Liberale Gedankenspiele



Die Moderatorin kündigte meinen Diskussionspartner Gerhard Schwarz als den letzten Neoliberalen Europas an, und das war er auch: Soziale Ungleichheit sei ein Ausdruck gesellschaftlicher Dynamik, ja selbst Chancengleichheit sei ein problematischer Begriff, denn um Chancengleichheit zu erzielen, seien Maßnahmen der Umverteilung notwendig. Jenseits eines rudimentären Programms zur Armutsbekämpfung solle sich der Staat aus Marktprozessen heraushalten.

Hinterher fragte ich mich, ob man heute wirklich noch darüber diskutieren muss, wie wünschenswert soziale Ungleichheit ist. Schließlich ist die rapide wachsende Kluft bei den Einkommen eines der wichtigsten sozialen Probleme unserer Zeit. In ihrem Buch Winner-Take-All Politics zeichnen die amerikanischen Politikwissenschaftler Paul Pierson und Jacob Hacker nach, wie amerikanische Wirtschaftsverbände durch systematisches Lobbying die Deregulierung der Finanzindustrie und der Arbeitsmärkte sowie Steuersenkungen für hohe Einkommen erreicht haben. Das Resultat: Die Erträge des Wirtschaftswachstums der vergangenen zwanzig Jahre flossen in den Vereinigten Staaten komplett an die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung. Das oberste Prozent der Haushalte allein erhielt sogar ein Drittel der zusätzlichen Wertschöpfung.

Statistiken belegen, dass die soziale Ungleichheit auch in Deutschland rasant wächst. Seit mehr als zwanzig Jahren stagnieren die realen Gehälter der deutschen Arbeitnehmer, obwohl das Bruttosozialprodukt beständig angestiegen ist. Während die Gewerkschaften Lohnzurückhaltung übten, um in den Betrieben Arbeitsplätze zu sichern, explodierten in den gleichen Unternehmen die Gehälter der Manager. Ganz zu schweigen davon, dass ein hoher Anteil der überdurchschnittlichen Gehälter in eben den Banken und Finanzinstitutionen verdient wird, die die Banken- und Schuldenkrise unmittelbar verursacht haben. Falsche Anreize in Vergütungssystemen und fehlende Regulierung führten zu ungebremster Risikobereitschaft, für deren Folgen jetzt alle Bürger geradestehen müssen. Außerdem wissen wir aus vier Jahrzehnten Sozialforschung, dass unter den OECD-Ländern die sozial gleicheren Gesellschaften nicht nur wirtschaftlich erfolgreich sind, sondern zugleich tendenziell bessere Bildungserfolge und weniger soziale Probleme aufweisen.

Die Veranstaltung fand in der Berliner Heinrich-Böll-Stiftung statt, die den Grünen nahe steht. Dass die Grünen beim Thema soziale Ungleichheit offensichtlich Diskussionsbedarf haben, das war die eigentlich interessante Beobachtung. Es gibt die politische Idee, der aus Globalisierung und Modernisierung resultierenden sozialen Dynamik mit einem (bedingten oder bedingungslosen) Grundeinkommen zu begegnen. Das Konzept des Grundeinkommens hat in fast allen Parteien Unterstützer, besonders jedoch bei den Liberalen, bei Teilen der CDU und der Linkspartei sowie bei den Grünen. Unter einer liberalen Flagge versprechen die Verfechter des Grundeinkommens die Befreiung des Einzelnen von der Bevormundung des Sozialstaats, zugleich würden jedoch der Versicherungsgedanke des Sozialsystems, Tarifparteien sowie öffentliche Dienstleistungen geschwächt – und damit die Ansprüche der Mittelschicht an die Dienstleistungen eines ausgebauten Sozialstaats. Das Grundeinkommen, wie auch die negative Einkommensteuer, nähme Arbeitgebern, die Geringqualifizierte beschäftigen, den Kostendruck. Infolgedessen blieben geringe Erwerbseinkommen niedrig. Die Schere der Markteinkommen würde sich weiter öffnen.

Diese Mischung aus liberaler Grundeinstellung und einer neuen Form des rudimentären Sozialstaats könnte für die Grünen eine interessante politische Option sein. Ein solches Konzept würde die Grünen von „alten“ sozialdemokratischen Vorstellungen abheben und sie sozialpolitisch näher in den liberalen Raum rücken, der nach dem Kollaps der FDP politisch offen ist. Entstehen könnte ein vordergründig linksliberales Konzept mit vielen Querverbindungen in Diskurse rechts der Mitte. Solche Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich nach der Veranstaltung die Schumannstraße entlang nach Hause ging.

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