Moralische Weltmacht Amerika

Welche Debatten führen amerikanische Wissenschaftler heute über die Rolle ihres Landes in der Welt? Der Streit wird nicht weniger heftig betrieben als in Europa - doch zuweilen auf höherem intellektuellen und ethischen Niveau. Ein Literaturbericht

In Europa erst in jüngster Zeit wahrgenommen, hat sich in den Vereinigten Staaten eine lebhafte akademische Diskussion über die richtige außenpolitische Strategie der USA im Kampf gegen den internationalen Terrorismus entsponnen. In der Auseinandersetzung um den außenpolitischen Kurs der Regierung Bush, die führende amerikanische Intellektuelle und Wissenschaftler in renommierten Zeitschriften wie Foreign Affairs, World Policy Journal oder Policy Review führen, wird kein Blatt vor den Mund genommen; die Debatte bewegt sich zumeist auf höherem intellektuellen und ethischen Niveau als die europäische Diskussion. Dass die Vereinigten Staaten eine - die einzige - "imperiale Macht" der Welt sind und bleiben wollen, kann dabei als Konsens gelten. Vom linken bis zum rechten Ufer des politischen Mainstream ist man stolz darauf, in der Tradition Athens, Roms und des britischen Weltreichs des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu stehen. Unabhängig von der politischen Couleur ist man überzeugt, dass Amerika seine Weltmachtrolle nicht nur aus wohlbegründeten nationalen Interessen, sondern auch zum Wohle der Menschheit ausfüllen müsse. Kontrovers wird es erst, wenn es um die Definition und die künftige Ausgestaltung dieser imperialen Rolle Amerikas geht.


Martin Walker, Senior Fellow am World Policy Institute, zum Beispiel geht so weit, Amerika die Qualität eines "Virtual Empire" zuzusprechen. Anders als seine Vorgänger hätten erst die Vereinigten Staaten die wirkliche militärische Vorherrschaft über die gesamte Welt erreicht, müssten sie aber im Gegensatz zu diesen in der Regel kaum mehr einsetzen - und wollten es auch gar nicht. Die Vereinigten Staaten seien höflich zum Rest der Welt, hielten sich zumeist an die internationalen Spielregeln und verhülfen selbst ehemaligen Feinden - wie Deutschland und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg - wieder zu Wohlstand und Ansehen. Amerika sei bereit, auf die Argumente anderer Staaten einzugehen, wenn es diese überzeugend finde. Kurz, die USA sind für Walker ein wohlwollender Diktator, dessen Vorherrschaft von der Welt größtenteils bereitwillig akzeptiert werde.

Amerika ist vom Mars, Europa von der Venus

Auch Robert Kagan, Senior Associate an der Carnegie Endowment for International Peace, bemüht das Bild vom wohlwollenden Hegemon, vom "Behemoth mit Gewissen", sieht aber in der Folge des sich vertiefenden Machtungleichgewichts eine ideologische Kluft zwischen den Vereinigten Staaten und ihren europäischen Verbündeten wachsen. In den zentralen strategischen Fragen verstünden sich die transatlantischen Partner immer weniger: Amerikaner seien vom Mars, Europäer von der Venus. Die Amerikaner sähen sich einer anarchischen Hobbes′schen Welt gegenüber, in der letzte Sicherheit nur über den Besitz und den Gebrauch einer starken Militärmacht gewonnen werden könne, während die Europäer in dem "post-historischen Paradies" einer Kantischen Welt des Ewigen Friedens lebten. In der Lösung des Bosnien- und des Balkan-Konflikts hätten sich diese unterschiedlichen Denkweisen bereits im arbeitsteiligen Handeln niedergeschlagen: die Amerikaner "making the dinner", die Europäer "doing the dishes"; die Amerikaner als "internationaler Sheriff", die Europäer als "Saloonkeeper". Die unterschiedlichen Bedrohungswahrnehmungen in bezug auf den Irak sind für Kagan direkte Konsequenz dieser Arbeitsteilung: Gesetzlose erschössen eben den Sheriff und nicht den Barkeeper, bei dem sie sich einen Drink bestellten.


