Mein Nachtleben als wirkaempfer.de

Wie ich einmal vergrämt zu Hause saß - und sich plötzlich die Wirklichkeit beschleunigte

Alles fängt am Freitagabend an. Am 10. Juni 2005. Um 18 Uhr 39. Ich sitze in meiner Küche und blättere verbittert den Pressespiegel des SPD-Parteivorstands durch. Im Hintergrund läuft im Radio ein Bericht über die fortschreitende Selbstzerfleischung der SPD, dann einer über Lafontaine und Gysi und ihre neue Sozialistische Einheitspartei – nur der Name ist irgendwie noch unklar. Immerhin kursieren Meldungen, denen zufolge ein paar Sozialdemokraten doch noch in der SPD bleiben wollen. Alles ganz super also.

Da klingelt das Telefon. Ein Informant raunt, es gebe da so einen Entwurf für einen Aufruf. Einige Genossen aus einigen Bundesländern hätten die Nase voll und wollten jetzt mit dem Wahlkämpfen anfangen. Und zwar – das ist die eigentliche Nachricht – für die SPD, gegen CDU, FDP und PDS/mL. Wohin die Sache denn gefaxt werden könne, man wolle ein paar gute Unterstützer gewinnen. Und außerdem: Das Ganze müsse schnell gehen, damit es noch in der BamS erwähnt werden könne.

Was der Anrufer nicht weiß: Mein heimisches „Büro“ ist ein Dachkammerkabuff von drei Quadratmetern. Mein Schreibtisch, mein Stuhl, mein Laptop. Und ein kaputter Drucker aus dem vorigen Jahrhundert. Aber kein Fax. Kurzes Murren am anderen Ende, dann kommt um 18 Uhr 44 der Aufrufentwurf per Funkmodem über meinen analogen Telefonanschluss. Zwei Handynummern sind dabei, der Text ist schon in seiner rohen Fassung genial.

Alle sind sofort begeistert: Ein Wahlmanifest in Kurzform! Drei Wochen vor dem offiziellen Text! Daraus ist mehr zu machen, eine Bewegung von der Basis her, etwas Neues, etwas Anderes. Niemand hat mehr Lust auf das zermürbende parteiinterne Gezergel. Der Wahlkampf beginnt jetzt. In den folgenden knapp 100 Tagen wollen wir beweisen, dass sich die Basis der SPD nicht unterkriegen lässt. Die Initiative soll über das Internet eine möglichst große Gemeinschaft von Menschen vereinen, die sich dafür einsetzen, die soziale Demokratie in Deutschland zu sichern und weiter zu entwickeln. Angelehnt an das Erfolgsrezept der amerikanischen Kampagne MoveOn.org wollen wir unsere Haltung unter die Leute tragen: Die Idee der sozialen Demokratie ist in Deutschland springlebendig!

Jubel in Südfrankreich und Budapest

Was wir jetzt brauchen, sind einige prominente Erstunterzeichner, damit wir an die Öffentlichkeit gehen können. Das klingt gut, aber wie bekommt man am Freitagabend Spitzenpolitiker der SPD ans Telefon, wenn ihre Büros längst nicht mehr besetzt sind und man ihre Nummern nicht hat? Eine Stellvertretende Parteivorsitzende erreichen wir in Südfrankreich, einen anderen Unterzeichner in Budapest. In NRW unterbricht ein Erstunterzeichner seine Doppelkopfrunde, ein Landesvorsitzender jubelt am Autotelefon über unsere Idee.

Die ersten Reaktionen machen Mut. Es läuft, die Leute wollen kämpfen. Schließlich geht es um die Zukunft der sozialen Demokratie in Deutschland. Es ist kurz vor zehn am Abend, jetzt geht es um ein paar sprachliche Überarbeitungen – das kann ein befreundeter Chefredakteur. Wir sind uns jetzt sicher: Der Aufruf hat das Potenzial für mehr. Wir brauchen eine Homepage auf der sich weitere Unterstützer eintragen können.

Um eine möglichst breite Unterstützung zu organisieren, muss das Ganze schon am Samstagabend stehen. Die Zeit drängt also. Um halb zwölf ist die passende Domain festgelegt – www.wirkaempfen.de soll sie heißen. Damit ist auch der Titel der Kampagne klar. Jetzt müssen uns Profis helfen, die Webdesigner der Firma Digramm also.

Kurz vor drei Uhr morgens. Wir können die ersten Grafikentwürfe diskutieren. Einer kurzen Nacht folgt ein früher Samstagmorgen. Wir führen viele Telefonate mit weiteren Erstunterzeichnern und organisieren die grafische Gestaltung des Slogans. Um sechs Uhr abends geht die erste Version von www.wirkaempfen.de online. Um 21 Uhr 45 stehen die ersten 18 Unterzeichnerinnen und Unterzeichner endgültig fest: Gute Leute, viele Bundesländer, alle Teile der Partei ...

„Worauf wir stolz sind“

Aus der samstagabendlichen Geburtstagsfeier machen wir kurzerhand eine Online-Unterzeichnerparty und fiebern ein wenig stolz den ersten 50 Unterzeichnern entgegen. Angesichts von fast 3.000 Menschen, die den Aufruf inzwischen unterzeichnet haben, können wir darüber heute fast lächeln. Aber aller Anfang ist schwer. So fallen die ersten Meldungen in der BamS, auf Bild-online und im Tagesspiegel noch eher knapp aus. Nach einer Pressekonferenz am Montagmittag, die auch der Mobilisierung in der Partei dient, feiern wir schon am Dienstagnachmittag den 500sten Unterzeichner, der sich aus London gemeldet hat.

Inzwischen bieten immer mehr Leute ihre Hilfe an. Am Freitag, genau eine Woche nach der Geburt der Initiative, geht die erste Staffel der Argumente „Worauf wir stolz sind“ online und jeder kann im Internet seine eigenen Ideen beitragen. Die große Beteiligung überrascht selbst uns, obwohl wir mittlerweile vollkommen infiziert sind von der wirkaempfen.de-Idee, für die wir unsere Freizeit opfern.

Auch Dagmar Frederic hat unterschrieben

Nach dem Start der zweiten Staffel mit Argumenten zum Thema „Wofür wir kämpfen“ am 22. Juni fiebern wir einem der ersten Höhepunkte der jungen Kampagne entgegen: Auf dem großen Sommerfest der Brandenburger SPD am Freitag sind wir mit einem riesigen Plakat vertreten und pünktlich dazu gibt es auch die ersten Motto-T-Shirts. Das ist gut für Ego und corporate spirit. Nicht nur Brandenburgs Ministerpräsident signiert das Plakat vor der versammelten Presse, sondern nach ihm viele andere SPD-Mitglieder und Sympathisanten. Auch die legendäre Dagmar Frederic und die Musiker von City sind dabei.

Am Sonntag darauf dann ein kleiner Durchbruch: Vor dem Treffen des SPD-Präsidiums, bei dem das Wahlmanifest diskutiert werden soll, unterzeichnet Ministerpräsident Kurt Beck Plakat und Aufruf. Ein wenig unvorbereitet und deshalb nervös soll ich für ARD und ZDF die Idee der Kampagne erklären. Umso größer ist unsere Freude, als heute-journal und Tagesthemen über uns berichten – und die Zahl der Unterzeichner sofort in die Höhe schnellt. Der Kampf geht weiter!

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