Lehren aus dem Zwischenhoch

Im Wahljahr 2017 hat die SPD viele Menschen enttäuscht. Aber das bedeutet zugleich: Die Wähler richten immer noch Erwartungen an die Partei. Darauf lässt sich aufbauen

Nicht immer muss der Mensch – wie in der Weltraumfahrt – der Erdanziehung gänzlich entschwinden, um Schwerelosigkeit zu erreichen. Beim Parabelflug lässt man einen Düsenjet steil steigen, um sodann abrupt den Schub zu drosseln: In der kurzen Übergangsphase zum Sinkflug scheint dann die Schwerkraft überwunden.

Auch der Höhenflug der SPD im Jahr 2017 kann durch eine solche „Wurfparabel“ beschrieben werden. Auf die steilen Zugewinne nach der Nominierung von Martin Schulz als Kanzlerkandidat folgte eine Phase vermeintlicher Sorglosigkeit, die nicht lange währte. Der harte Boden empfing die Partei am 24. September mit dem schlechtesten Wahlergebnis der bundesdeutschen Geschichte, traditionelle Hochburgen im Ruhrgebiet nicht ausgenommen. Selbst die um knapp fünf Prozentpunkte gestiegene Wahlbeteiligung kam der Sozialdemokratie – wider alle Faustregeln der Wahlforschung – kaum zugute. Von den reaktivierten Wählern aus oftmals sozial prekären Gebieten profitierten stattdessen die Rechtspopulisten.

Dennoch sollte die gescheiterte Aufholjagd der SPD nicht voreilig zu den Akten der Wahlkampfarchive gelegt werden. Vielmehr birgt sie substanzielle Empirie für die künftige strategische Ausrichtung der Partei – genau wie echte Parabelflüge, die zur Vorbereitung erfolgreicher Weltraummissionen dienen.

Wie aus Hoffnung Ablehnung wurde

Zur Rekapitulation der Ereignisse: Der Sozialdemokratie war zu Jahresbeginn eine Explosion der Wählergunst von nie dagewesenem Ausmaß gelungen. In der (ungewichteten) Sonntagsfrage der Forschungsgruppe Wahlen verdoppelte sich ihr Stimmenanteil zwischen Januar und Februar von 21 auf 42 Prozent. Befunde der Meinungsforschung zeigen, dass dieser Zustrom sich zugleich aus linksbürgerlichen und einfacheren Milieus speiste. Die Wiederkehr einer glaubwürdigen Unterscheidbarkeit zwischen Sozialdemokratie und Konservativen führte zu steigender Politisierung und Polarisierung entlang des etablierten Parteienwettbewerbs, was überdies die AfD schwächte.

Die mit Martin Schulz verbundenen Hoffnungen auf die Renaissance einer selbstbewussten und prinzipientreuen Sozialdemokratie wurden jedoch nicht hinreichend schnell inhaltlich unterlegt. Konkrete Ankündigungen wurden – unter Verweis auf das unfertige Wahlprogramm – zu spärlich gesetzt. Im Forschungsgespräch mit Wählern waren alsbald erste Enttäuschung und Unzufriedenheit zu verzeichnen. Der anfängliche Schub verflüchtigte sich, die Schwebephase täuschte jedoch noch über das Defizit hinweg.

Sinkflug und Ende waren dann von wachsender Wählerfrustration über die nicht erwartungsgemäße Profilierung der Partei geprägt – die im Laufe des Wahlkampfs vorgebrachten Einzelvorschläge reichten offenkundig nicht aus. Laut Wahlberichterstattung von Infratest dimap gaben zuletzt 80 Prozent aller Befragten und 66 Prozent aller SPD-Wähler an, die SPD sage nicht genau, was sie konkret für mehr soziale Gerechtigkeit tun wolle. Hoffnung wandelte sich bestenfalls in Indifferenz, schlimmstenfalls in enttäuschte Ablehnung. Diese galt auch dem Kandidaten selbst, der zunächst als Träger einer programmatischen „Radikalisierung“ im besten Wortsinn verstanden worden war. Nicht zuletzt darum gelang es zudem der AfD, wieder verstärkt den Diskurs zu dominieren, wie das TV-Duell eindrucksvoll belegte.

Ecken und Kanten müssen kein Nachteil sein

Aus diesem Verlauf ergeben sich sechs zentrale Erkenntnisse für die Zukunft der deutschen Sozialdemokratie:

Erstens ist die Hegemonie einer zentristischen Catch-All-Partei, wie sie Merkels CDU darstellt, erkennbar nicht das Ideal großer Bevölkerungsteile. Unterhalb der vermeintlichen Entpolitisierung verbirgt sich vielmehr ein starkes Bedürfnis nach politischen Alternativen – gerade zwischen den Volksparteien. Dies gilt für die Europapolitik genauso wie für die Zukunft der sozialen Gerechtigkeit: die Sehnsucht nach klaren Gegenentwürfen zum überpragmatisch taktierenden Politikstil der Bundeskanzlerin ist offensichtlich. Die Union wird verwundbar, sobald dieser Wunsch glaubwürdig bedient wird.