Anders als viele andere Debattenteilnehmer folgert Kagan aus den unterschiedlichen Lagen und Lageeinschätzungen der transatlantischen Partner jedoch nicht, dass die USA nun wieder stärker auf die Euro-päer zugehen und sich "multilateralisieren" müssten. Im Gegenteil: In der jüngst entdeckten "zivilisatorischen Mission" der Europäer, die mit deren früherer Machtpolitik bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts merkwürdig kontrastiere, entdeckt er beträchtliche Scheinheiligkeit. Dass ausgerechnet die Europäer, die Amerika in zwei Weltkriege hineingezogen hätten, nun in Amerika und Präsident Bush die größte Gefahr für den Weltfrieden erblickten (und nicht etwa in Saddam Hussein), befremdet Kagan erheblich. Die Europäer, die ihre wirtschaftliche und politische Integration im wesentlichen dem Schutzschild der Amerikaner während des Kalten Krieges zu verdanken hätten, und allen voran die Deutschen, deren Wiedervereinigung nur unter dem Schutz der Amerikaner zu haben gewesen sei, hätten hier wohl etwas übersehen.


In der Tat: Die Amerikaner haben, wie Kagan luzide ausführt, für die Europäer das Kantische Paradox gelöst. Kant wollte bekanntlich den Ewigen Frieden, aber zugleich fürchtete er die dafür notwendige Weltregierung, weil sie in den fürchterlichsten Despotismus ausarten könnte. Europas supranationale Regierung konnte diesem Paradox bisher entgehen, so Ka-gan, weil Amerika den Europäern die militärische Sicherheit bot, die sie selbst nicht gewährleisten konnten oder wollten. Kagan ist der Meinung, dass die USA die globale Sicherheit der Welt auch weiterhin garantieren sollen und dass sie das im wesentlichen auch ohne die Hilfe der Europäer können. Trotz ihres im Weltmaßstab gigantischen Militärhaushalts geben sie derzeit nur knapp über drei Prozent ihres Sozialprodukts für die Verteidigung aus. Kagan befürchtet nicht, dass die Vereinigten Staaten über kurz oder lang einem "imperial overstretch" erliegen werden. Sein Rat lautet deshalb, dass die USA ihren eingeschlagenen Weg fortsetzen sollten, dass sie internationalen Konventionen entgegentreten sollten, wo diese ihre Handlungsfähigkeit lähmten, dass sie zwar Rüstungskontrollmaßnahmen unterstützen sollten, aber nicht immer für sich selbst. Amerika müsse manchmal unilateral handeln, und es müsse mit dem Vorwurf leben, einem moralischen Doppelstandard zu huldigen. Für Kagan steht außer Zweifel, dass die Wahrnehmung der Rolle des Weltpolizisten durch die Vereinigten Staaten der Welt zum zivilisatorischen Vorteil gereichen werde - und dass sie womöglich der einzige Weg zu einer humaneren Welt sei.

Der Traum von der totalen Sicherheit

James Chace, Professor für Government and Public Law am Bard College, argumentiert behutsamer. Für ihn war der Aufstieg des "imperialen Amerika", das inzwischen 40 Prozent der weltweiten Militärausgaben aufbringt und mehr für seine Verteidigung ausgibt als die nächsten 15 Nationen zusammen, nicht zuvörderst ökonomisch motiviert, sondern entsprang der Suche nach absoluter Sicherheit und Unverwundbarkeit. Dieses Streben habe sich im amerikanischen Denken auf eigentümliche Weise mit dem "American exceptionalism" verbunden, dem Glauben, dass Amerika eine "city upon a hill" (John Winthrop) und die Amerikaner ein auserwähltes Volk seien, auf das die Welt schaue. Amerikanische Außenpolitik habe daher immer einen missionarischen Anstrich gehabt, ob man sich eher selbstgenügsam auf seine moralische Vorbildfunktion zurückzog oder aktiv einen Kreuzzug für eine demokratischere Welt führte. Der amerikanische Messianismus wurde dabei lange vor allem mit Präsidenten der Demokratischen Partei verbunden, mit Woodrow Wilson ("make the world safe for democracy"), Franklin D. Roosevelt ("One World") oder Harry S. Truman, der Amerika für den Kalten Krieg und den Kampf um ein freies Europa rüstete.


