Kommt jetzt die "Generation Kassel"?

Der Soziologe Heinz Bude ist nett. Aber verdrossen. Die von ihm erfundene "Generation Berlin" entwickelt sich nicht zu seiner Zufriedenheit

Das wirklich Sympathische an Heinz Bude, dem Hamburger Soziologen mit Berliner Wohnsitz (und aktuellem Ruf an die Universität Kassel) ist die Tatsache, dass er letzten Endes und trotz allem doch immer Sozialdemokrat bleibt.


Seine Rede mag manchmal dunkel sein ("die Stadt [Berlin] wird ins Symbol einer Zukunft aus Vergangenheit gestürzt, das an seiner Gegenwart vorbeigeht"), und seine Überlegungen zu den "neuen Überflüssigen", zur historischen Abtrennung der Berliner Republik vom Dritten Reich durch den Puffer der Bonner Republik oder zur künftigen Rolle der Hauptstadt mögen bisweilen, jedenfalls für Linksliberale, ein wenig bedrohlich klingen. Eigentlich aber möchte Bude nicht, dass es irgendwelchen Überflüssigen schlecht geht; er will keine blöden Nazi-Vergangenheits-Ignoranten herumlaufen haben und wohl auch nicht wirklich, dass Berlin aufhört, "zu harmlos für den neuen Kapitalismus" zu sein.


Gleichwohl gibt er sich alle Mühe, seine eigene Harmlosigkeit zu verschleiern; vielleicht, um die Mitglieder der Generation Berlin aufzurütteln. Diese sollten den Achtundsechzigern endlich die Definitionsmacht im gesellschaftlichen Diskurs entwinden und neue Themen festlegen - "jenseits von Formschwäche und Identitätswahn". So jedenfalls hatte Bude, der die Generation Berlin erfunden, oder vielleicht eher: frühzeitig geschaut hat, noch vor ein paar Jahren seine Erwartungen an jene Leute formuliert, die so alt wie er selbst oder jünger sind - und einmal die Geschichte der Berliner Republik lenken wollen.

Im Kaffeehaus waren noch Plätze frei

Diese ihnen aufgetragene Entwicklungsaufgabe schien berechtigt und bewältigbar zu sein - schließlich war nach 1989 endlich der Realsozialismus so gründlich diskreditiert, dass die Älteren die Jüngeren jedenfalls nicht mehr mit der Diskursherrschaft über abstruse sozialistische Theoriemodelle unterdrücken konnten. Die Wiedervereinigung verlangte nach einer Aktualisierung des nationalen Selbstverständnisses - ohne dass man dabei, wie es die Achtundsechziger natürlich zuverlässig taten, gleich Größenwahn und Rückfall in die Barbarei befürchten musste. Und Berlin als neue Hauptstadt bot einfach eine wunderbare Projektionsfläche für die Hoffnungen und Träume junger Leute; es stand für Aufbruch und Neuanfang; für die friedliche Koexistenz von Metropolenprotz und provinzieller Bodenständigkeit; für den ganz realen Triumph der Demokratie über den Totalitarismus. Alle Zugezogenen hatten im wiedervereinigten Hauptstadtberlin gleiche Ausgangsbedingungen: junge und alte Abgeordnete, Korrespondenten, Soziologen. In den Fraktionssitzungssälen und Kaffeehäusern gab es noch keine Stammplätze. Empirisch ließ sich durchaus ein Hauptstadtsog ausmachen, der junge Galeristen, Verleger und Theaterleute anzog - überhaupt alle, die ihre Rolle als gewichtige Intellektuelle mit einem Berliner Broterwerb verbinden konnten.

