Mobilität, nicht Migration!

Im heutigen Europa mit seinen offenen Grenzen beschreiben Begriffe wie »Auswanderung« die Ortswechsel und Wanderungsbewegungen der Menschen nur noch unzureichend. Beobach­tungen aus der Perspektive eines Goethe-Instituts in Italien

U nter „Migration“ stellen sich viele Menschen große Wanderungsbewegungen vor. Deshalb hat der Begriff etwas Bedrohliches. Er wird zum Beispiel mit unliebsamer Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt assoziiert. „Mobilität“ hingegen wird oft als positiv empfunden. Mobile Menschen sind flexibel. Sie erscheinen fähig, weitreichende Entscheidungen zu treffen und ihr Leben aktiv zu gestalten. Der Wechsel in ein anderes Land ist noch positiver besetzt, wenn er als Horizonterweiterung und berufliche Veränderung wahrgenommen wird – und nicht als Flucht vor schlechten wirtschaftlichen Bedingungen. Außerdem verbindet man mit Mobilität einen kürzeren Aufenthaltszeitraum im Ausland als mit Migration.

Das Wort „Auswanderung“ wirkt in Zeiten der Globalisierung hingegen fast schon archaisch. Heute werden Qualifizierungsmöglichkeiten und Karrierechancen kaum noch durch Staatsgrenzen verbaut. Im Gegenteil: Auslandserfahrung gilt als wichtiger Baustein im Lebenslauf von Führungskräften. Der Präsident des Goethe-Instituts, Klaus Dieter Lehmann, bringt es so auf den Punkt: „Europa muss der hohen Jugendarbeitslosigkeit mit dem Versprechen der Mobilität entgegensteuern und innerhalb Europas nach Chancen suchen. Der Begriff Mobilität sollte dabei in Abgrenzung zur Einwanderung gesehen werden, im Sinne von ‚Wanderjahren‘. Man geht in ein anderes Land, um sich selbst zu qualifizieren.“

Eine im März 2011 veröffentlichte Studie der deutschen Botschaft in Rom kommt zu dem Ergebnis, dass die überwiegende Mehrheit der Deutschen und der Italiener die Beziehungen zwischen beiden Ländern als gut bis sehr gut bewertet. Für 79 Prozent der Italiener und 91 Prozent der Deutschen sind die Beziehungen problemfrei. Allerdings schätzen beide Seiten das Potenzial für weitere Verbesserungen unterschiedlich ein: Für Italiener steht die Zunahme von Wirtschaftsabkommen (35 Prozent) an erster Stelle, für Deutsche die Förderung des Kulturaustausches für Jugendliche (44 Prozent).

Deutschlands Beliebtheit ist im Sinkflug

Bei differenzierter Betrachtung zeigt sich, dass in Italien gerade jüngere Menschen, die interessiert am wirtschaftlichen und politischen Geschehen sind, mit Anerkennung und Sympathie auf Deutschland schauen – auf die Wirtschaftskraft, die sozialen Bedingungen und auf die politische Stabilität. Allerdings ist dieser Blick im Moment oft verbunden mit der diffusen Erwartung, dass Deutschland Italien in der Krise stärker helfen und unterstützen sollte, um die prekäre Situation zu verbessern. Zu vergleichbaren Ergebnissen kommt eine Untersuchung des Real Instituto Elcano über die Einstellung der spanischen Bevölkerung gegenüber Deutschland.

Insgesamt ist die Bundesrepublik in Südeuropa in den vergangenen Monaten in der Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise zunehmend unbeliebter geworden. Für diese These gibt es noch keine statistischen Belege, aber wer die Medien beobachtet und Gespräche mit Menschen aller Altersgruppen und Bildungsschichten führt, kann sich dieses Eindrucks nicht erwehren. Ein Beispiel ist der Begriff „Spread“, der seit Beginn der Finanzkrise in der italienischen Öffentlichkeit synonym für die Differenz zwischen den Zinssätzen verwendet wird, die Deutschland und Italien für zehnjährige Staatsanleihen zahlen müssen. Jeder Zeitungsleser in Italien kennt diesen Ausdruck inzwischen; die Lücke zwischen beiden Zinssätze wird nahezu täglich veröffentlicht und kommentiert. Ist der Spread groß oder steigt er wieder einmal, fordern viele Kommentatoren die Unterstützung aus Deutschland, etwa mithilfe von Eurobonds beziehungsweise der Vergemeinschaftung von Schulden. Lehnen deutsche Politiker diese Vorschläge dann ab, haben viele Leser das Gefühl, allein gelassen zu werden. Sinkt der Spread, sind auch die Medien wieder weniger kritisch gegenüber der deutschen Haltung.