Chase meint jedoch, dass es einen amerikanischen Isolationismus - mit der vielleicht einzigen, katastrophale Folgen zeitigenden Ausnahme nach dem Ersten Weltkrieg - im Grunde nie wirklich gegeben habe, auch nicht unter Republikanischen Präsidenten. Seitdem Ronald Reagan das "Reich des Bösen" in die Knie gezwungen hat, der ältere Bush für eine "neue Weltordnung" in den ersten Golfkrieg zog und der jüngere Bush an einer internationalen Koalition gegen den Terrorismus und die neue "Achse des Bösen" schmiedet, dürften sich manche europäische Befürchtungen, Amerika könnte sich noch einmal aus der internationalen Verantwortung zurückziehen, ein für allemal erledigt haben. Nicht überlebt aber haben sich Chase zufolge europäische Befürchtungen in Bezug auf die amerikanische Neigung, "to go it alone". Der Unilateralismus sei der amerikanischen Sicherheitsdoktrin inhärent: Absolute Sicherheit, so Chase, könne nicht ausgehandelt, sondern nur gewonnen werden. Amerikanische Alleingänge, wie sie sich im Rückzug aus dem Internationalen Strafgerichtshof, der Ablehnung des Kyoto-Protokolls und der Kündi-gung beziehungsweise Nichtunterzeichnung diverser Rüstungskontrollvereinbarungen gezeigt haben, würden folglich immer wieder vorkommen. Gefahren für die langfristige Überlebensfähigkeit des amerikanischen Imperiums sieht Chase eher in solchen Brüskierungen der Staatengemeinschaft als in den Gefahren, die der internationale Terrorismus oder die Schurkenstaaten heraufbeschwören könnten.

Verteidigung oder Angriffskrieg?

Radikaler noch ist die Analyse von David C. Hendrickson, Professor für Politische Wissenschaft am Colorado College. Er sieht die USA in ihrem "gefährlichen Streben nach absoluter Sicherheit" auf dem Weg zum "Universal Empire". Zwei Veränderungen der amerikanischen Außenpolitik macht er als Reaktion auf "9/11" aus: die prononcierte Betonung unilateraler Methoden und die strategische Doktrin des Präventivkrieges. Auf die Spitze getrieben, so seine These, führe dieser Richtungswechsel der amerikanischen Außenpolitik in den Ruin. Die neue Bush-Doktrin steht für Hendrickson in diametralem Widerspruch zu fundamentalen Werten amerikanischer politischer Tradition - und auch in unversöhnlichem Gegensatz zu einem halben Jahrhundert amerikanischer Außenpolitik, das von dem Aufbau einer westlichen Sicherheitspartnerschaft in der Nato und der Verrechtlichung internationaler Beziehungen über die UN und andere internationale Organisatio-nen geprägt gewesen sei.

Es ist für Hendrickson kein Zufall, dass die Regierung Bush der UN, aber mittlerweile auch der Nato distanzierter gegenüberstehe als jede ihrer Vorgängerinnen. Der beabsichtigte "preemptive strike" gegen den Irak, in Wahrheit nur ein Euphemismus für den Präventivkrieg, sei mit den Normen des internationalen Rechts, unter denen das Verbot des Angriffskriegs die wichtigste ist, nicht vereinbar. Hendrickson macht sehr deutlich, dass er den geplanten Krieg gegen den Irak für völkerrechtlich illegitim hält. Anders als der Krieg gegen Al Kaida und die Taliban in Afghanistan liege hier kein völkerrechtlich legitimierter Verteidigungs-, sondern ein An-griffskrieg vor. Auch das Argument, der Präventivschlag sei wegen des drohenden Einsatzes von Massenvernichtungswaffen unabdingbar, überzeugt Hendrickson nicht. Eindämmung und Abschreckung wären die wirksameren Methoden gegenüber einem Mann wie Saddam, der sein persönliches Überleben und das seines Regimes über alles stelle. Die Wahrscheinlichkeit, dass Saddam Massenvernichtungswaffen einsetzt, ist nach Auffassung Hendricksons am größten, wenn der irakische Diktator sich einem Angriff der USA ausgesetzt sieht.

Die Illusion der Omnipotenz

Hendrickson warnt in seinem Beitrag, hier ist er anderer Auffassung als zum Beispiel Kagan, eindringlich vor der "Illusion amerikanischer Omnipotenz". So erdrückend die Macht der USA auch ist, sie reiche bei langem nicht aus, um die heißen Konflikte im Nahen und Mittleren Osten zu befrieden. Kori Schake und Klaus Becher, von der National Defense University in Washington beziehungsweise vom Institute for Strategic Studies in London, erinnern in diesem Zusammenhang an einen Ausspruch von General Hugh Shelton: "The American military is a terrific hammer, but not every problem is a nail". Augenfällig sei, dass die Vereinigten Staaten nicht in der Lage seien, Israelis und Palästinenser zu einer Beendigung ihres Krieges zu bewegen. Auch seien die amerikanischen Militärkapazitäten zwar für einen schnellen, erfolgreichen Feldzug (vornehmlich aus der Luft) bestens geeignet, wenn es aber um die "Aufräumarbeiten" nach einem Militärschlag gehe, seien die Amerikaner weitgehend hilflos - oder aber desinteressiert.

