Mitte ist da, wo der Daumen rechts ist

Schon einmal ist es der Union gelungen, die SPD aus der Mitte zu verdrängen und das Kanzleramt zurückzuerobern. Eine Wiederholung der Geschichte ist möglich - doch bislang haben die Christdemokraten nichts aus ihr gelernt

"Wenn ich ein Wort gebrauche", sagte Goggelmoggel in recht hochmütigem Ton, "dann heißt es genau, was ich für richtig halte - nicht mehr und nicht weniger."
"Es fragt sich nur", sagte Alice, "ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen kann."
"Es fragt sich nur", sagte Goggelmoggel, "wer der Stärkere ist, weiter nichts."

Lewis Carroll, Alice im Wunderland

Franz Müntefering ist derzeit augenscheinlich der Stärkere, deshalb lässt er die Mitte schon seit längerem "neu" und neuerdings sogar "links" heißen. Als Partei der Neuen Mitte hatte die SPD erfolgreich den Wahlkampf 1998 bestritten, und diesen Erfolg gedenkt der Generalsekretär nun im Jahr 2002 fort zu schreiben. Dabei nutzt er in der ihm eigenen suggestiven Art den Standortvorteil einer Partei, welche die Regierung stellt. "Die Mitte ist da", dekretiert er dem Wahlvolk, "wo die linke Volkspartei SPD ist". In Deutschland sei die Mitte rot.

Das klang vor nicht allzu langer Zeit, als Helmut Kohl noch das Zepter führte, noch ganz anders und doch irgendwie gleich. Damals war die Union mittig, ihr Vorsitzender war, wie Karl Heinz Bohrer schrieb, "zum Selbstverständlichen in unser aller Alltag geworden". Kohls Körper war der Körper der Bundesrepublik.

An dieses absolutistische Maß konnte und kann Gerhard Schröder nie heranreichen und doch gelang es ihm, Kohls Körper zu verdrängen. Eine Dekade nachdem Ralf Dahrendorf das Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts verkündet hatte, feierte eben diese Sozialdemokratie einen ihrer größten Erfolge. Die Union neigte eine ganze Zeit lang dazu, dies als einen Betriebsunfall der Geschichte zu betrachten. Noch heute hält sie sich in ihrer Mehrheit für die eigentliche politische Repräsentantin der Mitte - und Müntefering und Schröder bloß für ein paar gewiefte Etikettenschwindler.

"Die Mitte ist rechts von links", konterte denn auch Angela Merkel im Februar Münteferings Ortsbestimmung. Womit die gelernte Physikerin zwar dessen recht laxe Handhabung der Regeln der formalen Logik wieder ins Lot rückte, sich aber in der Aussagekraft auch nicht wesentlich über die Herbergersche Maxime hinaus bewegte, dass der Ball rund ist. Nur wenige in der Union erkennen, dass es für sie nicht damit getan ist, der SPD die zentrale Position lautstark abzusprechen, Schröder der Beliebigkeit zu bezichtigen und die Sozialdemokratie "inhaltlich" als "leere Hülle" zu enttarnen. Vielmehr muss es für die Union darum gehen, so der stellvertretende Vorsitzende Jürgen Rüttgers, "einen Modernitätsvorsprung zurückzugewinnen" und dabei die gesellschaftlichen Bindungskräfte der Union wieder zu stärken. Sein Projekt heißt deshalb "politisch- kultureller Wandel", denn "politische Mehrheiten werden sich zukünftig eher kulturell als politisch definieren".

Als Karl Schiller ging, ging auch die Mitte

Dabei beruft sich Rüttgers auf ein historisches Vorbild. Die Union habe "in den siebziger und achtziger Jahren ihre Mehrheitsfähigkeit zurückgewonnen, weil sie zur Anerkennung neuer Realitäten bereit war und sie in ihr eigenes politisches Koordinatensystem integrierte". Damals lautete das Projekt "geistig-moralische Wende". Auch wenn von einer solchen damals nicht viel zu spüren war, zeigt das Beispiel jener Jahre doch, dass die Veränderungen, die zu der Verschiebung der politisch-gesellschaftlichen Koordinaten führten, weitaus komplexer waren, als es die jeweilige suggestive Selbstzuschreibung der Mitteposition vermuten lässt.