Zweitens ist es deshalb strategisch nicht an der SPD, in der schon begrifflich schwer zu fassenden „Mitte“ des Spektrums mit der Union um Median-Wähler zu kämpfen. Dies soll explizit nicht bedeuten, dass die SPD in diesem Wählersegment chancenlos wäre: Hier geht es um die Frage des konzeptionellen Blickwinkels. Statt über wohlkalkulierte Incentives auf die Gewinnung der größtmöglichen Zahl individueller Wähler zu zielen, muss der stabile Aufbau eines klaren Profils im Vordergrund stehen. Dabei stören weder Ecken, Kanten noch Wagnisse, solange die SPD ein kohärentes Gesamtangebot macht.

Drittens liegt der zu stärkende Markenkern unverändert auf dem Feld der sozialen Gerechtigkeit. Natürlich ist es für die Partei immer auch von Vorteil, in anderen Kompetenzbereichen, etwa der Wirtschaftspolitik, zur Union aufzuschließen. Von zentraler Bedeutung ist jedoch, dass die wahrgenommene Kompetenz der SPD im eigenen Identitätskern jene der Union ausreichend deutlich übertrifft, um insgesamt wieder ein Gleichgewicht von eindeutig verteilten Kompetenzen zu erreichen. Momentan fällt das Bild dagegen asymmetrisch aus. Während die Union die SPD in der ökonomischen Kompetenz mit 57 zu 17 Prozent klar deklassiert, fällt der relative Kompetenzvorsprung der SPD in Sachen soziale Gerechtigkeit deutlich niedriger aus: 38 zu 23 Prozent. Erst auf der Basis einer unzweifelhaften Verknüpfung von Sozialem und Sozialdemokratie kann im nächsten Schritt eine Modernisierungskampagne aufsatteln, welche die SPD als Innovations- und Fortschrittspartei positioniert.

Viertens muss dieses Gerechtigkeitsprofil dem sehr genauen Empfinden großer Bevölkerungsteile für Unverhältnismäßigkeiten im sozialen Gefüge der heutigen Bundesrepublik Rechnung tragen. Trotz der allgemein günstigen wirtschaftlichen Lage wünschen sich viele Bürgerinnen und Bürger die Korrektur der Entwicklung, dass Gewinne zunehmend auf privilegierte Gruppen konzentriert und Risiken auf die unteren und mittleren Einkommensschichten abgewälzt werden. Wie in den erfolgreichen Phasen des vergangenen Wahlkampfs praktiziert, müssen Lebensunsicherheiten konsequent angesprochen und unsolidarische Exzesse in klarer Sprache benannt werden.

Die SPD muss ihren Platz wieder einnehmen

Fünftens müssen konkrete Vorschläge zur Einlösung des Gerechtigkeitsversprechens nicht sukzessive als individuelle Verbesserungsmaßnahmen, sondern als ganzheitliches, radikales Politikkonzept für eine solidarische Gesellschaft kommuniziert werden. Anderenfalls gehen solche Vorschläge unter und führen nicht zur notwendigen, auch emotional und ideell unterlegten Mobilisierung.

Sechstens bezwingt die Sozialdemokratie – als historische Partei des Antifaschismus – die Rechtspopulisten nur dann, wenn sie selbst die Agenda bestimmt. Studien belegen, dass in großen Teilen der Gesellschaft das Gefühl politischer Alternativlosigkeit und mangelhafter politischer Responsivität maßgeblich den Populismus befördert. Eine rein negative Bekämpfung der AfD, womöglich unter Stigmatisierung ihrer Wähler, ist nach den Erfahrungen der vergangenen beiden Jahre nachweislich weder eine geeignete Methode, um das Potenzial der AfD einzuhegen, noch um bereits übergelaufene Wähler zurückzugewinnen.

Dies heißt jedoch ausdrücklich nicht, dass man sich AfD-Positionen angleichen sollte. Stattdessen geht es darum, das eigene pro-europäische und weltoffene Ideal in Verbindung mit einem großen solidarischen Angebot zu kommunizieren, an dem sich traditionellere Milieus orientieren können. Nur über einen solchen Brückenschlag lässt sich die nötige Nähe aufbauen, um in weiteren Schritten Ressentiments und Fremdenfeindlichkeit zu bearbeiten. Besonders eindrucksvoll hat dies jüngst die britische Labour Party demonstriert, der es auch mittels eines konsequent sozialen Profils gelang, in nordenglischen Arbeiterstädten wie Newcastle – unter fast vollständiger Zurückdrängung der rechtspopulistischen UKIP – bis zu 18 Prozentpunkte hinzuzugewinnen und alte Dominanz wiederherzustellen.

Wenngleich das aktuelle Wahlergebnis andere Schlüsse nahelegt, hat eine starke Sozialdemokratie in Deutschland nicht nur ihren Platz: Die Menschen erwarten auch, dass sie diesen Platz einnimmt und das politische Geschehen aktiv bestimmt. Dabei sollte die SPD mehr sein als das Korrektiv einer ewigen Kanzlerin: Gefragt ist eine deutlich abgegrenzte Alternative. Nur der große Wurf führt zu einem Höhenflug, der noch am Wahltag anhält.

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