Bosnien, Kosovo und auch Afghanistan, wo mittlerweile mehr europäische als amerikanische "peacekeeping forces" stationiert sind, hätten dies belegt. Der Aufbau stabiler Nachkriegsordnungen, so argumentieren zum Beispiel Ronald D. Asmus vom Council on Foreign Relations und Kenneth M. Pollack vom Saban Center for Middle East Policy, müsse aber allererste Priorität genießen. Die Lehre aus dem nicht zu Ende geführten ersten Golfkrieg und auch aus dem Rückzug aus Afghanistan im Jahre 1989 sei es gerade gewesen, dass diese Länder nicht sich selbst überlassen werden dürften. "9/11" sei auch eine indirekte Folge dieses früheren amerikanischen Disengagements gewesen. Die Amerikaner könnten sich deshalb in Zukunft nicht alleine auf ihre militärische Durchschlagskraft verlassen, sondern seien auf die Hilfe Europas, aber auch der Freunde und Verbündeten in der Region angewiesen. Die Vereinigten Staaten müssten die prowestlichen Kräfte nicht nur in Afghanistan oder im Irak ausfindig machen, sie müssten auch die reformbereiten Kräfte innerhalb Saudi-Arabiens, Ägyptens oder Palästinas unterstützen.


Asmus und Pollack fordern für den "Größeren Mittleren Osten" - und das klingt europäischen Ohren dann doch sehr vertraut - "ein neues transatlantisches Projekt", vergleichbar dem Aufbau eines sicheren und demokratischen Europa nach 1949. Dieses auf Jahrzehnte angelegte strategische Projekt müsse an "einer neuen Form der Demokratie" in dieser Region arbeiten. Die USA und Europa müssten den Staaten des Mittleren Ostens helfen, "ein neues ökonomisches System" und "neue Zivilgesellschaften" aufzubauen, damit sie sich dem Projekt der Modernisierung ihrer Gesellschaften annehmen können, ohne dabei das Gefühl haben zu müssen, ihre kulturelle Einzigartigkeit aufs Spiel zu setzen. Der Westen solle deshalb gar nicht erst versuchen, der Region seine eigenen Wertvorstellungen zu diktieren - das würde das Problem des Terrorismus, das es an der Wurzel zu packen gelte, nur noch weiter verschärfen. Viel eher schon sei dem Westen und vor allem den Amerikanern zu raten, meint Audrey Kurth Cronin von der Georgetown University, die eigene Mentalität den Problemen vor Ort anzupassen. Die Amerikaner mit ihrer "problemlösenden, materialistischen Kultur", die auf "einer Krisenmentalität, einem hohen Sorgenniveau und einem unrealistischen Glauben in die Fähigkeit zur Ausschaltung aller Risiken" fuße, müssten lernen, dass "Geduld, eine phlegmatische Haltung, eine lange Erwartungsspanne, Konsistenz und eine realistischere Risikoeinschätzung" die besseren Eigenschaften seien, um den Gefahren des Terrorismus zu begegnen. Langfristig komme man nicht um eine psychologische Anpassung im "mindset" des "durchschnittlichen Amerikaners" herum.

Mit eigenen Mullahs gegen das Imageproblem

So weit würde die vom Council on Foreign Relations gesponserte Independent Task Force on Public Diplomacy, die jüngst ein neues Paradigma für die auswärtige Kulturpolitik der USA gefordert hat, wohl kaum gehen. Immerhin aber propagiert sie nicht weniger als eine "Revolutionierung" der "U.S. Public Diplomacy", um dem "ernsten Image-Problem" der Amerikaner in der Welt - vor allem der islamischen - abzuhelfen. Zwar könne man als Großmacht die anderen nicht immer glücklich machen, aber man könne seine Politik und die Werte, die man mit ihr verteidige, weit effektiver kommunizieren, als dies bisher geschehe. In ihrem 20-seitigen Bericht macht die unabhängige Kommission, in der drei Dutzend Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft, Medien, NGOs und mit früheren Erfahrungen aus dem öffentlichen Dienst vertreten sind, unter anderem die folgenden, sehr konkreten Vorschläge: Die auswärtige Kulturpolitik solle organisatorisch wie strategisch ins Zentrum der amerikanischen Außenpolitik rücken, dazu seien eine präsidentielle Direktive und diverse Organisationsreformen im Weißen Haus sowie im Außenministerium nötig.

