It’s the society, stupid!

EDITORIAL

„It’s the economy, stupid!“ – dieses Gesetz erfolgreicher politischer Strategie und Kommunikation gilt seit Bill Clintons großem Wahlsieg vor genau zwei Jahrzehnten. Und es gilt besonders für progressive Parteien. Wer in der linken Mitte zur Frage der Wahrung und Mehrung ökonomischen Wohlergehens nichts Handfestes zu sagen weiß, kann jede Hoffnung fahren lassen, von den Wählern die Gesamtverantwortung für das Gemeinwesen übertragen zu bekommen.

Aber Ökonomie ist nicht alles. Oder anders gesagt: Alles Ökonomische hat nichtökonomische Voraussetzungen, Folgen und Nebenwirkungen. Die müssen politisch mitgedacht werden, damit eine Gesellschaft im Einklang mit sich selbst gedeihen kann. Genau hier liegt, auch im Wahljahr 2013 wieder, die große Chance progressiver Politik und progressiver Parteien. Sie müssen – und können – ein attraktives Bild davon zeichnen, wie die Lebensperspektiven jedes einzelnen Menschen und die Zukunft der gesamten Gesellschaft positiv miteinander verflochten sind.

Es ist mit den Händen zu greifen: Die derzeitige Bundesregierung in ihrer ganzen Verhocktheit hat schlicht kein Gespür für die vitalen Dynamiken, die heute in unserer Gesellschaft stecken. Es fehlt ihr an Zielen. Es fehlt eine positive Vision für das Zusammenleben der Menschen hier im Land. Es fehlt die Orientierung an Potenzialen, statt an Defiziten. Es fehlt das Verständnis dafür, dass unser Land dringend einen „neuen Gesellschaftsvertrag“ braucht, der Lebens-, Bildungs- und Aufstiegschancen für alle bieten muss. Es fehlt, kurz gesagt, an einem Versprechen, das den Erwartungen und Hoffnungen der vielen Millionen Menschen gerecht wird, die Deutschland ihre Heimat nennen (wollen).

Das betrifft nicht nur, aber besonders die Millionen von „neuen Deutschen“, die sich in den vergangenen Jahrzehnten für das Leben hier im Land entschieden haben. Es betrifft auch die vielen jungen Europäerinnen und Europäer, die in jüngster Zeit auf der Suche nach einem besseren Leben zu uns kommen. Sie alle werden unsere Gesellschaft beleben und bereichern – sofern ihnen die Möglichkeiten dazu gewährt werden. Darum stehen wir in Deutschland vor einer ganz grundlegenden Wahl: Entweder wir beharren borniert auf der alten Unterscheidung zwischen „wir“ und „die“ – und verarmen uns damit (auch ökonomisch) selbst. Oder Deutschland ergreift beherzt die ungeheure Gelegenheit, die darin besteht, dass es für viele Menschen unseres Kontinents in diesen Zeiten das bevorzugte „land of promise“ ist.

E pluribus unum – so lautet das historische Erfolgsrezept der Vereinigten Staaten. Wir in Deutschland sollten es unter Führung einer fortschrittlichen Regierung endlich für unsere Zwecke adaptieren. Die Herausforderung ist groß, die Chance aber auch. Den Nutzen wird unsere gesamte Gesellschaft haben.

Tobias Dürr, Chefredakteur

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