Die Erosion der sozialdemokratischen Hegemonie und der Wiederaufstieg der Union setzte bereits ein, als Willy Brandt noch im Zenit seiner Popularität stand. Man kann den Beginn der Wende auf den 2. Juli 1972 datieren: auf jenen Tag also, an dem Karl Schiller den Bundeskanzler um seine Entlassung bat, empört darüber dass ihm im Kabinett so wenig Achtung zuteil wurde und verärgert, dass in seiner Partei wieder ein Staatsdirigismus aufkam, von dem man gehofft hatte, dass er mit dem Godesberger Parteitag ad acta gelegt war. Doch nun forderte man zum Zwecke der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums unversehens wieder hohe Steuern, und in der SPD wurde über allerlei Wege nachgedacht, unternehmerische Entscheidungen einzuschränken.

Erst Biedenkopf machte die CDU zur Partei

Erst wenige Jahre zuvor hatte Schiller mit seiner keynesianischen Wirtschaftspolitik das Land aus seiner ersten schweren Rezession geführt. Damit hatte er zugleich die wirtschaftspolitische Hegemonie der Union, die seit den frühen fünfziger Jahren mit dem Namen Ludwig Erhard verbunden war, durchbrochen und die SPD für die wachsende Mittelschicht der Facharbeiter, Angestellten und Beamten wählbar gemacht. Schon damals sprach Willy Brandt von einer neuen Mitte. Für sie hatte Schiller das Fundament gelegt, dass nun im Laufe der siebziger Jahre durch eine sich reideologisierende SPD untergraben wurde. Aufgeschreckt durch die Revitalisierung marxistischer und staatsinterventionistischer Radikalismen zogen sich die sozialen Aufsteiger von der SPD wieder zurück, allenfalls in Helmut Schmidt erkannten sie noch ihren Mann. Doch mit dessen schwindendem Standing schwand auch ihr Vertrauen in die SPD.

Allerdings führte die Ideologisierung der Partei zugleich in Scharen neue Mitglieder zu, weshalb sie der substanzielle Verlust in der Mitte zunächst nicht schmerzte. Jahrelang surfte sie mit Marx und neuer Ostpolitik auf einem Zeitgeist, dem sich auch die Union beugen musste, die davon zugleich aber auch profitierte. Denn die Christdemokraten erneuerten sich nun organisatorisch, programmatisch und personell und schufen damit die Grundlage für die Rückeroberung der Macht. Unter ihrem Generalsekretär Kurt Biedenkopf formte sich die landsmannschaftlich orientierte, konfessionell gebundene, bürgerliche Sammlungsbewegung, welche die Union unter Adenauer war, zu einer richtigen Partei, die allerdings auch noch danach weit mehr als die SPD dem Bild einer "lose verkoppelten Anarchie" entsprach.

Kohl war Kontinuität - und nicht Zäsur

Die Union erhielt unerwartet starken Zulauf aus der Protestgeneration, der einen vor allem kulturellen Modernisierungsschub herbeiführte. Mit der "neuen sozialen Frage" kreierte Heiner Geißler eine Programmatik, mit der die CDU, an ihre kirchliche Tradition anknüpfend, eine zeitgemäße Position in den Auseinandersetzungen jener Jahre beziehen konnte. Die Union nahm sich der "have nots" der Gesellschaft an, ohne sie, wie die jungsozialistisch dominierte Konkurrenz, in Widerspruch zum "Kapital" zu treiben. Die Christunion sozialdemokratisierte sich, ohne sozialdemokratisch zu werden.

