Linke Wünsche und Widersprüche

Wer regieren will, muss klare Entscheidungen treffen. Doch bei der Linkspartei sind noch viele Fragen offen

Mit der Nominierung von Martin Schulz zum Spitzenkandidaten der SPD hat sich die politische Dynamik einstweilen vom rechten Rand zurück in die politische Mitte verschoben. Die SPD hat damit die lähmende Post-Schröder-Müntefering-Ära hinter sich gelassen und ist zur ernsten Herausforderung für Angela Merkel und die Union geworden. Aber nicht nur für sie.

Was bedeutet das für die Linkspartei? Sie ist und bleibt eine sehr widersprüchliche Partei. Es wäre allerdings nicht das erste Mal in ihrer Geschichte, dass die Erwartungen, die Wählerinnen und Wähler der Partei entgegenbringen, deren innere Konflikte und Absichten überlagern und so dennoch zum Erfolg führen. Vier Aspekte könnten dabei für die Linkspartei ausschlaggebend sein.

Erstens: Das Kernthema der Linkspartei ist die soziale Gerechtigkeit. Armut und Armutsgefährdung, Einkommens- und Vermögensungleichheit, Steuer- und Abgabenungerechtigkeit sowie Steuervermeidung und Steuerflucht – das sind die Themen, die die Linkspartei skandalisierend in Szene setzt. Sahra Wagenknecht, die prominenteste, wenn auch eine der umstrittensten Figuren der Linken, steht wie niemand sonst in der Partei dafür: hart, kämpferisch, mediengewandt, mit ökonomischer Theorie – auch über Karl Marx hinaus – vertraut und dabei als Gesprächspartnerin weithin akzeptiert. Freilich: Immer dann, wenn es um neue Formen und Regularien der Wertschöpfung und um Aufstiegschancen für alle gehen sollte, rücken meist der monetäre Ausgleich zwischen oben und unten und die Kritik am Neoliberalismus ins Zentrum. Allein dessen Umkehr führt aber noch nicht zu einem funktionierenden, zukunftsträchtigen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell. Vor diesem Problem steht aber nicht nur die Linkspartei. Zwar gewinnt die Idee eines Inclusive Growth, eines inklusiven Wachstums, in den theoretischen Debatten in allen entwickelten Ländern an Einfluss – nicht aber in der realen Politik.

Zweitens: In den Augen vieler Menschen steht die Linkspartei für eine freiheitliche, tolerante, kreative und weltoffene Gesellschaft, die sich durch eine Vielfalt von Lebensweisen, Familienmodellen, Erwerbsmöglichkeiten und noch unerschlossenen Entwicklungswegen sowie einem pro-europäischen Kurs auszeichnet. Die Partei scheint sich ständig neu zu erfinden, das lässt darauf hoffen, dass sie offen für Neues und für seine soziale Gestaltbarkeit ist.

Mit ihrem Spitzenkandidaten Klaus Lederer, dem jetzigen Kultursenator, bestärkte die Berliner Linkspartei im vergangenen Herbst die Hoffnung, sie könne eine weltoffene und ermutigende Partei sein. Sahra Wagenknecht mit ihren demgegenüber eher engen, schematischen Vorstellungen vom Sozialstaat, vor allem aber mit ihren stets wiederkehrenden Äußerungen gegen den Euro und für eine Rückkehr zu mehr Nationalstaatlichkeit, spielt hier nur eine untergeordnete Rolle. Mit dieser tief gehenden strategischen Differenz muss sich die Linkspartei in diesem Herbst Martin Schulz, dem „Mr. Europa“, stellen, dessen Stärke schließlich vor allem darin liegt, dass man mit ihm ein starkes Gegengewicht zu Donald Trump und dem rechtspopulistischen Hype insgesamt wählen kann.