Die Hoffnungen der frühen Jahre

Gute Voraussetzungen also für einen neuen Definitionsversuch, wie man deutsch aber glücklich sein könnte. Und welche Probleme dieses Land eigentlich hat. Die soziale Realität, die es in der Hauptstadt zu besichtigen gab, so lautete die - heute muss man wohl zugeben: etwas naive - Feuilletonhoffnung der Gründerjahre, werde in der politisch-journalistischen Klasse den Blick für die Wirklichkeit schärfen: für soziale Gegensätze, für Verständigungsschwierigkeiten zwischen Ost und West, für Konflikte zwischen Einwanderern und Einwohnern. Auf diese Pointe läuft jetzt noch einmal ein Text von Heinz Bude in den Berliner Seiten der Frankfurter Allgemeinen vom 16. März 2001 hinaus, mit dem er sich im Übrigen auf eigentümliche Weise von seiner Generation Berlin distanziert, ja eigentlich ihre Auflösung erklärt, bevor man sie so recht hat wahrnehmen können: Berlin sei, siehe oben, zu harmlos für die Herausforderungen des neuen Kapitalismus. Wer in Ruhe etwas lernen und sich relativ günstig vergnügen wolle, komme hierher, "aber wer noch etwas vorhat, sucht Orte auf, wo die Musik der Gegenwart ohne vorfinanzierte ‚Strukturanpassung′ gespielt wird", schreibt Bude. Das mag so sein, und vielleicht ist er dem trägen Zeitgeist wieder weit voraus. Womöglich stimmt es aber auch nicht.


In der Provinz jedenfalls entdecken sie gerade jetzt, nach elf Jahren, dass die Hauptstadt neuerdings Berlin heißt, dass sie groß und aufregend ist und dass man dorthin auch fahren kann - natürlich an den Kudamm. Der Mythos "Mitte" hat die westdeutschen Zahnärzte bisher gar nicht erreicht. Da mutet es irgendwie unfair an, "der Bevölkerung" ihr neues Metropolensymbol sofort wieder wegzuschreiben. Doch das ist nur ein Randaspekt.


Die Frage war ja, ob sich eine neue Definitionsmacht-Generation etablieren konnte, und da lautet die Antwort im Augenblick wohl eindeutig: nein. Es gibt einzelne Versuche, vor allem journalistische Projekte, zu denen sich gewiss auch, in aller Bescheidenheit, diese Zeitschrift zählen kann. Auch das Netzwerk der jungen SPD-Abgeordneten gehört in diesen Kontext. Allerdings: Viel mehr als dass es sie gibt, dass sie sozusagen eine politische Möglichkeit verkörpern und dass allein diese Möglichkeit die politisch Etablierten in der SPD provoziert, haben sie noch nicht vorzuweisen. Einzelne tragfähige Stimmen: ja. Aber auch viel parteikonformes Geschwurbel, das in Bonn kein bisschen anders geklungen haben würde. Und ein kohärentes Weltbild, ein zusammenhängender politischer Entwurf: eindeutig nein. Das gilt freilich weit über den SPD-Zusammenhang hinaus: Auch die Generation Golf ist ja keine adäquate Antwort auf die Frage, wie die Welt der Nachachtundsechziger aussehen könnte und müsste.

An der Macht die tollen Kerle

Berlins Neuanfangswert wird, das konnte man vor ein paar Jahren offenbar leicht unterschätzen, relativiert durch die Tatsache, dass die Achtundsechziger zwar vor 1998 schon Diskussionen verstopft hatten - dass sie aber erst seit 1998 wirklich an der Macht sind, von Gerhard Schröder bis Joscha Schmierer. Wie wenig sie selbst und ihre Altersgenossen in der Lage sind, die eigene Geschichte, vor allem aber die Nebenkosten der viel gepriesenen Emanzipationsgewinne, kritisch zu reflektieren, hat die jüngste Debatte um Joschka Fischer gezeigt: Nostalgie auf der ganzen Linie, Was-waren-wir-für-tolle-Kerle-Romantik.

Die Modernisierer folgen dem Kanzler

Die Opposition setzt dem nichts Ernsthaftes entgegen: Die Merkel-März-CDU bemüht sich vielmehr geradezu verzweifelt darum, exakt die gleiche Modernität vorzuführen, von der sie vermutet, dass sie Schröder gutgeschrieben werde. Und wo es tatsächlich um heikle, also wichtige Fragen wie die Einwanderung oder den Umgang mit dem Rechtsextremismus geht, verharrt sie in einer ganz vordergründigen Pose des Auftrumpfens. Die SPD hat mit ihrem scheinbar mühelosen Übergang vom Traditions-Achtundsechzigertum zur neuen technokratischen Modernität in Gestalten wie Franz Müntefering oder Wolfgang Clement eine Menge kritisches Potential im eigenen Lager quasi im Vorgriff eingesammelt: Modernisierungsgerede wäre als Weg zur Erlangung der Diskursherrschaft ja denkbar gewesen. Doch wie es aussieht, sind die Generation-Berlin-fähigen "Modernisierer" wie Ute Vogt oder Hans-Martin Bury heute allesamt brave Kanzlergefolgsleute.


