2017 beginnt jetzt

Deutschland drohen verlorene Jahre. Darum ist es so wichtig, dass die Kräfte diesseits der Union zügig auf die Höhe der Zeit kommen, die Unkultur der Abgrenzung überwinden, auf scheinradikale Posen verzichten und konzeptionell zusammenfinden

A m 22. September 2013 hat die bisherige Regierungskoali­tion die Bundestagswahlen verloren; der politische Liberalismus in fast allen seinen Spielarten hat keine parlamentarische Vertretung mehr, das bürgerliche Lager ist wegen der AfD gespalten.

Die bisherige Opposition hat die Wahlen gewonnen – wenn auch knapp. Der Wählerauftrag ist auf sie zugeschnitten. 51 Prozent der von Infratest dimap am Wahltag Befragten gaben an, die neue Regierung müsse sich vorrangig um sozialen Ausgleich bemühen. Maßgeblich für ihre Wahlentscheidung waren angemessene Löhne und Arbeitsbedingungen sowie eine gute Absicherung im Alter, sagten jeweils 57 Prozent. 45 beziehungsweise 43 Prozent trauten vor allem den Sozialdemokraten zu, für angemessene Löhne und soziale Gerechtigkeit zu sorgen – und nur 25 beziehungsweise 24 Prozent den Unionsparteien.

Die Regierungsbildung liegt dennoch bei der bisherigen Kanzlerin. Sie vertritt uns gut in der Welt, sagen 84 Prozent der Wählerinnen und Wähler. Sie macht nicht Parteipolitik, sondern Politik für das Land, finden 60 Prozent. Sie erscheint überparteilich und pragmatisch genug, um mit dem Wählerauftrag klarzukommen. Und vor allem erscheint sie mächtig genug – im Gegensatz zum gespaltenen linken Lager.

Im Ergebnis droht eine Politik auf gewundenen Pfaden und halben Wegen. Die gerade Allee blockiert scheinbar DIE LINKE, ohne die es nicht geht, mit der SPD und Grüne aber jetzt nicht können, weil sie noch nie mit ihr wollten. Und DIE LINKE ihrerseits wollte lange Zeit auch nicht mit SPD und Grünen.

Gewissenhafte Besinnung auf die Kernthemen

Im Herbst 2013 hat DIE LINKE ihre Zerreißproben und Existenzkrisen fürs Erste hinter sich gebracht. Sie hat vor dem Bundesparteitag im Juni 2012 in Göttingen in den Schlund der Hölle geblickt, seither jedoch auf den wildesten Populismus sowie ihren Gründungsheroen Oskar Lafontaine verzichtet, und sich unter neuer Führung gewissenhaft auf ihre Kernthemen besonnen – in Politik wie Kommunikation. Das Spitzentrio Gysi, Kipping und Riexinger hat im Wahlkampf geschickt die Option Rot-Rot-Grün bedient. Damit hat DIE LINKE als einzige Partei deutlich gemacht: Es gibt tatsächlich eine Alternative zu Merkel – machtpolitisch und inhaltlich.

Andererseits war auch für DIE LINKE die Sonderkonjunktur vorüber, die 2009 nach der Großen Koalition für die kleinen Parteien existierte. Ihr Stimmenanteil sank von 11,9 Prozent um 3,3 Punkte auf nun 8,6 Prozent (2005: 8,7 Prozent). „DIE LINKE verliert Stimmen gleichermaßen an SPD und AfD, fast ebenso stark an die Nichtwähler, in geringerem Maße an die Union und kaum an die Grünen“, bilanziert Horst Kahrs von der Rosa-Luxemburg-Stiftung. „Diese Verluste entsprechen Erfahrungen der Wählerwanderung aus den vorherigen Landtagswahlen.“

360 000 Wählerinnen und Wähler der LINKEN aus dem Jahr 2009 haben sich diesmal für die AfD entschieden. Das sind 27,8 Prozent aller Abwanderer, knapp 7,6 Prozent der Wählerschaft von 2009. Ein spürbarer Verlust – ein Stück weit jedoch auch Konsolidierung. Der kritische, aber klar pro-europäische Kurs im Wahlprogramm der LINKEN hat seine Bindewirkung bestätigt; der Flirt einiger, darunter Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht, mit AfD-nahen Positionen richtete sich an eine kleine Minderheit, ohne deren Abkehr stoppen zu können.

Im Osten ist DIE LINKE wieder erstarkt – weil sie sich bewusst einem Umstand gestellt hat: Die Zeit der transformationsbedingten ostdeutschen Selbstverständlichkeiten geht zu Ende. Und das in zweierlei Hinsicht.

