Missverständnisse und Unkenntnis

zu Rolf Stöckel, Hohepriester und nützliche Idioten, Berliner Republik 5/2011

Freiheit kann, wenn sie die Freiheit aller sein soll, nie total sein. Notwendige Einschränkungen der Freiheit des Einzelnen gelten dort, wo andere geschädigt werden – diesen heute selbstverständlichen Grundsatz notierte John Stuart Mill bereits 1859 in seinem Grundlagenwerk des Liberalismus On Liberty. Ein kurzer Blick in das Programm der Piratenpartei zeigt, wie bewusst uns das ist. Die Piraten haben einen solidarischen Freiheitsbegriff, der – im Gegensatz etwa zum gegenwärtigen negativen Freiheitsverständnis der FDP – auch die positive Freiheit umfasst. Ralf Dahrendorf hat diese Vereinigung beider Freiheitskonzeptionen die soziale Freiheit genannt.

Dennoch behauptet Rolf Stöckel in der vergangenen Ausgabe der Berliner Republik, die Piratenpartei setze sich für die „totale Freiheit im Internet“ ein. Allein in der Überschrift und im ersten Absatz seines Artikels kommt dieser Begriff dreimal vor. „Totale Freiheit“, das klingt nach Totalitarismus und nach Joseph Goebbels’ Sportpalastrede. Wer kann das schon ernstlich wollen? Die Piratenpartei jedenfalls nicht – und sie hat auch nie etwas anderes behauptet.

Die Debatte um das Zugangserschwerungsgesetz war „das Erweckungserlebnis der Opposition im Internet“, wie es der Politikwissenschaftler Christoph Bieber auf den Punkt brachte. Damals schrieben sich die Piraten bekanntlich den Slogan „löschen statt sperren“ auf die Flagge; sie wollten Kinderpornografie konsequent aus dem Internet verbannen. Totale Freiheit sieht anders aus. Stöckels Behauptung, die Piraten widersetzten sich „allen nationalen und internationalen Versuchen ..., das Internet demokratisch legitimierten Regeln und Sicherheitskontrollen zu unterwerfen“, ist deshalb grob falsch. Ob es nun um dokumentierten Kindesmissbrauch, um Betrügereien oder um das Ausspähen persönlicher Daten geht: Was wir auf der Straße nicht erlauben würden, wollen wir auch im Netz nicht ungestraft durchgehen lassen. Andersherum gilt: Weil nicht lückenlos protokolliert werden soll, wer wann auf welcher Straße geht und mit wem er sich dort worüber unterhält, setzen wir uns gegen eine vollständige Überwachung im Netz ein. Bei der Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit gilt für uns: Im Zweifel für die Freiheit.

Ohnehin entspringt die Idee, das Internet sei so etwas wie der Wilde Westen unserer sonst so zivilisierten Gesellschaft, rechtlicher Unkenntnis. Bereits jetzt gibt es derart viele Möglichkeiten der Strafverfolgung, dass die Aufklärungsrate bei Online-Verbrechen um etwa 20 Prozent höher liegt als bei Verbrechen außerhalb des Internets. Natürlich lässt sich auch eine gute Erfolgsquote noch weiter steigern. Jedoch konnte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages in einer Sachstandsanalyse keinerlei Hinweise darauf finden, dass die von Stöckel befürwortete Vorratsdatenspeicherung zu einer höheren Aufklärungsquote führt. Für die Studie waren alle Mitgliedsländer der Europäischen Union untersucht worden, die in den Jahren 2005 bis 2010 verdachtsunabhängig Daten speicherten. Nirgendwo ließen sich signifikante Verbesserungen nachweisen. In Deutschland ging die Aufklärungsrate nach Einführung der Vorratsdatenspeicherung sogar geringfügig zurück – ziemlich wenig Nutzen für eine verfassungswidrige Grundrechtseinschränkung.

Es stimmt ja: Das Internet an sich ist weder gut noch böse, diese Eigenschaften sind Menschen vorbehalten. Wie bei jeder Erfindung bestimmen Menschen, ob das Internet mit positiven oder negativen Absichten eingesetzt wird. Doch einige Erfindungen bieten mehr Chancen als andere, und manche erkennen diese Chancen besser als andere. In der Piratenpartei sind viele derjenigen versammelt, die die Chancen des Netzes erkennen und – im Guten – nutzen möchten. Allerdings: Ein wenig verstehen muss man das Netz schon, um seine Chancen und Risiken überhaupt einschätzen zu können. Das gilt nicht nur für die Regulierungsenthusiasten so genannter Volksparteien, sondern auch für Kinder und Jugendliche. An dieser Stelle stimme ich Rolf Stöckel zu: „Wer surfen will, muss schwimmen lernen.“ Medienkompetenz ist eine unabdingbare Voraussetzung, um die Chancen der digitalen Revolution zu nutzen. Den Piraten ist das bewusst: In unserem Parteiprogramm schreiben wir darüber 3.654 Zeichen. Im Parteiprogramm der SPD wird das Thema Medienkompetenz in 276 Zeichen abgehandelt. Wenn wir über das Internet reden, mögen wir dem Sozialdemokraten Stöckel wie „Hohepriester“ vorkommen. Aber wenigstens haben wir vor der Predigt unsere Hausaufgaben gemacht.

Ein populäres Missverständnis lautet, die Piratenpartei wolle das Urheberrecht abschaffen. Zwar streben wir eine Neugewichtung der Ansprüche von Urhebern, Gesellschaft und Verwertern an, und dabei wollen wir die Rechte der Nutzer stärken, indem wir nichtgewerbliches Kopieren uneingeschränkt erlauben. Die Schaffung von künstlichem Mangel aus rein wirtschaftlichen Interessen erscheint uns unmoralisch und die repressive Anwendung des Urheberrechts greift unverhältnismäßig stark in Bürgerrechte und die Privatsphäre ein. Diese Anpassung ist aber nicht gleichbedeutend mit der Abschaffung des Urheberrechts. Nach unserer Konzeption sollen die Urheberpersönlichkeitsrechte mindestens bis zum Tod des Urhebers und maximal bis zehn Jahre nach dessen Tod gelten. Auch wenn es auf den ersten Blick naheliegend scheint, dass eine nichtgewerblich schrankenlose Kopiererlaubnis zu monetären Verlusten für die Urheber führt, konnte ein solcher Zusammenhang bisher noch nicht schlüssig belegt werden. Einige Untersuchungen weisen sogar auf das Gegenteil hin.

Wer sich als „Pirat“ bezeichne, so schreibt Stöckel weiter, verrate viel über sein Selbstbild. Piraten seien Barbaren gewesen. Die von unserer schwedischen Schwesterpartei übernommene Selbstbezeichnung mag zunächst wirklich irritieren. Aber erstens bezieht sie sich nicht auf die historischen Figuren, sondern soll einen pejorativen Kampfbegriff umwerten, den Rechteverwerter für Tauschbörsennutzer verwenden. Es handelt sich also um ein klassisches Geusenwort. Zweitens verfügten karibische Piraten bereits über weitreichende demokratische Regeln, kannten Bordverfassungen, Gewaltenteilung, ja hatten auf ihren Schiffen sogar Krankenversicherungen. Zu der Zeit lebten die Landratten noch unter absolutistischer Herrschaft. Auch wenn wir eigentlich gar nicht an die Piraten von damals gedacht hatten: Einer Partei, die sich wie keine andere für mehr Demokratie, Teilhabe und für den Schutz von Verfassung und Gewaltenteilung einsetzt, steht dieser Name doch gar nicht so schlecht.

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