Dieses Fehlen neuer kritischer Stimmen, die der "Alles-wird-gut-neue-Computer-neue-Mitte"-Verheißung widersprechen, könnte man in der Tat beklagen. Unbearbeitet sind nach wie vor zentrale Fragen, die über die Qualität unseres künftigen Zusammenlebens entscheiden werden: Was bedeutet die demografische Entwicklung wirklich, im Alltag, für unser Land? Mehr Ein-wanderung, lautet die wohlfeile Antwort auf dieses Problem, doch: Was heißt das? Wo wird über die massiven Schwierigkeiten, die es schon heute zwischen Deutschen und Ausländern gibt, offen geredet - mit dem Ziel, sie tatsächlich auszuräumen? Wie ehrlich ist der gängige Integrationsbegriff der Linken?


Ein anderes Beispiel: Die Misere des Bildungswesens lässt sich weder mit Computermangel noch damit erklären, dass den Kindern in der Grundschule kein Englisch beigebracht wurde. Vielmehr zahlen wir heute den Preis für jahrelange Irrungen und Wirrungen im Zuge der "inneren Schulreform". Sie gehen weitgehend auf die Konten sozialdemokratischer Landesregierungen. Wer führt den (selbst-)kritischen Diskurs, um diesen Missständen ernsthaft abzuhelfen? Was hat die SPD, außer Anti-Drückeberger-Rhetorik, mit jenen vor, die aus eigenem Verschulden, durch die nachlassende Erziehungsfähigkeit der Gesellschaft, durch Begabungsdefizite und durch die Veränderungen des Arbeitsmarktes zu geregelter Beschäftigung nicht fähig sind? Mit den, in der Tat, "neuen Überflüssigen"? Wie realistisch ist eigentlich die stets beschworene "Vereinbarkeit von Familie und Beruf"? Ist sie sozialkostenneutral zu haben, oder ereilt uns in ihrem Gefolge eine Erziehungskatastrophe?

Filzkostüme aus dem Hinterhof

Sonderbarerweise ist es nicht ihre Sprachlosigkeit, die Bude an der Generation Berlin irre werden lässt: Nicht, dass sie ihre Aufgabe nicht erfüllte. Nein, Budes Verdruss scheint mehr in der Stadt selbst begründet zu liegen: So aufregend ist sie gar nicht, der Potsdamer Platz zwar "ein Ort des Massenkonsums, aber keine Agglomeration von Firmenzentralen mit weltweiten Kommandofunktionen". Irgendwie gibt es, laut Bude, in Berlin nicht genug richtige Industrie, um die "neuen Ideen" der Wissenselite in die Praxis umzusetzen. Um "modellfähig" zu werden, müsse die Stadt "sich als Ausdruck einer politischen Ökonomie begreifen, die aus Mobilität und Heterogenität ganz eigene Quellen der Wertschöpfung entwickelt". Das klingt ein wenig nach einer Bertelsmann-Stiftung-Broschüre, selbst wenn Bude den netten Einfall nachschiebt, Ort dieser "Berliner Komplexität" könne der "Hinterhof" sein, wo eine "Generation des experimentellen Kapitalismus" Boutiquen für on-demand genähte und online vertickte Designerkostüme aus Filz unterhält.


Wenn man das für die einzige verbliebene Aufgabe der Generation Berlin hielte, täte man tatsächlich gut daran, den Begriff schleunigst aufzugeben - er wäre dann ein Designstück von ähnlichem Nutzwert wie die Filzkostüme. Aber wahrscheinlich möchte Heinz Bude auch das nicht wirklich. Sein Buch zur Generation Berlin jedenfalls erscheint noch. Im Berliner Merve-Verlag. Für 16 Mark.

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