Ferner solle die traditionelle "push-down"-Kommunikationsstrategie durch eine flexiblere, dialogische "two-way"-Strategie ersetzt werden. Dabei empfehle es sich, auch "voices of moderation" insbesondere unter den jüngeren Bevölkerungsgruppen im Ausland zu unterstützen - auch wenn diese manchmal kritisch über die Vereinigten Staaten denken sollten. Viel verspricht sich die Arbeitsgruppe vom Einsatz "glaubwürdiger und unabhängiger Botschafter" aus dem zivilgesellschaftlichen Sektor - zum Beispiel amerikanische Mullahs, Talkshow-Prominente, New Yorker Feuerwehrleute und Polizeibeamte arabischer Herkunft, arabische oder muslimische Studenten, berühmte Sportler muslimischen Glaubens wie Muhammad Ali, Geschäftsleute, Wissenschaftler et cetera -, weil diese bestimmte Aspekte des Islam mit größerer Glaubwürdigkeit kritisieren könnten als regierungsoffizielle Sprecher aus Washington.


Wie kritisch und konstruktiv die amerikanische Öffentlichkeit den außenpolitischen Kurs der Bush-Administration begleitet, kann man in drei weiteren Artikeln desselben Heftes von Foreign Affairs nachlesen - dem immerhin wichtigsten außenpolitischen Periodikum in den Vereinigten Staaten, das traditionell sehr enge Arbeitsbeziehungen zum Außenministerium unterhält. Am wenigsten differenziert ist noch der Aufsatz von Michael Mandelbaum, Professor für amerikanische Außenpolitik an der Johns Hopkins School of Advanced International Studies, über "die Unzulänglichkeit der amerikanischen Macht". Zwar hätten die Vereinigten Staaten, so der Autor, aufgrund ihres militärischen und ökonomischen Vorsprungs vor dem Rest der Welt schon den Status einer "Hyper-Macht" erlangt, der an das Übergewicht des Römischen Empires zur Zeit der Antike erinnere.

Doch so gigantisch die amerikanische Macht auch sei - für ihre zentrale Aufgabe, die Sicherung und Ausweitung von Frieden, Demokratie und freien Märkten, sei sie nicht hinreichend. Mandelbaums Argument für die "Nutzlosigkeit" amerikanischer Macht ist in seiner Pauschalität fragwürdig: Um Frieden, Demokratie und freie Märkte in Regionen zu bringen, in denen Staatsversagen die Regel sei, bedürfe es zunächst - das ist unumstritten - effektiver Staatsbildung. Zu dieser unabdingbaren Staatsbildung - und hier wird das Argument schwach - könne amerikanische Außenpolitik jedoch keinen direkten Beitrag leisten, weil ihre Werkzeuge ("Kanonen, Dollars und Versprechungen") nicht effektiv seien. Für einen erfolgreichen Staatsaufbau bedürfe es der "Aneignung angemessener kultureller Untermauerungen"; dies sei ein langfristiger Prozess, den die Gesellschaften nur aus sich heraus leisten könnten. Dass die Vereinigten Staaten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges den demokratischen Staatsaufbau in Deutschland und Japan entscheidend befördert oder zumindest abgestützt haben, ist für Mandelbaum kein Gegenargument von Gewicht.