Unser Schettino heißt Fleischhauer

Reminiszenzen an Deutschlands dunkle Vergangenheit sind von Portugal bis Griechenland leider keine Seltenheit. Überschriften wie „Das vierte Reich“ oder Bilder von Angela Merkel mit Hakenkreuzbinde finden sich in vielen Zeitungen. Zwar nehmen die meisten Menschen die fürchterlichen Überspitzungen gar nicht ernst, dennoch hinterlässt diese Berichterstattung Spuren. Die Online-Zeitungen und Blogs – gerade bei jungen Menschen oft meinungsbildend – verstärken den Trend. „Spanien ist ein deutsches Protektorat“, titelte kürzlich die größte spanische Internetzeitung lainformacion.com.

Besonders unglücklich sind aus dem Kontext gerissene oder missverstandene Zitate deutscher Politiker und Journalisten. Gerade in Krisenzeiten ist die Verletzung des Nationalstolzes heikel. Deutsche Politiker und Journalisten sollten sich der Wirkung ihrer Worte im Ausland bewusst sein. Beispielsweise veröffentlichte Jan Fleischhauer nach dem Unglück des Kreuzfahrtschiffes Costa Concordia auf Spiegel-Online einen ironisch-negativen Artikel, in dem er das italienische Volk mit dem Unglückskapitän Francesco Schettino gleichsetzte. „Wir haben unseren Schettino und ihr habt euer Ausschwitz“, lautete Alessandro Sallustis Antwort auf Fleischhauer in Il Giornale vier Tage später – pünktlich am 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers. Natürlich war auch die Erwiderung unangebracht, aber sie hätte gar nicht erst provoziert werden müssen. Dies ist nur ein Beispiel von vielen.

Dieser spürbaren Verschlechterung des Deutschlandbildes in Südeuropa zum Trotz steigt das Interesse an Deutschland merklich. In den vergangenen drei Jahren beobachten die Goethe-Institute von Portugal bis Griechenland einen erheblichen Zulauf von Deutschschülern. Andere wollen ihren Kenntnisstand dokumentieren und eine Deutschprüfung ablegen. Was macht Deutschland für – zumeist junge – Europäer attraktiv?

Die meisten wollen ihre beruflichen Chancen verbessern. Überbordende Jugendarbeitslosigkeit, eine dramatische Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in der Heimat und die ökonomisch stabile Situation in der Bundesrepublik motivieren erfolgsorientierte, mobile Menschen, den Blick auf die gut funktionierende Industrie und die Berufsaussichten in Deutschland zu richten – vor allem in technischen Berufen und im Gesundheitssektor. Ebenso positiv werden faire Arbeitsbedingungen und ordentliche Bezahlung, günstigere Lebenshaltungskosten und – besonders in Großstädten – niedrigere Mieten wahrgenommen. Dieser Trend dürfte allerdings nicht von Dauer sein: Als Deutschland vor zehn Jahren mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, sank das Interesse an Deutschkursen deutlich.

Überhaupt ist Arbeitsmobilität mehrheitlich ein zeitlich begrenztes Phänomen. Vor fünf bis zehn Jahren zogen gut ausgebildete polnische Arbeiter vor allem nach Großbritannien und Irland. Viele von ihnen bringen ihre Auslandserfahrung heute in den polnischen Wirtschaftsprozess ein. Deutsche Wissenschaftler wechseln seit Jahren zu Tausenden in die Vereinigten Staaten, weil ihnen dort in einem bestimmten Lebens- oder Karriereabschnitt die Aussichten günstig erscheinen. An deutschen Universitäten machte das böse Wort vom Braindrain die Runde. Aber wie Aktivitäten und Untersuchungen des German Academic International Network zeigen, kehrt ein beträchtlicher Teil dieser Bildungseliten nach einigen Jahren im Ausland in die Heimat zurück und bringt einen reichen Wissens- und Erfahrungsschatz mit. Motive für die Rückkehr sind unter anderem, dass das Umfeld im Heimatland wieder attraktiver geworden ist, dass eine bestimmte Berufsphase beendet wurde oder dass sich die Lebensumstände in den Vereinigten Staaten verschlechtert haben.

