Komplizierte Normallage

Fast alle sind sich einig: Große Koalitionen stärken immer nur die Ränder. Doch es kann auch ganz anders kommen - wenn das neue Bündnis aus SPD und Union genau diejenigen Probleme löst, die überhaupt nur eine Große Koalition lösen kann

Erstmals seit dem Ende der sechziger Jahre wird Deutschland wieder von einer großen Koalition regiert werden. Auffällig ist, dass sich niemand aufregt. Das hat auch damit zu tun, dass niemand erkennen kann, wie eine Regierung anders gebildet werden könnte. Die Grünen sowie deren Wählerinnen und Wähler wissen, dass es für Rot-Grün nicht mehr gereicht hat. Und sie haben auch wahrgenommen, dass weder für eine Koalition aus SPD, FDP und Grünen noch für eine Koalition aus Union, FDP und Grünen eine Chance besteht. Im ersten Fall wegen des Widerstands der FDP, im zweiten aufgrund der inhaltlichen Distanz der Grünen zu CDU und FDP. Ob das immer so bleibt, ist nicht vorherzusehen, jetzt jedenfalls beschreibt das die Lage. Für die FDP sowie deren Wählerinnen und Wähler gilt fast das Gleiche. Sie haben verstanden, dass eine schwarz-gelbe Koalition nicht möglich ist und wollen einstweilen nicht an einer anderen Drei-Parteien-Konstellation beteiligt sein. Die PDS/ Linkspartei hat gleich erklärt, nicht in die Regierung gehen zu wollen. Das alles ist öffentlich und sorgfältig erörtert worden.

Auch die Wählerinnen und Wähler der Unionsparteien beziehungsweise der SPD haben die Verhandlungen über die Alternativen wahrgenommen und sind deshalb jedenfalls weitgehend davon überzeugt, dass ihre Parteien sich zu einer großen Koalition zusammenschließen sollen. Ein sichtbares Zeichen für diese Einschätzung ist, dass die Meinungsumfragen nach der Wahl bei der beliebten Sonntagsfrage fast dieselben Ergebnisse erzeugen, die am 18. September zustande kamen. Es spricht manches dafür, dass die Menschen trotz der Entwicklung seit der Wahl zu ihrer am Wahltag getroffenen Entscheidung stehen.

Unterschätzen sollte man ebenfalls nicht, dass besonders die Wähler der SPD wohl überwiegend zufrieden sind. Nicht nur die SPD wurde nicht abgewählt, sondern sozusagen auch ihre Wählerschaft nicht. Die von ihnen gewählte Partei ist ebenso stark wie die Unionsparteien in der Regierung vertreten, stellt sogar die meisten Fachminister, und die für sozialdemokratische Wähler besonders wichtigen Ressorts werden von Vertretern der SPD in Ministerämtern vertreten.

Bewältigen, was zu bewältigen ist

Ob es bei dieser Beurteilung bleiben wird, hängt natürlich sowohl vom Koalitionsvertrag als auch vom künftigen Regierungsalltag der Großen Koalition ab. Aber die Chancen sind nicht schlecht, dass die Regierung mit breiter Unterstützung der Menschen rechnen kann. Es muss nicht so ausgehen, dass die Große Koalition am Ende nur die kleinen Parteien stärkt, sondern es kann auch umgekehrt sein. Wichtig dafür wäre, dass diese Regierung spezifische Themen bewältigt, die angesichts der komplizierten Gesetzgebungsstrukturen in Deutschland sowie der wechselseitigen Abhängigkeiten von Bundestag und Bundesrat tatsächlich nur in dieser Konstellation bewältigt werden können.

Solche Themen lassen sich leicht beschreiben. Da ist zum einen die überfällige Reform der föderalen Ordnung selbst. Da ist weiter die Chance, das Vertrauen in die Zukunftsfähigkeit der traditionellen deutschen Sozialversicherungen langfristig wiederherzustellen. Rentenversicherung und Krankenversicherung haben eine weit über 100 Jahre alte Tradition. Sie sind entstanden in der Auseinandersetzung zwischen der Sozialdemokratischen Partei und Reichskanzler Bismarck. Auch heute gilt, dass sie das Leben vieler Menschen sichern und dabei auf Vertrauen aufbauen, das fast ein ganzes Leben lang investiert werden muss. Bei der Rentenversicherung wird dies am deutlichsten: Über Jahrzehnte müssen Beiträge gezahlt werden – und oft ebenfalls über mehrere Jahrzehnte sind mittlerweile Monat für Monat Renten zu erwarten.