Die Balance of Power? Das ist Geschichte

Die definitive Zusammenfassung der neuen Ausrichtung amerikanischer Außenpolitik unter Präsident George W. Bush leistet G. John Ikenberry, Professor für Geopolitik und globale Gerechtigkeit an der Georgetown University, in seinem Aufsatz über "America′s Imperial Ambition". Die neue neoimperiale "grand strategy" der Bush-Administration sieht er durch sieben Elemente charakterisiert: Im Zentrum dieser Strategie stehe die unangefochtene Hegemonialstellung der amerikanischen Supermacht auf militärischem Gebiet. Die USA würden zukünftig keinen Aufstieg von Mächten in Europa oder Asien dulden, die es militärisch mit ihnen aufnehmen könnten. Wettbewerb solle es in dieser unipolaren Welt nur noch auf ökonomischem Gebiet geben. Das zweite Strategieelement bestehe in einer dramatischen neuen globalen Bedrohungsanalyse: Kleine terroristische Gruppierungen könnten, vielleicht unterstützt von Schurkenstaaten, in den Besitz von Massenvernichtungswaffen gelangen und die Welt an den Rand einer Katastrophe bringen. Weil die Terroristen weder mit Methoden des Appeasement noch mit militärischer Abschreckung zur Räson gebracht werden könnten, müssten sie eliminiert werden. Das führe zum dritten Element der Strategie: dem Übergang vom anachronistischen Abschreckungskonzept auf die neue Doktrin des "preemptive strike" oder des Präventivkrieges. Weiter impliziere dies, viertens, eine Neudefinition des Souveränitätsbegriffes:

Während sich die USA selbst quasi absolute Souveränität vorbehielten, werde diese für andere Staaten eingeschränkt. Selbst wenn sie nach alten Begriffen nicht gegen das Völkerrecht verstießen, könnten sie von Amerika für den Fall zur Rechenschaft gezogen werden, dass sie sich im Kampf gegen den Terrorismus als unfähig erwiesen. Fünftes Element der neuen Strategie sei somit eine generelle Herabwürdigung internationaler Regeln, Verträge und Sicherheitspartnerschaften bei gleichzeitiger Aufwertung des amerikanischen Isolationismus. Die Vereinigten Staaten würden, sechstens, in Zukunft militärisch alleine vorangehen, um ihre Sicherheit bis in den letzten Zipfel der Welt hinein uneingeschränkt zu gewährleisten. Von den europäischen Partnern und Japan, die militärisch ohnehin nicht mithalten könnten, wolle man sich dabei nicht länger bremsen lassen. Siebtens schließlich wolle man in Zukunft auch der internationalen Stabilität nicht mehr allzu hohen Wert beimessen. Das Denken in alten Kategorien der "balance of power" habe sich überlebt; die neue unipolare Weltordnung könne auch destabilisierende Effekte in einer Region infolge eines Regimeumsturzes auffangen.


Ikenberry sieht in der neoimperialen Strategie der Bush-Administration beträchtliche Gefahren für die Vereinigten Staaten angelegt. Wachsende Feindseligkeit in der internationalen Staatenwelt gegenüber den USA erscheint ihm die unausweichliche Folge ungezügelter amerikanischer Machtausübung. Für den Fall eines Präventivschlags gegen den Irak oder einen anderen Schurkenstaat sei es keinesfalls sicher, dass dies nicht zu einem Gegenschlag gegen den amerikanischen Interventionismus führe. Außerdem stelle ein amerikanischer Präventivschlag einen gefährlichen Präzedenzfall für das internationale Recht dar: Was wollen die Vereinigten Staaten tun, fragt Ikenberry, wenn sich Pakistan und Indien oder sogar China und Russland auf die Doktrin des "preemptive strike" berufen?

Ferner gibt Ikenberry zu bedenken, dass auf eine Militärintervention zwangsläufig friedenserhaltende und staatsbildende Maßnahmen folgen müssten, für welche die Mithilfe der Vereinten Nationen, der Weltbank und anderer Mächte unentbehrlich sei. Dieser "lange Schwanz" von Lasten und Verpflichtungen im Gefolge jeder Intervention konfrontiere die Vereinigten Staaten zwangsläufig mit dem Problem des "imperial overstretch" - ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Amerika im Kampf gegen den Terrorismus auf freundschaftliche Arbeitsbeziehungen mit den bedeutenderen Staaten rund um die Welt angewiesen bleibe. Diese hätten trotz ihrer militärischen Ohnmacht auch genügend Trümpfe ökonomischer und politischer Macht in den Händen, um den USA zu schaden. Wolle Amerika das historische Schicksal aller imperialen Mächte vermeiden, die letztlich unter dem Gegenschlag ihrer Feinde zertrümmert wurden, so führe kein Weg an der Rückkehr zu den alten Strategien amerikanischer Außenpolitik vorbei: Nur ein "Balance-of-Power-Realismus" und ein "liberaler Multilateralismus", der den anderen Staaten ihre Ängste nehme und sie in die von den Amerikanern geführte internationale Ordnung kooptiere, könnten den Frieden und die amerikanische Hegemonie langfristig bewahren.