In diesem Jahr haben sich bisher rund 20 Prozent mehr Italiener in die Sprachkurse der Goethe-Institute eingeschrieben als im Vorjahr. In anderen Ländern Südeuropas liegen die Steigerungsraten teilweise bei über 30 Prozent. Fragt man die Menschen, warum sie Deutsch lernen, nennen sie fast immer berufliche Motive. Hier kommen einige reale Beispiele: Giulia (31) und Marco (33) leben zusammen in der Nähe Mailands. Sie arbeitet seit vier Jahren in einem internationalen Konzern und war beruflich schon mal ein paar Monate in Frankfurt. Ihr Arbeitsvertrag ist unbefristet, aber ihr liegt ein Angebot aus Deutschland vor. Marco entwickelt Fertigungsmaschinen, doch die konjunkturelle Abkühlung in Italien und schlechte Aussichten in seinem Arbeitsumfeld haben ihn vor einem Jahr dazu bewogen, nicht wie geplant ein Haus zu kaufen, sondern über eine befristete Tätigkeit in Deutschland nachzudenken. Inzwischen planen beide, für drei Jahre in die Bundesrepublik zu gehen. Um sich vorzubereiten, büffeln sie Deutsch. Dabei fühlen sie sich regelrecht in ihre Schulzeiten zurückversetzt – mit Hausaufgaben, Vokabellernen und Prüfungen. Ihr größter Wunsch für die Zukunft: Irgendwann würden sie sich gern ein gemeinsames Haus daheim in Italien kaufen, ohne dafür die Hilfe der Eltern in Anspruch nehmen zu müssen.

Nach drei bis vier Jahren zurück in die Heimat?

Ein anderes Beispiel ist Maria (24), die im Goethe-Institut von Barcelona Deutsch lernt. Ihr Studium im Fach Industriedesign hat sie abgeschlossen und schon einige Praktika absolviert. Aufgrund der Krise sieht sie in Spanien keine berufliche Perspektive und orientiert sich nach Nordeuropa. Englisch und Französisch hat sie in der Schule gelernt, jetzt paukt sie intensiv Deutsch, um eventuell in Deutschland arbeiten zu können. Auch die Niederlande, wo sie schon ein Auslandssemester verbracht hat, kommen in Frage. Zurzeit stellt Maria ihre Bewerbungsunterlagen in den verschiedenen Sprachen zusammen und will sich dann einige Wochen lang in ihren Wunschländern umsehen, um die Sprache zu festigen und sich vor Ort zu bewerben. Sie hofft, nach drei bis vier Jahren Arbeit im Ausland wieder nach Spanien zurückkehren zu können. Dort fühlt sie sich zuhause.

Wo die Wirtschaft im Heimatland eine Krise durchläuft, bilden sich junge, aktive Menschen heute typischerweise weiter und planen ihr Leben über Staatsgrenzen hinweg. Ihr zeitlicher Horizont beträgt dabei meist drei bis vier Jahre. Das ist eine Win-win-Situation: Unternehmen in Zielländern wie Deutschland suchen Arbeitskräfte, während in den Heimatländern Sozialkassen entlastet und Konfliktpotenziale aufgrund von Arbeitslosigkeit gemindert werden. So genannte Arbeitsmigranten leben oft sparsam, wodurch ein Kapitalzufluss durch Geldtransfers ins Heimatland entsteht. Nicht zuletzt werden durch solche Bewegungen die Verbindungen und das gegenseitige Verständnis zwischen den jeweiligen Ländern gestärkt.

Das Goethe-Institut unterstützt diesen Prozess. Es macht spezielle Angebote im Internet und bietet in den Ländern Südeuropas, aber auch in Deutschland allgemeine sowie berufsbezogene Sprachkurse an. Das Institut verstärkt die Zusammenarbeit mit Unternehmen und Arbeitsagenturen, um Praktika oder unterstützende Serviceleistungen zu vermitteln. Dies reicht bis hin zur Hilfestellung bei der Anfertigung von Bewerbungen.

Kurz: Die Mobilität von Arbeitskräften führt sowohl in den Herkunfts- als auch in den Ankunftsländern zu positiven Effekten. Die Zuwanderung aus Südeuropa ist zumeist zeitlich befristet. Sie entlastet die Heimatländer in der gegenwärtigen Krise – und sie wird den südeuropäischen Gesellschaften erneut zugute kommen, wenn die Abgewanderten in einigen Jahren mit neuen Qualifikationen und Kontakten zurückkehren. Heute erhoffen sich viele mobile, gut ausgebildete und risikobereite junge Menschen mit guten Deutschkenntnissen (oder der Bereitschaft, diese schnell zu erwerben) in Deutschland neue Lebenschancen. Sie werden unsere wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung positiv beeinflussen.

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