Erstens: Ostdeutschland ist zwar immer noch die größte Ansammlung von gefährdeten, strukturschwachen Regionen in Deutschland – aber es ist nicht mehr insgesamt die größte geschlossene Krisenregion Deutschlands. Eigene Leistungszentren – wenn auch auf bescheidenem Niveau – sind im Entstehen, entwickeln Anziehungskraft und brechen das monoton-düstere Bild auf. Andererseits bilden sich mittlerweile auch im Westen gefährdete Regionen heraus, die nicht ihrem Schicksal überlassen werden wollen und dürfen. DIE LINKE hatte Erfahrungen und Ansätze für eine entsprechende Regional- und Strukturpolitik aufgearbeitet; im Wahlprogramm bündelte sich das in einem „Solidarpakt III für Krisenregionen in Ost und West“ zur sozial-ökologischen Strukturentwicklung ab 2019.

Zweitens: Nur noch eine Minderheit der Ostdeutschen sieht sich als „Deutsche(r) zweiter Klasse“. Laut dem Allensbach Institut ging der Wert um etwa 15 Prozentpunkte allein im letzten Jahrzehnt zurück, am deutlichsten zwischen 2002 und 2005 – also unter dem Eindruck der Ära Schröder-Müntefering. Seither gleichen sich auch die Bewertungen der Lebenslagen in Ost und West an. Arbeitslosigkeit und Transferabhängigkeit treffen auf bundesweit nahezu gleiche Wahrnehmungsmuster; Armutsgefährdung wird als genereller Trend des sozialen Wandels erlebt. Die Ost-West-Differenz weicht einer sozialen Differenz, die nicht mehr mit einer spezifischen Misere des Ostens verbunden wird. Die generellen Gefährdungen, die sich aus dem gesellschaftlichen Wandel ergeben, und ihre Bewältigung sind jedoch genau der Gründungsimpuls, der „Markenkern“, der in der zweiten Hälfte des letzten Jahrzehnts entstandenen bundesweiten Linkspartei.

Mitte der letzten Legislaturperiode spielten längerfristige Entwicklungen und politische Herausforderungen, die über das aktuelle Krisengeschehen hinausgehen, eine so wichtige Rolle, dass sich mehr und mehr Menschen zwei Parteien zuwandten, die mit den Basisprozessen der vierten industriellen Revolution besonders vertraut und verbunden sind: der ökologischen Frage und der Informations-Ökonomie. Die Grünen lagen im Frühjahr 2011 bei 23 Prozent, die Piraten bei bis zu 10 Prozent. Erst als die Grünen ihr Monopol auf die Energiewende wieder verloren hatten, als beide Parteien begannen, sich thematisch und organisatorisch zu verzetteln und als klar wurde, dass es für die mit ihnen verbundenen Themen keine Machtoption geben würde, dominierte wieder der Wunsch nach Sicherheit und mehr sozialem Ausgleich in Deutschland – als Schutz vor den europäischen Krisenprozessen.

Reformen für die beschleunigte Welt

Die politischen Auseinandersetzungen nach der Wahl spitzen sich nun auf Pro oder Contra gegenüber Steuererhöhungen zu. Das Ringen zwischen unionsgeführter Bundesregierung und sozialdemokratisch geführtem Bundesrat wird sich künftig auf die Reform des Föderalismus und die Neugestaltung des Länderfinanzausgleichs konzentrieren. Wofür die jeweils in Rede stehenden finanziellen Mittel eingesetzt werden, welche reformerischen Impulse gesetzt werden sollen, spielt jedoch kaum eine Rolle. Der „Soli“ soll vom „Solidarpakt III/Deutschlandpakt“ abgelöst werden und nur noch dem Schuldenabbau dienen.

Es drohen verlorene Jahre. Frank Schirrmacher aber weist in der FAZ vom 26.9.2013 („Was die SPD verschläft“) am Beispiel der Informations-Ökonomie zu Recht darauf hin, „was in der heutigen Welt exponenzieller Beschleunigung vier Jahre bedeuten“ – bis 2017 könne „ein gefühltes Jahrhundert vergangen (sein)“.

Dazu gibt es nur eine vernünftige Schlussfolgerung: 2017 beginnt heute. Wer auch immer mit Angela Merkel regieren und egal wer neben der LINKEN noch gegen diese Regierung opponieren wird – die Kräfte diesseits der Union müssen und können die Unkultur der Abgrenzung unter Gleichgesinnten, den unseligen Überbietungswettkampf mit tendenziell unrealistischen Forderungen, das selbstgenügsame Verharren in scheinradikalen, absoluten Positionen und die Fixierung auf die Vergangenheit überwinden. Sie müssen auf die Höhe der Zeit kommen und konzeptionell zusammenfinden. Jetzt.

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