Kreuzberg und Kristallweizen

Sven Regener, Sänger der Band Element of Crime, hat mit dem Buch Herr Lehmann einen Wenderoman geschrieben, in dem die Wende nicht vorkommt

"Ein glänzender Wenderoman aus westlicher Sicht ..." Frankfurter Allgemeine Zeitung - so prangt es von der hinteren Umschlagseite des knallroten Einbands, und sofort regen sich frohe Erwartungen. Ein politischer Roman? Beim schnellen Durchblättern stellen sich bei der Kapitelüberschrift "Wiedervereinigung" politische Assoziationen ein. Doch das ist Etikettenschwindel - die "Wiedervereinigung" zweier Bierzapfer, nach zwei Jahren erstmals wieder gemeinsam auf Schicht, lässt sich wohl kaum politisch interpretieren. Und, liebe FAZ, was ist denn wohl so glänzend am ignoranten Lotterleben des Herrn Lehmann, dessen Existenz mehr als 200 Seiten lang nicht den geringsten Bezug zu den Ereignissen hat, die um ihn herum, aber völlig außerhalb seiner Wahrnehmung stattfinden?

Bier zapfen, trinken, schlafen, Bier zapfen

Herr Lehmann ist einfach durch und durch unpolitisch. Nachts steht er in einer Kreuzberger Kneipe hinterm Tresen. Die Tage verbringt Herrn Lehmann damit, die Zeit bis zum nächsten Abend schlafend zu überbrücken und den Alkoholpegel zu senken. Wenn es da nicht noch zufällige Ereignisse und Begegnungen gäbe. Wie eine Billardkugel, die der Stoßrichtung des Queues folgt, wird Herr Lehmann durch den Alltag der Großstadt gestoßen, fast wahllos nimmt er die Richtung auf, die seine Umgebung vorgibt. Im Grunde unterscheidet sich Sven Regeners Herr Lehmann darin nicht wesentlich von den Figuren, die wir aus den Songs von Sven Regeners Band Element of Crime kennen. Die typische Element-of-Crime′sche Hauptfigur stolpert ebenfalls mehr oder weniger bewusst und mal mehr, mal weniger alkoholisiert durchs Leben. Auch die melancholische Grundstimmung als Markenzeichen der Band, die sich in keine Schublade stecken lassen will, findet sich hier durchgängig wieder. Wenigstens aber haben die kleinen Ereignisse, die das Leben von Herrn Lehmann bestimmen, von Zeit zu Zeit eine gewisse Komik. Ein Dreiecks-Telefonat am Sonntagmorgen trägt geradezu loriothafte Züge.

Das gibt′s sonst nur bei Drospa an der Kasse

Herr Lehmann heißt Herr Lehmann, weil Herr Lehmann bald dreißig wird. Und Herr Lehmann kann es überhaupt nicht leiden, wenn jemand Herr Lehmann zu ihm sagt und dann auch noch: "Das ist wirklich das Übelste, was es gibt. Das gibt′s sonst nur bei Drospa an der Kasse". (Warum, Herr Regener, nennen Sie Herrn Lehmann eigentlich Herr Lehmann, wenn doch sein bester Kumpel und Kollege Karl ihn einfach Frank nennt?) Die zaghaften Versuche Herrn Lehmanns, sich gegen seinen Namen zu erwehren, beachten seine Kollegen nicht weiter. Die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit entspringt dem latenten Unwillen, dem eigenen Leben eine eigene Richtung zu geben. Herr Lehmann ist einfach zufrieden damit, andere Menschen mit Bier zu beglücken. Alle Versuche von Katrin, der schönen Köchin, in ihm mehr zu sehen als nur einen, der allabendlich durstige Kehlen füllt, wehrt Herr Lehmann rigoros ab: "Was ist so schlimm daran, einfach nur hinterm Tresen zu stehen und das auch noch gerne zu tun?" Er ist nichts anderes und will auch nichts anderes sein.

Umso überraschender ist es da, wenn sich Herr Lehmann gelegentlich als Freizeit-Philosoph entpuppt und zu Diskursen über die Bedeutung des Wortes Lebensinhalt ausholt. Oder über die Frage, ob die Zeit für Betrunkene schneller oder langsamer läuft. Auch warum es bald aufhört zu regnen, wenn die Pfützen Blasen schlagen, interessiert ihn. Die Erklärung, die uns Herr Lehmann dafür gibt, befriedigt allerdings nicht. Dafür lernen wir: "Was wofür früh ist und was wofür spät ist, ist allein Gegenstand der gesellschaftlichen Verabredung". Welch erstaunliche Wortwahl für einen gelernten Speditionskaufmann, der sein Dasein als Bier-zapfer fristet!

Wie das Bier aus dem Zapfhahn plätschert das Leben von Herrn Lehmann vor sich hin. Ziellos, traumlos, bedeutungslos. Allein die Beziehungen zu seinen Kollegen, die für ihn die Freunde ersetzen, geben ihm einen Platz in dieser Gesellschaft. Erst als seine Eltern ihn besuchen, bekommen Ort und Zeit plötzlich doch noch eine Bedeutung. Berlin, Oktober 1989. Berlin, vielmehr Westberlin, als geographische Insel inmitten der DDR, die Grenze noch aufmerksam von Vopos bewacht.

Die Treppe runter nach Westberlin

Das erfährt Herr Lehmann am eigenen Leibe. Beim Versuch, im Auftrag seiner Mutter 500 Mark in den Osten zu schmuggeln, wird er am Bahnhof Friedrichstraße ertappt und im grellen Neonlicht der im Übrigen dunklen Kellerräume verhört. Herr Lehmann sieht sich spitzfindigen Willkür der Grenzbeamten ausgesetzt, die er allerdings ebenso spitzfindig beantwortet. Trotzdem ist Herr Lehmann am Ende um 500 Mark ärmer und kehrt unverrichteter Dinge in den Westen zurück. Ein Vopo begleitet ihn durch das Untergrund-Labyrinth: "Gehen Sie einfach weiter, die Treppe runter geht′s zur U-Bahn nach Westberlin." Eine Niederlage für Herrn Lehmann? Mag sein, aber keine von Bedeutung im Vergleich zu der Tragik, die in dieser Abschiedsszene steckt. Sehnsuchtsvoll bleibt der Grenzbeamte hinter der Passkontrolle zurück.

Herr Lehmann prallt auf die Historie

Der November nähert sich und der Leser ahnt, dass spätestens jetzt die Zeit gekommen ist, da Herr Lehmann unwiderruflich mit der Historie und den politischen Ereignissen zusammenprallen wird. Doch nach all der Ziellosigkeit trifft es den Leser - selbst schon leicht schwindlig vom orientierungslosen Umhertreiben - fast so unvorbereitet wie Herrn Lehmann selber. Gab es da in jenem Herbst doch mehr als Kreuzberger und Kristallweizen?

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