Begeisternde Visionen? Nicht mit Bush

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Michael Hirsh, früherer Außenpolitikchef von Newsweek, in seinem Aufsatz über "Bush und die Welt", in welchem er für einen "neuen Wilsonianismus" plädiert. Die neue Bush-Doktrin leidet seiner Auffassung nach an ihrer inneren Widersprüchlichkeit: Mit ihrem "Either you are with us, or you are with the terrorists"-Standpunkt könne sie die "Coalition of the willing" unmöglich zustande bringen. Frühere erfolgreiche Außenpolitiker unter den amerikanischen Präsidenten - von Woodrow Wilson über Franklin D. Roosevelt, Harry Truman und John F. Kennedy bis hin zu Ronald Reagan - hätten begeisternde Visionen geboten, mit denen sie die Welt ihrer Sache verpflichtet hätten. George W. Bushs Appelle an die internationale Koalition gegen den Terrorismus klängen dagegen hohl, weil bisher keine wirkliche Verpflichtung der Amerikaner erkennbar sei außer der, die amerikanische Sicherheit weltweit bedingungslos zu gewährleisten. Als Kriegsführer spiele Bush seine Rolle bisher gut, als "global leader" dagegen bleibe er hinter seinen Möglichkeiten zurück. Obwohl die amerikanische Sicherheit nun untrennbar mit der globalen Sicherheit und der Stärkung der internationalen Gemeinschaft verknüpft sei, ziehe sich die Regierung konsequent aus ihrer internationalen Verantwortung zurück.


Hirsh sieht Bush gefangen in "titanischen Kämpfen" zwischen drei Einflussgruppen innerhalb seiner Administration: den "moderaten Multilateralisten" um Außenminister Colin Powell und dessen Stellvertreter Richard Armitage, den "realistischen Unilateralisten" um Vizepräsident Dick Cheney, Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und die nationale Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice sowie den neokonservativen Ideologen um den stellvertretenden Verteidigungsminister Paul Wolfowitz und den Undersecretary of State John Bolton, den Bush in "fox-guarding-the-henhouse fashion" zum Supervisor der Rüstungskontrollpolitik gemacht habe. Alles in allem hätten dabei die konservativen Hardliner um Cheney, Rumsfeld, Rice, Wolfowitz und Bolton die bisherigen politischen Schlachten gewonnen - mit dem Ergebnis, dass die Vereinigten Staaten fast alle internationalen Rüstungskontrollvereinbarungen aufgekündigt und sich ihre Diplomaten aus den Konfliktherden des Nahen und Fernen Ostens nahezu vollständig zurückgezogen hätten. Für Afghanistan lasse sich dies genauso nachweisen wie für den israelisch-palästinensischen oder indisch-pakistanischen Konflikt.


Für manchen Europäer, der den pronocierten Unilateralismus der gegenwärtigen amerikanischen Regierung allein auf das manichäische Weltbild des "toxischen Texaners" an deren Spitze zurückführt, hält Hirsh wenig Trost bereit. Mit Bushs "Cowboy-Mentalität" habe die derzeitige Ausrichtung der amerikanischen Außenpolitik weit weniger zu tun als mit den harten Fakten überwältigender amerikanischer Militärmacht und den Restbeständen der Tradition des "American Exceptionalism", die nach dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung des Kalten Krieges zunächst einmal wiederbelebt worden seien. Eine Demokratische Regierung in der Tradition Clintons hätte kaum anders auf "9/11" reagiert als Bush. Auch Clinton habe immer, wenn es zur Nagelprobe gekommen sei, unilateralistisch agiert - man denke nur an Richard Holbrooke in Dayton oder Madeleine Albright in Rambouillet. Der Grund dafür liegt Hirsh zufolge auch darin, dass der Unilateralismus dem amerikanischen Volk besser zu verkaufen sei als der Multilateralismus: Die Gewinne auf dem politschen Wählermarkt ließen sich unmittelbar einlösen, die politischen Kosten dagegen seien vage und nur langfristig relevant. Umgekehrt sei es mit dem Multilateralismus, dessen politischer Preis gleich bezahlt werden müsse, während der Nutzen sich erst langfristig einstelle. Dennoch plädiert Hirsh für einen "neuen Wilsonianismus", einen "kraftvollen, inklusiven Idealismus, mit dem sich die Welt identifizieren kann". Die Amerikaner müssten begreifen, dass die internationale Staatengemeinschaft in ihrer derzeitigen Organisation "ihre Party" ist. Jede bedeutendere internationale Organisation - von der UN über die Weltbank, den IWF, die Nato bis hin zum GATT - sei von den Vereinigten Staaten geschaffen worden und könne von ihnen nicht ohne spürbare Folgen für das Funktionieren des internationalen Systems verlassen werden.

