Magenbitter nach der Tortenschlacht

Meinhard Miegel beschreibt prägnant die tiefe Krise einer Gesellschaft, die sich der Realität verweigert. Nur seine Vorschläge kommen über Hans-Olaf-Henkel-Niveau nicht hinaus

Sie habe das Buch nicht weitergelesen, sagt mir eine Bekannte, die ich nach ihrem Eindruck gefragt hatte. Es stimme sie so depressiv. Wohl wahr. Meinhard Miegels Buch Die deformierte Gesellschaft: Wie die Deutschen ihre Realität verdrängen kommt alles andere als fröhlich daher. Der Sozialforscher, ehemaliger Leiter der Hauptabteilung "Politik, Infor-mation und Dokumentation" der CDU-Bundesgeschäftsstelle, heute Leiter des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft, schreibt über den Bedarf an gründlichen Reformen in Deutschland.


Miegels Ausgangspunkt ist die "Demographische Zeitbombe", die in den Sozialsystemen ticke. Seine These: In den vergangenen drei Jahrzehnten hat Deutschland die Grundlagen seines Wohlstandes nicht gestärkt, sondern geschwächt. Die Fehler, die gemacht worden seien, ließen sich in wenigen Stichwörtern fassen: zu wenige Geburten, zu wenig Arbeit, zu viele und zu hohe Sozialleistungen, zu viel Gewerkschaftseinfluss. Wissen und Kapital seien als Basis des Erfolges vernachlässigt und das Unternehmertum zu gering geschätzt worden. Zahlengesättigt und stringent legt Miegel dar, weshalb die Sozialversicherungssysteme ebenso wie der Arbeitsmarkt dringend umgebaut werden müssten.


Tatsächlich, was Miegel im ersten Teil seines Buches zur demographischen Entwicklung schreibt, ist nicht oder kaum noch verhandelbar. Die deutsche Bevölkerung schrumpft, deshalb werden die Schultern der kommenden Generationen erstmals seit langem schmaler sein als die der vorhergehenden. Ihnen kann nicht mehr einfach das Problembündel aufgebürdet werden, das man heute nicht zu lösen im Stande ist. Um in einer zahlenmäßig schrumpfenden und biologisch alternden Gesellschaft Lebensqualität nach heutigen Vorstellungen nachhaltig zu sichern, müssen Hypotheken abgetragen werden - bei den Schulden, den Sozialversicherungen, der Bildung.


In die Faktendarstellung mischt sich erkennbar Freude, wenn Miegel einige Illusionsballone platzen lässt. So zum Beispiel denjenigen, dass der heutige Wohlstand das Ergebnis eigener Tüchtigkeit sei. Nein, die Arbeit und das Wissen der Gründergenerationen sind es gewesen. Und heute bestimmt der Kapitaleinsatz die Effizienz der Arbeitsplätze. Noch eine Illusion geplatzt. Wirtschaftswachstum als Fe-tisch der Hoffnung auf bessere Zeiten? Ein Irrglaube, der für die Probleme auf dem Arbeitsmarkt keine realistischen Lösungen bietet; Miegel rechnet es vor. Und wieder macht es plopp.

Und Schuld daran ist (nicht nur) die SPD

Wer nun meint, Miegel kritisiere nur Sozialdemo-kraten, der lese die Äußerungen über die Einwanderungs-Nichtpolitik der letzten Jahrzehnte - eine Kritik, die sich zwangsläufig an die Union richten muss. Seine Kritik an allen Varianten der "Rente ab 60" lässt an Deutlichkeit hinsichtlich 16 Jahren unionsverantworteter Sozialpolitik nichts zu wünschen übrig. Allerdings hätte eine sozialdemokratische Regierung es vermutlich nicht anders gehalten.


Eine der elementaren Lehren Miegels lautet: Jede Lösung hat ihren Preis. Eine zweite: Jeder Entwicklungspfad für die deutsche Gesellschaft ist denkbar, wenn die Konsequenzen, die funktionalen und die weniger funktionalen, mit bedacht werden. Miegel rechnet es vor am Beispiel "Zuwanderung", bei dem zuerst die Themen Integrationsfähigkeit und -bereitschaft auf die Agenda kommen. Nur am Rande ist anzumerken, dass er die bereits existierenden und die im Falle verstärkter Zuwanderung noch bevorstehenden Schwierigkeiten mit der Inbrunst des Konservativen aufzählt. Dazu später mehr.