Mit dem Ende der siebziger Jahre war auch das Ende des "Keynesianismus in einem Land" eingeläutet. Schillers magisches Viereck erwies sich angesichts der Veränderungen der Weltökonomie als Quadratur des Kreises. Der Gleichklang von wirtschaftlich Gewolltem (antizyklische Konjunkturpolitik) und gesellschaftlich Gewünschtem (Umverteilung) war nachhaltig gestört. Die anschwellenden Missklänge zwischen Bundeskanzler Helmut Schmidt und seiner Partei in der Verteidigungspolitik wie auch in Haushaltsfragen führten zum von der FDP bewerkstelligten Wechsel. Was Helmut Schmidt nicht mehr gegen seine Partei durchsetzen konnte, betrieb Helmut Kohl erfolgreich weiter. Der politische Rückfall, den viele hinter der "geistig moralischen Wende" witterten, erschöpfte sich dabei in wenigen symbolischen Handlungen. Insofern bedeutete schon Helmut Kohls Einnahme der Mitte eher Kontinuität als Zäsur.

Die moderne Mitte setzte auf Schröder

Die Rückeroberung gelang Gerhard Schröder 16 Jahre später vor allem deshalb, weil er jene Fehlentwicklungen seiner Partei korrigierte, die er zwanzig Jahre zuvor selbst mit verursacht hatte. Wie sein Vorbild Tony Blair in Großbritannien schärfte Schröder die Kontur seiner Politik des Dritten Weges in der Auseinandersetzung mit der überkommenen sozialdemokratischen Programmatik. Die weigerte sich beharrlich, die verengten Handlungsspielräume nationalstaatlicher Politik in Zeiten der Globalisierung zum Ausgangspunkt zu nehmen und reagierte auf die Flüchtigkeit des Kapitals mit einer Mischung aus moralischer Verdammung, keynesianischer Nachfragephilosophie und administrativer Lenkung. Ihr setzte Schröder eine "moderne" Wirtschaftspolitik entgegen, was zunächst nicht viel mehr bedeutete als die Aufnahme angebotsorientierter Instrumente. Doch diese bewusste - auch habituell unterfütterte - Absetzung von der gewerkschaftlich und postmaterialistisch geprägten Linken in seiner Partei machte ihn für das Milieu der modernen Mitte attraktiv.

Die Nachkriegsgeschichte ist zu Ende

Dieses Milieu ist durch den Strukturwandel des letzten Jahrzehnts geprägt, der bei ihm nicht nur Hoffnung auf materielle Verbesserung genährt hat, sondern auch die Angst vor Deklassierung zu einer Konstante des Erwerbslebens werden ließ. Aus der Unstetigkeit der Biografien resultiert eine recht materialistische Anforderung an die Politik. Utilitarismus, nicht soziobiografische Bindung bestimmt das Verhältnis zu den politischen Repräsentanten. Entsprechend groß ist die Bereitschaft zum Wechsel. Schröder konnte sie nutzen, weil seine reformierte SPD den Umbau der Sozialsysteme und den Abbau der Arbeitslosigkeit in einer Weise glaubhaft machen konnte, welche die soziale Teilhabe eines jeden versprach. Damit setzten sich die Sozialdemokraten von einer blockierten Regierung ab, deren Image zudem unter den neoliberalen Eskapaden des kleineren Koalitionspartner sowie eines Teils der "jungen Wilden" litt. In Kohl, schrieb Karl Heinz Bohrer am Ende von dessen Amtszeit, drücke sich nur noch, "die Unfähigkeit einer ganzen Gesellschaft ... zum dynamischen Infragestellen überkommener Glaubensinhalte aus, wenn diese nicht mehr funktionieren."

Mittlerweile hat die Kohärenz von Schröders Konzept des Dritten Weges Risse bekommen. Der rote Faden, der das Regierungshandeln und die sozialdemokratische Tradition verweben und damit zu einem weiteren Kapitel einer Erfolgsgeschichte fortschreiben könnte, ist gerissen. Die Partei, so beschreibt es Franz Walter, ist "freier, weniger ideologisch, nüchterner und infolgedessen regierungsfähiger geworden". Doch gleichzeitig ist sie "dadurch auch ärmer geworden". Die Basis ist ermattet, die sozialen Bindungen sind ausgeschöpft.

