein gutes Jahr lang tagte. An sich war es eine denkbar ungünstige Zeit für einen neuen Politikstil. In den Jahren zuvor war die Atomkraft zum Gegenstand einer erbitterten Kontroverse geworden, in Brokdorf und Grohnde war der Streit gar in bürgerkriegsartigen Schlachten eskaliert. Kurz bevor die Kommission ihre Arbeit aufnahm, gab es einen gravierenden Störfall im amerikanischen Atomkraftwerk Three Mile Island bei Harrisburg. Trotzdem präsentierte die Enquete-Kommission am Ende einen Vorschlag, wie sich das Gespräch über die Atomkraft neu führen ließe.

Die Kommission vermied es, in stupide politische Glaubensbekenntnisse zu verfallen und verzichtete auf eine Festlegung für oder gegen Atomkraft. Vielmehr rückte sie die Frage in den Mittelpunkt, welche Entwicklungspfade für die kommenden zehn Jahre denkbar gewesen wären. Wie sah die Zukunft bei steigendem oder stagnierendem Energiebedarf aus? Und wie viele nukleare oder atomare Kraftwerke musste man dann tatsächlich bauen? Man experimentierte mit Modellrechnungen und freimütigen Diskussionen, und tastete sich langsam vor, um mehr Gewissheit über mögliche Entwicklungspfade zu bekommen. Schließlich bündelte die Enquete-Kommission ihre Befunde in vier möglichen Wegen in die Zukunft: zwei mit Kernenergie und zwei ohne.

Mit pfadorientiertem Denken würde man beispielsweise die aktuelle Diskussion über die Energiewende ganz anders führen. Statt utopischer Zielvorgaben für 2030 und 2040 stünden die Herausforderungen der nächsten zehn Jahre im Mittelpunkt. Es ginge um sehr viel mehr als um die eindimensionale Frage, wie man möglichst rasch möglichst viel erneuerbares Potenzial schafft. Wie sicher sind wir uns überhaupt über den künftigen Strombedarf? Wie baut man Reserven und Speicher in das neue, dezentralere Netz ein? Und wie ist auf Nebenwirkungen und unerwartete Rückkopplungen zu reagieren? Ein solches Denken in Entwicklungspfaden lässt Raum für flexible Reaktionen auf unerwartete Ereignisse – sehr im Unterschied zu den gängigen Masterplänen, bei denen es im Zweifel nur darauf ankommt, die vorab definierten Etappenziele zu erreichen.

Eine solche Debatte sollte sich nicht nur auf die reine Technik beschränken. Zu den Lehren der atomaren Kontroverse gehört schließlich auch, wie sehr sich der Spielraum der Politik verengt, wenn sie vom Wünschen und Wollen weniger Großkonzerne abhängt. Mit der Zahl der Akteure wächst auch die Breite der Möglichkeiten, jedenfalls dann, wenn tatsächlich ein fairer Wettbewerb möglich ist. Zu den wichtigsten Entwicklungen der jüngsten Zeit gehört, dass Bürger den Aufbau von Windparks neuerdings in Eigenregie übernehmen, anstatt die Aufgabe anonymen Investoren aus der Ferne zu überlassen. So erwächst die Zukunft der Energie quasi von unten: als Resultat vieler Einzelinitiativen, deren Koordination der Markt und eine flexible Politik übernehmen.

Schon hört man den skeptischen Otto-Normal-Öko fragen: Welche Garantie haben wir, dass wir mit einer Energiepolitik von unten zum Ziel kommen? Die Antwort lautet, dass die Frage falsch gestellt ist. Diese lässt schon wieder jenen Wunsch nach politischer Gewissheit erahnen, die zu den großen und zugleich selten artikulierten Sehnsüchten des bundesdeutschen Umweltdiskurses gehört. Patentrezepte hat die Politik im 21. Jahrhundert jedoch nicht mehr zu bieten – und erst recht nicht in Form staatlicher Großsteuerung. Die Geschichte der bundesdeutschen Energiepolitik zeigt nicht zuletzt, wie leicht gut gemeinte Planung in fatalen Pfadabhängigkeiten enden kann. Ein offener, experimenteller Politikstil ist da allemal besser als der vertraute Masterplan, zumal sich Letzterer oft schon bei näherem Hinschauen als Bluff entpuppt. An sich verfügt Deutschland zweifellos über günstige Voraussetzungen für ein neues Zeitalter der Energieproduktion: effiziente Technologien, engagierte Forscher und Firmen, ein hilfsbereiter Staat und eine aufgeschlossene Öffentlichkeit. Nur kann heute eben niemand wissen, wie sich all dies in den nächsten Jahren zusammenfügen wird. An Antworten mangelt es der Umweltbewegung nicht. Es wird aber Zeit, dass sie wieder Fragen hat.

Die Thesen dieses Beitrags entstammen Diskussionen im Rachel Carson Center für Umwelt und Gesellschaft in München, einem seit 2009 existierenden Gemeinschaftsprojekt von Ludwig-Maximilians-Universität und Deutschem Museum.


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