Insgesamt zeichnet Miegel von Deutschland das Bild einer Gesellschaft, die sich der Realität beharrlich verweigert. Nur zu oft hat er einfach Recht. Vieles war vorhersehbar: Der Pillenknick war ein geflügeltes Wort der siebziger, nicht der neunziger Jahre. Miegel weist auch auf das folgenreiche Miss-verständnis hin, der Generationenvertrag bestehe nur aus dem Einzahlen in die Gesetzliche Rentenver-sicherung - und nicht auch aus dem Aufziehen neuer Beitragszahler. "Kinder kriegen die Leute immer" diesen folgenschweren Irrtum von Konrad Adenauer zitiert der Autor immer wieder und geradezu genüsslich. Auch die Überhäufung des Faktors Arbeit mit gesamtgesellschaftlichen Aufgabenlasten - ein Fehler, der lange schon bekannt war. Jeder weiß es, hätte es wissen können. Dennoch wird durch Miegels Bild die dramatische Dimension der demographischen Krise erst wirklich deutlich.


Das alles wirkt wie ein Magenbitter nach der Tortenschlacht des Wahlkampfes, als monatelang reihum nur Süßigkeiten feilgeboten wurden. Es tut gut. Und doch stellen sich nach dem ersten wohligen Schütteln Fragen ein.

Mehr Kinder, weniger Selbstverwirklichung!

Denn welche Lösungen präsentiert Miegel? Auch seine Empfehlungen lassen sich in wenige plakative Botschaften kleiden: Mehr Kinder! (Man darf das auch lesen als: Weniger "Selbstverwirklichung"!) Mehr Kapitalbildung (auch für Arbeitnehmer)! Mehr Bildung mit noch mehr Elitebildung! Mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt! Mehr Wettbewerb! Kurzum, das Credo eines überzeugten Marktwirtschaftlers, wie es Hans-Olaf Henkel seit Jahren nicht anders zum Vortrag bringt.


Es sind alles keine neuen Wege, die Miegel propagiert, und mehr denn je darf man fragen, welches Lösungspotential sie bieten. Der Glaube, dass der Markt selbsttätig die intelligentesten und besten Problemlösungen findet, darf - nein: muss in Zweifel gezogen werden in einer Phase, da die Überreaktionen der Finanzmärkte gerade erst drauf und dran waren, die Realwirtschaft zum Stillstand zu bringen. In einer Phase, da die Bilanz- und sonstigen Skandale wie beim derzeit laufenden Enron-Prozess einige unappetitliche Phänomene selbst der Boomphase ans Licht bringen - Fehlentwicklungen, die übrigens auch bei der (von Miegel zu Recht propagierten) kapitalgedeckten Alterssicherung in den Vereinigten Staaten und anderswo schwere Schäden verursacht haben. Einer Phase, da man auf internationaler Ebene erleben musste, wie marktwirtschaftlicher Purismus manches Schwellenland ins Straucheln brachte.


Die Liste ließe sich fortsetzen. Die schärfsten, weil überzeugendsten Kritiker der Illusion von der Allmacht des Marktes waren immer die Wirtschaftswissenschaftler selbst. Die diesjährigen Nobelpreisträger für Wirtschaft, Kahnemann und Smith, haben mit ihrer Forschung die tief sitzende Irrationalität menschlichen Wirtschaftens untersucht - und bestätigt.


Es hätte das Bild abgerundet, hätte Miegel einen Blick auf die Branchen getan, in denen die völlige Marktfreiheit in Deutschland bereits heute Realität ist, wie beispielsweise in einem großen Teil der Kommunikationsbranche. Was hat es mit einem Mehr an Mündigkeit zu tun, wenn jede verbindliche Regelung zu Arbeitszeit und Mitsprache fehlt? Wenn sich Mitarbeiter in einer Friss-oder-stirb-Lage finden und die Zustände deshalb fast automatisch dem niedrigsten Niveau entgegen tendieren? Zu Recht kritisiert Miegel die bürokratische Überregulierung und das hohe Maß an Abstumpfung ihr gegenüber. Aber auch die Überantwortung der Verhältnisse an den Markt kann eine Form von Entmündigung bedeuten. Und mehr denn je muss man sich fragen: Mit welchem Recht? Zahlen benötigen keine Legitima-tion. Ein marktwirtschaftlich betriebener Umbau der Gesellschaft hingegen braucht eine sehr gute Begründung. In Miegels Argumentation fällt sie bei weitem nicht so stark aus wie seine Forderungen.

