Morning in Tunisia?

Der Sturz des korrupten tunesischen Präsidenten Ben Ali war der Auslöser der arabischen Massenproteste. Aber welchen Weg schlägt Tunesien jetzt selbst ein

Seit dem Aufstand der tunesischen Bevölkerung gegen die Machtelite des Landes hoffen viele auf eine demokratische Wende und mögliche Schneeballeffekte für die gesamte Region. Die spektakuläre Vertreibung des autoritären Präsidenten Ben Ali samt seiner korrupten Familie lenkt den Blick der Öffentlichkeit auf ein Land, das in den vergangenen Jahren vor allem als beliebtes Touristenziel am Mittelmeer Beachtung fand. In Folge der Proteste in Tunesien wanken auch die autoritären Regime in Ägypten, im Jemen, in Jordanien und weiteren Staaten. Doch wird das Aufbegehren der Bevölkerung gegen jahrelange politische Unterdrückung, Korruption und die Chancenlosigkeit der Jugend wirklich zu einer neuen Welle der Demokratisierung führen? Aufschlussreich ist ein tieferer Blick auf die Jasminrevolution in Tunesien sowie auf die Rolle Europas.

Seit ihrer Unabhängigkeit vom französischen Protektorat Mitte der fünfziger beziehungsweise Anfang der sechziger Jahre waren die autoritären Regime der Maghrebstaaten Algerien, Tunesien und Marokko erstaunlich stabil. In allen drei Ländern bestand zwischen Staat und Bürgern ein ähnlicher „sozialer Kontrakt“: Im Tausch für soziale Wohlfahrt duldete die Bevölkerung die Machtkonzentration beim Staat und verzichtete auf politische Partizipation.

Klientelismus, Zensur und Verfolgung

Auch der tunesische Staat war bis vor einigen Wochen geprägt von Klientelismus und massiver Zensur der Presse. Die Stellen in staatlichen Behörden wurden überwiegend mit Anhängern der Regierungspartei Rassemblement Constitutionel Démocratique (RCD) besetzt. Die Justiz war weder unabhängig von der Exekutive noch neutral. Relevante Oppositionsparteien waren verboten, ihre Anhänger wurden polizeilich verfolgt. Die Unterstützung der Bevölkerung erarbeitete sich das Regime mithilfe einer vergleichsweise positiven wirtschaftlichen Entwicklung, Transferleistungen zugunsten Unterprivilegierter und mit guter Bildung für alle Schichten. Der Anteil der Bildungsausgaben am Bruttosozialprodukt betrug im Jahr 2007 über sieben Prozent. Auch genießen Frauen in Tunesien deutlich mehr politische und zivile Freiheiten als in anderen Staaten der Region. Und mehr als 50 Prozent der Studierenden an tunesischen Universitäten sind weiblich.

Doch wachsende Arbeitslosenzahlen, steigende Preise für Grundnahrungsmittel und Wohnungen und die daraus resultierende Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher führte zum Aufstand gegen das Regime und zur Aufkündigung des tunesischen Sozialvertrags. Kurz vor dem Aufstand hatte WikiLeaks über die Bereicherung der Familie des Präsidenten am Staat und den Transfer ihrer Beute auf Auslandskonten berichtet. Das heizte die Proteste zusätzlich an. Die Versuche Ben Alis blieben erfolglos, sein Volk in letzter Minute zu beruhigen, indem er ein Ende der Medienzensur und sogar das Ende seiner eigenen Präsidentschaft ankündigte.

Aufbruch in die Demokratie?

Wie groß sind die Chancen auf einen demokratischen Neubeginn in Tunesien? Nun, viele politische Weggefährten Ben Alis sind noch in Amt und Würden, und einige von ihnen haben vorerst die Macht übernommen. Der bisherige Premierminister Mohammed Ghannouchi versprach Neuwahlen, ferner die Freilassung politischer Gefangener und die Einbindung oppositioneller Parteien in die Übergangsregierung. Doch die oppositionellen Kräfte in Tunesien sind aufgrund jahrelanger Repressalien zersplittert und schlecht organisiert; viele ihrer Führer waren lange in Gefangenschaft oder im Exil. Die Programme der Oppositionsparteien sind in der Bevölkerung kaum bekannt. Es ist unwahrscheinlich, dass sich die bisher unterdrückten oppositionellen Kräfte in einem kurzen Zeitfenster von 60 Tagen bis zu den Neuwahlen, wie es die tunesische Verfassung vorgibt, organisieren können, um einen fairen Wahlkampf zu bestreiten. Außerdem sind sämtliche wirtschaftliche und politische Institutionen von der bisherigen Regierungspartei durchsetzt. Verfestigte klientelistische Strukturen, jahrelange Zensur und politische Unterdrückung hinterlassen ihre Folgen und werden nach einer Neuwahl nicht überwunden sein.

Dennoch könnte ein Prozess der politischen Liberalisierung erfolgen. Denn erst wenn zentrale demokratische Voraussetzungen gewährleistet sind, nämlich die Anerkennung und der Schutz ziviler und politischer Freiheiten (freie Meinungsäußerung, Versammlungs- und Organisationsfreiheit), besteht wirkliche Hoffnung auf eine tiefgreifende Demokratisierung des Landes. Ohne die Freiheiten des Einzelnen vom Staat kann ein demokratisches System, das auf politischer Partizipation der Bürger beruht, nicht funktionieren.