Ums Öl geht es gerade nicht

Was viele Europäer scheinbar nur schwer begreifen können, ist das überragende Gewicht moralischer, ethischer, ja quasi-religiöser Begründungen in der amerikanischen Politik und somit auch in der Diskussion um die neue "nationale Sicherheitsstrategie" der USA. Nichts könnte europäische Ignoranz gegenüber den Bestimmungsgründen amerikanischer Politik besser kennzeichnen als die immer wiederkehrende Parole "Blut für Öl". Ginge es den Amerikanern - wie in der Tat den Franzosen - wirklich um das Öl, dann würden sie kaum zu einem Krieg gegen den Irak rüsten. Wirtschaftliche und auch geopolitische Interessen spielen aber zum Leidwesen der wenigen verbliebenen Anhänger der realistischen Schule in der amerikanischen Außenpolitik derzeit nur noch eine nachgeordnete Rolle. Nicht nur sieht sich der "wiedergeborene Christ" George W. Bush - wie im übrigen auch die 59 amerikanischen Intellektuellen, die im Februar 2002 mit ihrem Letter from America: What We′re Fighting For für Furore sorgten - als Kämpfer für einen "gerechten Frieden", der die Welt "nicht nur sicherer, sondern auch besser machen" und "die Hoffnung auf Demokratie, Entwicklung, freie Märkte und freien Handel in jeden Winkel der Erde tragen" will; weite Teile des außenpolitischen Establishments und der scientific community der Vereinigten Staaten folgen ihm zumindest darin, dass sie die Legitimität eines Krieges gegen die "Schurkenstaaten" dieser Welt anerkennen.

Manch ein Kritiker in den Vereinigten Staaten mag zwar den Sinn eines Krieges gegen den Irak mit guten Argumenten bezweifeln, er mag auch aus wohlverstandenem nationalen Interesse einen UN-mandatierten Krieg einem militärischen Alleingang Amerikas vorziehen, kaum einer aber würde den Vereinigten Staaten das Recht bestreiten, einen solchen Krieg für einen "gerechten Frieden" auch alleine zu führen - schon gar nicht mit dem ethisch zutiefst fragwürdigen Argument, mit der Verhinderung des Irak-Krieges dem Frieden in der Welt dienen zu wollen. Auf diese Idee konnten, vom Papst sowie einigen anderen Potentaten und Diktatoren einmal abgesehen, anscheinend nur der deutsche Bundeskanzler und der französische Präsident kommen.

Literatur:

Ronald D. Asmus und Kenneth M. Pollack, The New Transatlantic Project, in: Policy Review Nr. 115 (Oktober/November 2002); George W. Bush, Die nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten von Amerika, Washington, D.C., White House, September 17, 2002 (abzurufen über www.usembassy.de); James Chace, Imperial America and the Common Interest, in: World Policy Journal 19 (2002) 1, S. 1-9; Audrey Kurth Cronin, Rethinking Sovereignty: American Strategy in the Age of Terrorism, in: Survival 44 (2002) 2, S. 119-139; David C. Hendrickson, Toward Universal Empire. The Dangerous Quest for Absolute Security, in: World Policy Journal 19 (2002) 3, S. 1-10; Michael Hirsh, Bush and the World, in: Foreign Affairs 81 (2002) 5, S. 18-43; G. John Ikenberry, America′s Imperial Ambition, in: Foreign Affairs 81 (2002) 5, S. 44-60; Institute for American Values, What We′re Fighting For: A Letter from America, New York, February 2002; Robert Kagan, Power and Weakness, in: Policy Review, Nr. 113, Juni/Juli 2002; Michael Mandelbaum, The Inadequacy of American Power, in: Foreign Affairs 81 (2002) 5, S. 61-73; "Public Diplomacy: A Strategy for Reform" - A Report of an Independent Task Force on Public Diplomacy Sponsored by the Council on Foreign Relations, in: Foreign Affairs 81 (2002) 5, S. 74-94; Kori Schake und Klaus Becher: How America Should Lead, in: Policy Review, Nr. 114 , August/September 2002, S. 3-18; Martin Walker, America′s Virtual Empire, in: World Policy Journal 19 (2002) 3, S. 1-10.

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