Im Laufe des Lebens eines Menschen als Beitragszahler und später als Rentnerin oder Rentner wechseln öfter die Regierungen. Es wäre ein wichtiger Erfolg, wenn es einer Großen Koalition der beiden Volksparteien gelänge sicherzustellen, dass diese sozialen Institutionen durch Regierungswechsel nicht bedroht und gefährdet werden. Großen Beifall fände in der Öffentlichkeit daneben sicherlich auch eine Reform des Beamtenrechts. Die institutionelle Verankerung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums in der deutschen Verfassung ist eine Reformbremse auch für eine Modernisierung des Berufsbeamtentums. Wichtig wäre weiterhin, einen Weg zu finden, wie das nationale Anliegen besserer Bildung trotz der föderalen Ordnung Deutschlands gesamtstaatlich vorangebracht werden kann.

Die strukturelle Minderheit von Union und FDP

Auch wenn jetzt der Weg einer Großen Koalition beschritten wird, und die Perspektive auch darauf gerichtet sein muss, dass diese Koalition eine gesamte Legislaturperiode erfolgreich funktioniert, lohnt zugleich ein Blick auf das Wahlergebnis und einige der damit verbundenen Konsequenzen. Zunächst: CDU/CSU und FDP haben weder für ihre Kanzlerkandidatin noch für ihr politisches Programm eine Mehrheit gefunden. In nunmehr drei Wahlen nacheinander – 1998, 2002 und 2005 – haben Parteien diesseits von CDU/CSU und FDP die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigt. Die neben Union und FDP im Parlament vertretenen Parteien kamen 1998 auf 52,7 Prozent, 2002 auf 51,1 Prozent und 2005 erneut auf 51,1 Prozent der Wählerstimmen.

Das bedeutet, dass es im Parlament rechts der SPD keine Mehrheiten gibt. Aus der strukturellen Mehrheit von CDU/CSU und FDP in der westdeutschen Republik ist im vereinten Deutschland eine strukturelle Minderheitslage geworden. Zwar sind auch unter solchen Gegebenheiten schwarz-gelbe Wahlerfolge möglich. Die Bedingungen dafür sind aber aus der Perspektive der Union heute so schwierig, wie sie es einst für die Sozialdemokraten waren – denen trotzdem immerhin von 1969 bis 1982 das gemeinsame Regieren mit einer sozialliberal ausgerichteten FDP gelang.

Wofür es in Deutschland keine Mehrheit gibt

Nach der Hitze des Wahlgefechtes ist nun eine nüchterne Analyse angebracht. Deshalb diese trockenen Hinweise: Es gibt keine Mehrheit für das politische Programm von CDU/CSU und FDP – im Parlament nicht und in der Bevölkerung auch nicht. Es gibt keine Mehrheit für die Idee der FDP, die Gesetzliche Krankenversicherung abzuschaffen und alle Menschen privat zu versichern. Es gibt keine Mehrheit für die Idee der Kopfpauschale (oder Gesundheitsprämie) von CDU/CSU. Es gibt keine Mehrheit im Deutschen Bundestag und in der deutschen Bevölkerung für eine Lockerung des Kündigungsschutzes oder für die Beeinträchtigung der Tarifautonomie durch gesetzlich forcierte betriebliche Bündnisse für Arbeit. Es gibt keine Mehrheit für eine Einschränkung der Unternehmensmitbestimmung. Es gibt keine Mehrheit für eine Absenkung des Spitzensteuersatzes, weder auf 39 noch auf 35 oder gar auf 25 Prozent. Es gibt keine Mehrheit für den Wiedereinstieg in die Atomenergie. Es gibt keine Mehrheit für den Verzicht auf die Förderung erneuerbarer Energien. Es gibt auch keine Mehrheit für einen Ausstieg aus der Ausbildungsförderung und ihre Ersetzung durch Bankkredite. Es gibt keine Mehrheit für eine Reduzierung des Mieterschutzes. Es gibt keine Mehrheit für eine Beendigung der liberalen Modernisierung des Zusammenlebens in Deutschland, angefangen beim Lebenspartnerschaftsgesetz bis hin zum Staatsangehörigkeits- und Zuwanderungsgesetz. Und es gibt keine Mehrheit für eine Regierung, die den bisherigen außenpolitischen Kurs der rot-grünen Bundesregierung verlassen will.

