Kleines Lehrbuch der Entschleunigung

Alexander Gauland hat eine kluge Wertorientierungsfibel für Menschen geschrieben, die "konservativ" und "CDU" nicht für Synonyme halten

Der Bedarf an konservativer Selbstdeutung und Selbstfindung ist kein neues Phänomen. "Was ist konservativ?", lautete schon der Titel einer Artikelserie in der Zeitschrift Monat im Jahr 1962. Es beteiligten sich Golo Mann, Armin Mohler, Eugen Gerstenmaier und andere. Immer wenn die christlichen Demokraten nicht regieren in Deutschland, was in den Jahrzehnten seit 1945 eher die Ausnahme war, wächst in den sie umgebenden Milieus der Bedarf an Programmatischem und Grundsätzlichem. "Was ist konservativ?", das wurde auch wieder gefragt, als die CDU nach der Spendenaffäre in ihre tiefste Krise geriet. Seitdem sich die Union, wenn auch durch jüngste Erfolge bei den Landtagswahlen in Niedersachsen und Hessen und die fortwährend kläglichen Leistungen der rot-grünen Bundesregierung bis auf weiteres gestärkt, in der Opposition befindet, stehen die Konservativen in vielen tagespolitischen Diskussionen wiederum vor dieser Frage.


Aber wo liegt eigentlich das Problem? Zunächst soll ein Beispiel reichen: Muss eine konservative Partei bemüht sein, die Menschen vor den Folgen der Globalisierung zu schützen? Oder ist es konservativ, die Menschen davon zu überzeugen, sich pragmatisch den Veränderungen anzupassen, wie es CDU und CSU in der bundesrepublikanischen Geschichte regelmäßig getan haben? Eine sehr luzide und zugleich genaue Antwort gibt jetzt Alexander Gauland in seinem jüngsten Buch Anleitung zum Konservativ-sein. Gauland, einst Büroleiter Walter Wallmanns in Frankfurt, später unter Wallmann Staatssekretär in der Wiesbadener Staatskanzlei und heute Herausgeber der Märkischen Allgemeinen in Potsdam, gehört zu den führenden der nicht sehr zahlreichen konservativen Publizisten dieser Republik. "Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird man am ehesten konservativ sein, nicht unbedingt in der Absicht, die Interessen der Besitzenden zu schützen, sondern um Geschwindigkeiten der technischen und gesellschaftlichen Veränderungen zu drosseln. Stärker noch als Ungerechtigkeit quält uns das Tempo der Veränderung", zitiert Gauland den französischen Aphoristiker Garnier.

Wie Strauß den Konservativismus verriet

Damit ist das Leitmotiv des Buches bereits benannt. Schon in diesem Zitat steckt zugleich die Botschaft, die Alexander Gauland an den politisch organisierten Konservativismus in Deutschland aussendet. Es ist die fast flehentlich vorgebrachte Aufforderung an die Unionsparteien, die "Entschleunigung" zu ihrem Thema zu machen. Aber bevor Alexander Gauland in der Gegenwart ankommt, referiert er die heilvollen und die unheilvollen ideengeschichtlichen Grundlagen des Konservativismus. Er handelt von Edmund Burke, der als Romantiker das Althergebrachte schützen wollte; von der unheiligen Allianz des deutschen Konservativismus mit dem Nationalismus, die in der Harzburger Front endete; natürlich auch von der konservativen Kulturkritik in der Weimarer Republik, von Julius Langbehn, Paul de Lagarde und Oswald Spengler.