Eine Diagnose, die allerdings auch der Union gestellt wird. Auch um deren sozialkulturellen Ressourcen ist es düster bestellt. Die Bindungskraft des rheinischen Katholizismus hat sich erschöpft, eine einmalige Nachkriegsparteiengeschichte ist mit der Ära Kohl unwiederbringlich zu Ende. So sind beide Parteien von dem Virus der zerfallenden Milieus befallen, beide kämpfen gegen eine schwindende Zahl von Stammwählern und um die wachsende Zahl der Wechselwähler, die sich in der Mitte tummeln.

Noch steht die Union in kohlistischer Tradition

Die Mitte ist der Dreh- und Angelpunkt der politischen Hegemonie, das Feld des Ausgleiches, der aristotelische Ort einer guten Politik. Wer die Mitte einnimmt, kann sich im Einklang mit der Selbstverortung eines Großteils der Wählerschaft sehen. Unabhängig von soziologischer Schichtung und beruflicher Stellung rechnet sich, nach Erhebungen des Forsa-Institutes, über die Hälfte der Bevölkerung der Mitte zu. In dieser Zahl manifestiert sich die Absage an die überkommene Einordnungen der Bevölkerung in politisch geprägte soziokulturelle Lager. Das Volk der Mitte ist launisch und stets wechselbereit. Nur noch die gute Hälfte seiner Mitglieder favorisiert dieselbe Partei wie bei der letzten Wahl, der große Rest will umworben werden. Dieser Rest entscheidet die Wahl zwischen SPD und Union.

Noch ist die Union nicht in der Lage, diese Auseinandersetzung für sich zu entscheiden. Zu stark steht sie in der Tradition der Ära Kohl und ignoriert den Wandel der Politik, der sich seitdem vollzogen hat. Insgeheim hoffen die Christdemokraten noch immer, die Geschichte ihrer jahrzehntelangen Regentschaft fortschreiben zu können. Den fundamentalen Wandel, der nationales Regieren in Zeiten der Globalisierung prägt, haben sie intellektuell noch nicht verarbeitet.

Das System Schröder funktioniert parteifern

Der Wechsel von der Regierung Kohl zur Regierung Schröder war vor allem auch ein Wechsel im Modus operandi der Politik. Im System Kohl war die Koalitionsrunde das zentrale Instrument der strategischen Steuerung - jenes wöchentlich tagende Gremium, das unter Einbeziehung der Parteiführer den Streitstand der Regierung regelte. Dadurch wurde, so Wilhelm Hennis 1997 in einem luziden Aufsatz, "der Autoritätskern unserer Verfassung ... gewissermaßen ausgeweidet, eine niemanden im politischen Sinn repräsentierende Runde, eine krasse Inkarnation des Parteienstaates hat sich dort eingenistet". Wichtiger als die verfassungsrechtliche Fragwürdigkeit dieser Runde war jedoch ihre Wirkung auf die operative Politik. Die Parteiführer, so Hennis, seien sich doch im Wesentlichen nur in einem Punkt einig: bei allem was sie vorhaben, niemanden zu verprellen, nicht die Großen und die Kleinen ihrer Partei, nicht ihre organisierte Klientel, nicht den Wähler, und - angesichts der Struktur dieser marginalen Koalition - möglichst keinen einzigen. Das Resultat dieser organisierten Bedenkenträgerschaft war Stagnation, der seinerzeit allseits beklagte Reformstau, der das Ende des System Kohl beförderte.