Konzepte statt Zapping

Der fehlenden parlamentarischen Mehrheit für die politischen Konzepte von CDU/CSU und FDP entspricht eine fehlende Mehrheit in der Bevölkerung. Es ist das Ergebnis der dramatisch zugespitzten Wahlkampfsituation, dass sich die Menschen nicht mehr nur mit den Beschwerlichkeiten des Reformprozesses der rot-grünen Bundesregierung auseinander gesetzt, sondern die Reformen im Lichte der Alternativen abgewogen haben. Die Chance von CDU/CSU und FDP im Wahlkampf hätte darin gelegen, darauf zu setzen, dass sich die Menschen – ähnlich wie abends beim Zappen im Fernsehen – ohne auf Details zu schauen nach sieben Jahren für ein anderes Programm entscheiden würden. Weil aber politische Konzepte diskutiert wurden, weil es um Mehrwertsteuererhöhung und Kirchhofschen Spitzensteuersatz ging, ist einer großen Zahl der Wähler klar geworden, dass im Falle eines Regierungswechsels nichts besser würde. Vor dem Wahlkampf hatten mancher Rentner und manche Rentnerin vielleicht gehofft, im Falle eines Regierungswechsels gebe es höhere Rentensteigerungen. Nach der Diskussion über die Mehrwertsteuererhöhung war das vorbei.

Trotzdem ist Rot-Rot-Grün keine Perspektive für eine Regierungsbildung. Es geht da nicht nur um Personen. Es geht auch um politische Programme, die unverantwortlich sind im Hinblick auf die Herausforderungen an den Sozialstaat, die Wirtschaftskraft und die internationale Stellung Deutschlands. Mitte-links kann deshalb ohne CDU/CSU oder FDP nur regieren, wenn Sozialdemokraten und Grüne zusammen eine Mehrheit gegen das gesamte übrige Parlament haben. So war es 1998 mit dem überragenden Wahlergebnis für die SPD. So war es 2002 angesichts des Scheiterns der PDS an der Fünf-Prozent-Hürde.

Jetzt ist es zu der komplizierteren Normallage eines möglicherweise längerfristigen Fünf-Parteien-Systems im Deutschen Bundestag gekommen. Ob sich die PDS/Linkspartei dauerhaft im Parteiensystem etablieren kann, entscheiden letztlich die Wählerinnen und Wähler. Solange es der PDS/Linkspartei aber gelingt, erfolgreich in den Bundestag zu ziehen, sind Parlamentszusammensetzungen wie die aktuelle wahrscheinlicher als solche, wie sie sich 1998 und 2002 ergeben hatten.

Kein Überbietungswettbewerb mit der PDS

Die parlamentarische Etablierung der PDS/Linkspartei muss übrigens niemanden schrecken. Für die SPD kann die neue Konstellation sogar eine Chance sein. Wenn sie sich als pragmatische, regierungsfähige, handlungskompetente Partei profiliert, wird ihr dies Zuspruch einbringen und die Akzeptanz bei vielen Wählerinnen und Wählern in der politischen Mitte der Republik erhöhen. Die Sozialdemokraten müssen diese Fähigkeit im Wettbewerb mit CDU/CSU und FDP nicht mehr immer neu beweisen, wenn ihnen genau diese Fähigkeit von links außen stets vorgeworfen wird. Deshalb sollte die SPD auch niemals versuchen, in einen Überbietungswettbewerb mit maßlosen Forderungen einzutreten.

Im veränderten Fünf-Fraktionen-System, das vielleicht für ein oder zwei Jahrzehnte die Geschicke unseres Landes mitbestimmt, kommt der Sozialdemokratischen Partei die zentrale Rolle zu. Denn: Sie ist koalitionsfähig sowohl mit den Unionsparteien als auch mit der FDP und mit den Grünen. Eine Mehrheit aus CDU/CSU und FDP hingegen ist sehr unwahrscheinlich.

Kanzlerparteien können auch mal klein sein

Diese veränderte Lage wird auch mit neuen Erfahrungen verbunden sein. Eine davon muss angesichts der jüngsten Debatte über die Regierungsbildung hier erwähnt werden. Es ist sehr wohl möglich, dass nicht die stärkste Fraktion den Kanzler stellt. Dies ist übrigens ohnehin nur eine Besonderheit der westdeutschen Nachkriegsrepublik; selbst die deutsche Demokratiegeschichte kennt anderes: In der Weimarer Republik standen oft Kanzler der Reichsregierung vor, deren Fraktion kleiner war als ihr Koalitionspartner. Gustav Stresemann beispielsweise führte eine Große Koalition aus seiner deutlich kleineren Deutschen Volkspartei und der SPD; Joseph Wirth und Wilhelm Marx waren Regierungschefs, obwohl ihre Zentrumspartei nicht die stärkste Kraft war. Und in der Bundesrepublik stützten sich die sozialdemokratischen Kanzler Brandt und Schmidt meist auf eine Fraktion, die kleiner war als jene der CDU/CSU. Wenn sich Deutschland längerfristig an ein Fünf-Parteien-System zu gewöhnen hat, dann muss es sich auch von der Vorstellung verabschieden, dass stets die stärkste Fraktion einer Koalition den Kanzler stellen muss.

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