Die Hoffnung auf Demokratisierung hatte es in Tunesien und seinen Nachbarstaaten schon einmal gegeben. Notwendige Maßnahmen der ökonomischen Liberalisierung und der kontrollierten politischen Öffnung aufgrund des Preisverfalls für Rohöl und Phosphate seit den siebziger Jahren konnten den Autoritarismus in der Region aber nicht destabilisieren: Damals ließ sich der „soziale Kontrakt“ zwischen Staat und Bürgern aufgrund einer finanziellen Krise nicht mehr einlösen. Die Antwort der Regime bestand in Privatisierungen und einer vorsichtigen politischen Liberalisierung, die als Abfederung sozialer Auswirkungen der Wirtschaftsreformen gedacht war – die Politik der „Infitah“ (arabisch für Öffnung) der achtziger Jahre. Sowohl in Tunesien, als auch in Marokko und Algerien konnten sich in dieser Zeit gesellschaftliche Gruppen organisieren. Zwar gab es damals in allen drei Staaten Revolten, während in anderen Teilen der Welt die „dritte Welle der Demokratisierung“ rollte. Dennoch fand im Maghreb kein Demokratisierungsprozess statt. Die Regime schafften es, ihre autoritären Herrschaften aufrecht zu erhalten. Die von den Regimen selbst initiierten kontrollierten politischen Reformen sicherten das eigene Überleben. Die entstandenen Freiräume besetzten daraufhin in Tunesien – noch stärker in Algerien – islamistische Gruppen. Als Antwort darauf etablierten die regierenden Eliten wiederum repressive Sicherheitsapparate. In Tunesien entstand der Polizeistaat.

Europa nimmt seine eigenen Werte nicht ernst

In diese Zeit fiel der letzte Machtwechsel in Tunesien. Nachdem der damalige Premierminister Ben Ali im Jahr 1987 den ersten Staatspräsidenten Habib Bourguiba gestürzt hatte, versprach er eine Demokratisierung des Systems. Neben der Regierungspartei RCD ließ er drei weitere Parteien zu, gewährte jedoch keine Presse- und Informationsfreiheit. Und schon kurz nach Amtsantritt kehrte Ben Ali zum autoritären Regierungsstil seines Vorgängers zurück. Somit gelang ihm damals die kontrollierte politische Öffnung zur eigenen Stabilisierung. Sie wurde nur zugelassen, soweit das eigene Privilegiensystem nicht zusammenbrechen konnte.

Ob diese politische Überlebensstrategie der verbliebenen Machtelite nun erneut gelingt, wird auch vom Durchhaltevermögen der oppositionellen Kräfte und der Unterstützung von außen abhängen. Europa spielt dabei nur eine schwache Rolle. Bereits seit 1995 verfolgt die Europäische Union mit dem Barcelona-Prozess eine Mittelmeerpolitik, die sich die Demokratisierung der Region zum Ziel gesetzt hat – zumindest offiziell. In Wirklichkeit lautet das überragende Interesse Europas Sicherheit und Stabilität. Der Maghreb ist die Brücke zwischen Afrika und Europa, letzte Station der „Hidschra“, der Überfahrt perspektivloser junger Menschen ins reiche Europa – und ein vermeintliches Bollwerk gegen den Islamismus. Weil sich der ehemalige tunesische Präsident Ben Ali und die autoritären Führer in den Nachbarstaaten als die Garanten Europas gegen den islamischen Extremismus sowie gegen ungewünschte Einwanderung und den Drogenhandel bewährt haben, hielt sich Europa vornehm zurück, wenn es um Fragen der Demokratie ging. Hinzu kommen die engen wirtschaftlichen Beziehungen und der florierende Tourismus. Auch Frankreich, das als ehemalige Kolonialmacht, die engsten Beziehungen zu den Maghrebstaaten pflegt, hat das bisherige Regime immer unterstützt und die Jasminrevolution der vergangenen Wochen auffällig leise kommentiert. Gerade auch im Fall Ägypten spielt das Stabilitätsinteresse der EU mit Blick auf den Nahostkonflikt eine entscheidende Rolle. Nun hat die Europäische Union ihre Unterstützung bei der Durchführung freier Wahlen in Tunesien angeboten, in Bezug auf Ägypten verhält sie sich zurückhaltender. Ob damit ein wirkliches Umdenken einhergeht, was die Prioritäten der EU betrifft, ist fraglich.

Während Europa noch zögert, haben die autoritären Regime in der Region bereits auf mögliche revolutionäre Nachahmer reagiert. Die Strategie zur Beruhigung der Bevölkerung ist altbekannt: Die Regierungen versuchen, den Protestierenden den Wind aus den Segeln zu nehmen durch zusätzliche Ausgaben für die Armutsbekämpfung, durch neue Arbeitsplätze und Preissenkungen für Grundnahrungsmittel. Auch Scheinlösungen wie Kabinettsumbildungen und das Versprechen auf politische Reformen gehören zum Repertoire der arabischen Despoten. Gewiss darf man die arabischen Länder aufgrund ihrer sehr unterschiedlichen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen nicht in einen Topf werfen. Dennoch sind die Erfolgsaussichten der Proteste überall auch davon abhängig, wie gut die jeweiligen Regime ihre Wohltäterrollen weiter spielen und wie schnell sich die Opposition organisieren kann. Demokratie wird in der arabischen Welt nur dann möglich werden, wenn die oppositionellen Kräfte beharrlich und einig auftreten – und von demokratischen Verbündeten unterstützt werden. «

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