Lieber schmerzhaft als hedonistisch?

Es geht Miegel eben nicht nur um faktengesättigte Argumentation, sondern auch um die Beschreibung dessen, was er "deformiert" nennt - und was man mit "hedonistisch" sicher nicht ganz falsch übersetzt. Das ist die Lehre aus Miegels historischer Argumentation: Sein Vergleich mit dem neunzehnten Jahrhundert oder der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zeigt: Nie ging es uns so gut wie heute. Und es klingt bisweilen wie "zu gut". Aber wie stimmig ist die These, die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft sei faul und genusssüchtig gewesen? Und worin hätte die Alternative bestanden? Keiner westlichen Nation ist es gelungen, Wirtschaftswunder mit innerweltlicher Askese zu verbinden. Wer Marktwirtschaft sagt, muss auch Konsum und Genussorientierung sagen.


Den Anspruch, eine kritische Diagnose der Gesellschaft zu bieten, löst Miegel so nicht ein. Hätte er sie ernsthaft formulieren wollen, so hätte er einen tieferen, nicht ausschließlich zahlengeleiteten Blick in das Innere der Gesellschaft wagen müssen. Er hätte vielleicht im Sinne von Gerhard Schulze die "Erlebnisgesellschaft" als konstituierendes Element des heutigen Lebensstils entdeckt, dessen Konsumbedürfnisse auch eine Seite marktwirtschaftlicher Zustände sind. Dies aber hätte Miegels Buch die markante Note der Strafpredigt genommen, die sich in der Verwendung der Wörter "schmerzhaft" und "unbequem" so plastisch niederschlägt.


Miegels Distanz zur Lebenswirklichkeit zeigt sich an seinem geringen Interesse am Thema der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Kein Wort dazu, wie verheerend die derzeitige Lage für viele vormals berufstätige Frauen ist, die inzwischen Kinder haben. Hier wäre das Wort "unbequem" angebracht - als milde Untertreibung. Wer sich in dieser täglichen Zwickmühle zu behaupten versucht, wird sich in Miegels Beschreibung nicht wiedererkennen.


Stattdessen klingt (nicht nur) bei diesem Thema die These an, es mangele vor allem an Sinnstiftung. Doch das passt mit der Nüchternheit von Miegels ökonomischer Argumentation nicht zusammen. Es geht nicht um Verbesserungen, so der Eindruck, sondern ums Grundsätzliche. Miegels Forderungen betreffen eher charakterliche Eigenschaften als ökonomische Verhältnisse: Mehr Fleiß und Nüchternheit, mehr Bescheidenheit und Disziplin! Es ist letztlich das bekannte konservative Dilemma, das hier wieder einmal deutlich wird: dass die wirtschaftliche Dynamik der Marktwirtschaft durchaus dazu neigt, die eigenen Grundlagen zu unterhöhlen. Die Rückkehr zu traditionellen Tugenden als Ausweg aus diesem Dilemma - diese Perspektive verstärkt nur den Eindruck der Ratlosigkeit.


Miegels Buch besteht aus zwei Argumentationen, die sich gegenseitig ins Wort fallen: Es ist zupackend und gut, wo es Fakten sprechen lässt. Es ist fragwürdig und schlecht, wo sich Ressentiment und konservative Weltsicht Bahn brechen. Die Rückkehr zur Ignoranz im Angesicht der Fakten ist nach der Lektüre dieses Buches schwerlich möglich. Deshalb lohnt sich das Lesen allemal. Meinhard Miegel hat ein anregendes Buch geschrieben, das man empfehlen muss. Aber es präsentiert Wahrheiten, die keine Aussicht auf Mehrheiten haben. Man legt das Buch aus der Hand und ahnt, dass Antworten auf wesentliche Fragen noch ausstehen.

zurück zur Ausgabe