Für die Zeit nach 1945 beschreibt Alexander Gau-land dann sehr knapp und treffend, wie der von CDU und CSU repräsentierte politische Konservativismus immer weniger danach fragte, was zu bewahren und was der Veränderung preiszugeben sei. Gauland ist der Auffassung, dass die CDU diejenige Partei war, "die das Projekt der Moderne vollenden und die demokratische Industriegesellschaft in Deutschland befestigen sollte". Franz Josef Strauß′ immer wieder gern zitiertes Diktum, wonach derjenige konservativ sei, der an der Spitze des Fortschritts stehe, hält Alexander Gauland im Grunde für den Beginn des Verrats an der geistesgeschichtlichen Tradition des Konservativismus. "Die CDU schaute nur auf die Gewinner dieses Prozesses und wurde blind für die kulturellen Verluste die das Geschehen begleiten", schreibt Gauland und formuliert damit seine zentrale Kritik an der christlich-demokratischen Politik des vergangenen halben Jahrhunderts.


Auf diese Weise und aus diesem Geist haben sich die Konservativen in Deutschland nicht darum gekümmert, Entwicklungen aufzuhalten, die sie eigentlich hätten bremsen müssen. Erst spät entdeckten sie, dass die Bewahrung der Schöpfung ein wertkonservatives Anliegen sein muss; die Agrarpolitik etwa missverstanden sie deshalb über viele Jahrzehnte allein als Politik zur Modernisierung von Produk-tionsstrukturen zum Zwecke der Anpassung an die neuen Erfordernisse des Marktes. Katalysator dieser Entwicklung war die Auflösung des Bürgertums. Diese historische Entwicklung sowie der Umstand, dass ihr der Wandel zur überkonfessionellen Volkspartei gelang, mag die CDU in der Nachkriegsge-schichte äußerst erfolgreich gemacht haben. Aber jener ideelle Traditionsverlust, den Gaulands Buch so trefflich charakterisiert, ist heute zugleich der Grund für die fehlende Orientierungskraft dieser Partei.

Abschied von der Politik Helmut Kohls

Die deutsche Sozialdemokratie hat ihren programmatischen Kern bis zur Unkenntlichkeit abgeschliffen, weil sie Kind der sich entwickelnden Industrie-gesellschaft war, die es heute nicht mehr gibt. Die Christlichen Demokraten hingegen machen heute deshalb den Eindruck, keinen verlässlichen ideengeschichtlichen Vorrat mehr zu haben, weil sie um (fast) jeden Preis eine Kraft der Modernsierung und des Fortschrittsoptimismus sein wollten. "Doch an die Stelle der Verhaltensnormen und Tabus aus historischer Zeit tritt nichts Neues außer des alten anarchischen ‚anything goes‘. Doch eben das kann Gesellschaft nicht zusammenhalten", mahnt Gauland. Ist sein Satz richtig, demzufolge "der schonende Umgang mit Traditonen die vornehmste konservative Aufgabe ist", dann bedeutete dies - so seltsam das auch klingen mag - den Abschied von der Politik, für die niemand so sehr stand wie Helmut Kohl. Alexander Gaulands Pessimismus, seine Furcht vor der traditionslosen Gesellschaft, führt zu der Einsicht "alles, was Tempo verlangsamt, den Zerfall aufhält, in dem es die Globalisierung einhegt, ist deshalb gut und richtig".


Alexander Gauland glaubt, künftig werde es zwei kulturelle Milieus geben, ein "liberal-individualistisches", das sich für Zuwanderung, die Anerkennung homosexueller Lebensgemeinschaften und die Selbstverwirklichung stark mache. Das andere gesellschaftlich dominierende Milieu werde ein "wertkonservatives" sein, das auf einer verbindlichen Identität aus moralischen Prinzipien und moralischen Traditionen insistiere und wirtschaftlichen Notwendigkeiten skeptisch gegenüber stehe. Sollte dieser Befund zutreffen, müsste die CDU allerdings schleunigst aufhören, der wirtschaftsliberalen Politik der FDP nachzueifern.


Alexander Gaulands kleines Buch ist fast eine Werteorientierungsfibel für konservative Menschen - und vor allem für desorientierte Politiker der CDU und CSU. Leider ist es - selbst wenn der Lektor einige Wiederholungen übersehen hat - recht kurz geraten. Auf diesem Niveau hätte manches Kapitel gern doppelt so lang ausfallen dürfen.

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