Wie sich die Linken selbst im Weg stehen

Drittens: Als 2015 eine große Zahl von Schutzsuchenden nach Deutschland kam, engagierten sich auch viele Mitglieder der Linkspartei in Willkommensinitiativen. Die große Mehrheit der Wähler der Linkspartei unterstützt die Aufnahme der Schutzsuchenden, setzt sich für Integration ein und reagiert empört auf Abschiebungen sowie handgreifliche oder verbale Übergriffe auf Flüchtlinge. Der Kontakt zu Flüchtlingen, die Auseinandersetzung mit ihren Lebensgeschichten und ihren Fluchtgründen führen dazu, dass viele Bürger die Kriegsregionen in unserer Nachbarschaft bewusster wahrnehmen. Waffenlieferungen in diese Länder und auch Abschiebungen stoßen auf Ablehnung. Die Linkspartei, die sich als die „Friedenspartei“ versteht, spricht vielen Menschen aus dem Herzen.

Aber selbst hier steht sich die Partei mit ihren Ambivalenzen und ihrer Unentschiedenheit selbst im Weg. Höchst irritierend sind beispielsweise die Grenzgängereien der Spitzenkandidatin Sahra Wagenknecht in der Debatte um eine Obergrenze für Flüchtlinge. Und auch bei anderen Themen fehlen der Linkspartei bisher pragmatische Antworten, etwa was ihre Haltung zum militärischen Schutz von Zivilisten, zur Unterstützung beim friedlichen Aufbau und zur Nato angeht.

Viertens: Wie die internationalen Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigen, erzielen Rechtspopulisten vor allem in bestimmten Regionen besonders große Erfolge. Das sind diejenigen Gebiete oder Quartiere, in denen die Menschen das Gefühl oder gar die Gewissheit haben, dass nicht nur sie selbst, sondern ihre gesamte regionale Lebenswelt vom Fortschritt in Wirtschaft, Arbeitsleben, Kultur und Gesellschaft abgehängt ist. Man sollte meinen, dass gerade eine Partei wie die Linkspartei, die ihre Wurzeln in Ostdeutschland hat, auf diese Herausforderung passende Antworten geben könnte. Tatsächlich gab es Ansätze, die vorhandenen regional- und strukturpolitischen Konzepte zu bündeln und aus ihrem ostdeutschen Erfahrungshintergrund herauszuführen.

Rot-rot-grün entfaltet keine positive Dynamik

Das fand innerhalb der Partei aber keinen Anklang. Zu tief sitzen die Traumata des ökonomischen Zusammenbruchs in den neunziger Jahren und der seither dominierenden administrativen Macht und gesellschaftlichen Deutungshoheit westdeutsch geprägter Netzwerke. Dazu kommt stets die versteckte Rücksicht auf ostdeutsche Traditionskompanien. Verstärkt wird das alles durch wissenschaftliche (aber auch mediale) Expertise, die ihre institutionelle wie finanzielle Absicherung daraus bezieht, dass sie vor allem die ökonomische Differenz zwischen Ost- und Westdeutschland als Thema am Leben erhält. Dass es inzwischen aber ganz ähnliche regionale Disparitäten auch innerhalb Westdeutschlands gibt und dass sich im Osten wirtschaftsstarke Regionen entwickelt haben, bleibt außen vor. Natürlich hat die Linkspartei die Transformationsverlierer im Osten im Blick – mittlerweile sieht sich aber auch im Westen der Republik eine vergleichbare Zahl von Menschen als Verlierer der Einheit. Vor allem die kulturelle und mentale Eigenart der Linken, die oft als nostalgisch und als die SED-Diktatur rechtfertigend empfunden wird, erzeugt eine nur schwer überwindliche Grenze zu jüngeren Generationen, aber auch zu potenziellen Wählergruppen im Westen Deutschlands.

Welche dieser Themen und Motive werden sich im Wahlkampf durchsetzen? Wofür werden die Wähler der Linkspartei im September tatsächlich ihre Stimme abgeben? Wohin es geht, ist offen und es gibt vielerlei Katalysatoren. Einer davon ist die Machtperspektive. Nach derzeitigem Stand braucht Martin Schulz für eine Kanzlerschaft zwei Koalitionspartner. Eine rot-rot-grüne Koalition gewinnt zwar an Zustimmung, entfaltet im Land aber keine positive Dynamik. Die Linkspartei fordert dafür zwar von der SPD bereits im Vorfeld allerlei ein, gleichzeitig gelingt es ihr allerdings nicht, die eigenen Ambivalenzen und ungeklärten Konflikten zu lösen. Doch wer regieren will, muss klare Entscheidungen treffen und durchhalten. Noch sind viele Fragen offen.

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