Während die Kohlsche Konsenspolitik der Stabilisierung der machtversessenen Parteiendemokratie diente, trägt die Schrödersche ihrem Versagen und ihrem Schwinden Rechnung. In der rot-grünen Regierung spielte der Koalitionsausschuss von Anfang an keine wesentliche Rolle. Seine Treffen waren bedeutungslos oder dienten der inszenierten Austragung eines Streits, der dann auf dem kurzen Dienstweg zwischen Fischer und Schröder oder Struck und Schlauch geregelt wurde. Als Ausgangspunkt strategischer Überlegungen hat der Koalitionsausschuss nie gedient. Die Regierungsarbeit war von Anfang an von einer gewissen Parteienferne geprägt. Die Grünen bescherte dieser Umstand die eine oder andere existenzielle Krise. Und die SPD, durch den Weggang Lafontaines ihres Kraftzentrums beraubt, fügte sich den neuen Verhältnissen, um die Regierung nicht zu gefährden.

Dialogisch, gesellschaftsnah und mittig

Der Modus operandi des Schröderschen Regierens waren und sind die Konsensrunden, die Expertenkreise und Verhandlungsgremien, in denen wesentliche Regierungsprojekte (wie der Atomausstieg) verwirklicht oder eingeleitet wurden (wie die Einwanderungsgesetzgebung). Der Chef des Bundes- kanzleramtes, Frank Walter Steinmeier, sieht in den Runden "temporär wirksame Instrumente, die die politische Willensbildung beschleunigen und auf eine möglichst breite gesellschaftliche Grundlage stellen". Durch diese Art der strategischen Steuerung trug die Regierung den geschwundenen Spielräumen administrativen Handelns Rechnung. Zwar ließen sich dagegen gleichfalls verfassungsrechtliche Bedenken vorbringen, doch darauf soll es hier nicht ankommen. Durch die dialogische Einbeziehung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, Institutionen und vor allem auch Parteienvertreter wird der Eindruck interessengeleiteter parteipolitischer Vereinseitigungen vermieden, das Verfahren gewährleistet in den Augen der Wähler ein Resultat das gleichermaßen gesellschaftsnah und mittig ist.

"Wenn Politik überhaupt noch einen Kern hat, dann ist es diese Mobilisierung von Zustimmung unter gegenläufigen Bedingungen, unter denen Zustimmung vorbehaltlich, wechselhaft und anspruchsvoll geworden ist", schreibt Ulrich Beck. Die Union hat diesen politischen Kern nicht wahrgenommen, geschweige denn für sich genutzt. Sie erkannte darin lediglich eine Verflechtungsfalle des Bundeskanzlers. Sie warf ihm eine "Politik der Beliebigkeit" vor und vergaß, dass es die "Politik der Eindeutigkeit", die sie damit implizit für sich reklamierte, nicht mehr gibt. Sie tat sich schwer, auf die "Vereinnahmungspolitik" Schröders eine Antwort zu finden. Zwar hatte die Vorsitzende Angela Merkel sehr schnell versprochen, ihre Partei überall dort vor einer Politik der Verweigerung zu bewahren, "wo Gemeinsamkeiten mit der Regierung vorhanden und Kooperationen möglich sind". Doch der Drang ihrer Partei, die Regierung durch eine Politik der Konfrontation in die Enge zu treiben, war übermächtig. Die Union betrieb Opposition um der Opposition willen und verweigerte sich so einem Verfahren, dessen Resultate sich im Übrigen selten in echtem Gegensatz zu ihren eigenen Positionen bewegten.

Eine defensive Stimmung liegt über dem Land

Dieser Mangel an strategischer Steuerung wiegt umso schwerer, als - wie sich nun im Wahlkampf zeigt - die programmatischen Ressourcen, substanzielle Differenzen zur SPD kenntlich zu machen, denkbar gering sind. Die "Neue Soziale Marktwirtschaft", an der die Partei so lange feilte bis die alte wieder zum Vorschein kam, markiert keine neue Richtung, zumal der Hauch von Neoliberalismus, der aus den Steuersenkungsvorschlägen strömte, sich angesichts der Staatsverschuldung mittlerweile wieder verflüchtigt hat.

Deutschland durchlebt eine Phase drohenden sozialen Wandels. Während in der politischen Klasse und bei den Eliten über die Notwendigkeit der Transformation der sozialen Sicherungssysteme und der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes mittlerweile weitgehende Einigkeit besteht, macht sich in der breiten Mehrheit der Bevölkerung eine defensive Grundstimmung breit. Man weiß, dass etwas passieren muss, kennt nicht die Ausmaße und fürchtet, von den Folgen betroffen zu sein. Auf das daraus resultierende Spannungsverhältnis hat die Regierung Schröder programmatisch mit der Parole "Sicherheit im Wandel", praktisch aber ambivalent reagiert. Mit einer kohärenten Politik hat sie die Parole jedenfalls nicht füllen können.

Bausteine hat die Union, einen Bauplan nicht

Phasen drohenden sozialen Wandels sind keine Zeiten des Aufbruchs, des offensiven politischen Wandels. Die Menschen werden, schreibt der Soziologe Heinz Bude, in solchen Zeiten vielmehr "von einer heftigen Sehnsucht nach Führerschaft getrieben". Es ist diese konservative Grundstimmung, die noch am ehesten für ein Wiedererstarken der Union spricht. Es ist die heimliche Sehnsucht nach der entlastenden Überschaubarkeit einer mit Alltagsempirie gesättigen Politik wie sie die autoritative Ära Kohl prägte. Bloß keine komplexen und konfliktbehafteten rot-grünen Projekte, wie sie den letzten vier Jahren ihren experimentellen Stempel aufdrückten! Doch noch fehlt der Union die Person, die auf dieses Bedürfnis antworten könnte, noch hat sie kein Programm, das die gemeinschaftliche Einbettung des Einzelnen zum Ausgangspunkt nähme und ihm die Teilhabe an der Modernisierung in beherrschbaren Dimensionen gewährleisten könnte.

Die nachlassende Bindungswirkung des katholischen Milieus gilt als empirisch gesichertes Symptom einer erschlaffenden Christdemokratie. Übersehen wird dabei häufig, dass in den letzten Jahren eine Tendenz zu beobachten ist, die diesen Prozess zwar nicht rückgängig macht, der Union jedoch ein kulturelles Terrain eröffnet, das "hohe C" zeitgemäß fortzuschreiben. Der Vormarsch der Biotechnologien hat in der Gesellschaft zweifellos zu einem Aufblühen von Seins- und Lebensdebatten geführt. Nicht mehr die gesellschaftlichen Strukturen und die Prägung durch Milieus sind Gegenstand allgemeiner Erörterung. Vielmehr richtet sich der Wille zur Veränderung des eigenen Schicksals auf die Möglichkeiten der individuellen physischen und psychischen Entwicklung. Die Formbarkeit des Körpers, die Gestaltung von Leben und Leistungskraft, die Beseitigung von Krankheit und Behinderung stehen im Zentrum des Interesses.

Die Zeiten der Gesellschaftsdebatte und Systemveränderung - das waren die Zeiten der Linken. Biologische Definitionen hingegen bewegen sich im Spannungsfeld zwischen individueller Praxis und transzendent-religiösem Kontext. Gefragt ist eine gleichermaßen naturwissenschaftliche wie normative Orientierung, für welche die christliche Ethik einen starken Fixpunkt bildet. Das muss keinesfalls bedeuten, dass die römische Amtskirche wieder Zulauf erhält und die Union an Attraktivität gewinnt, indem sie möglichst wertkonservativ räsoniert. Auch ethische Positionen gewinnen ihre Kraft nicht mehr umstandslos aus Tradition oder Dogmatik, auch sie müssen heute im gesellschaftlichen Diskurs erstarken. Doch bedient sich dieser biopolitische Diskurs einer Textur, in der die Christdemokratie traditionell weit mehr beheimatet ist als die Sozialdemokratie, deren Terrain die Gesellschaftsdebatte war.

Genügend Bausteine, die sich zu einem "politisch-kulturellen Wandel" zusammenfügen ließen, besitzen die Christdemokraten also durchaus. Doch bislang fehlt es ihnen noch an einem Bauplan - und wohl auch an einem Baumeister.

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