Im Deutschen Geschichtstheater

Nicht erst das sterile Spektakel um Günter Grass hat gezeigt: Die öffentliche Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus kommt über Selbstbeschäftigung nicht mehr hinaus. Das nützt niemandem und lenkt ab von den wichtigen Problemen der Gegenwart

Es heißt gelegentlich, das „Kurze 20. Jahrhundert“ sei im Jahr 1989 zu Ende gegangen. Geschichtspolitisch gilt das nicht, jedenfalls nicht für Deutschland. Der Nationalsozialismus ist immer noch Gegenstand tagespolitischer Auseinandersetzungen, anders als nach dem Epochenumbruch zu erwarten war. Alle düsteren Voraussagen, die Rückkehr zur nationalstaatlichen Normalität nach der Wiedervereinigung würde die Verbrechen der Nazis in den Hintergrund drängen, haben sich glücklicherweise als hysterisch und falsch erwiesen. Die Belege dafür sind zahlreich: die Goldhagen-Debatte, die Planung des Holocaust-Mahnmals, der Bau der Gedenkstätte „Topografie des Terrors“, der Umzug der Bundesregierung in ehemalige Nazi-Gebäude in der Berliner Wilhelmstraße, die Wehrmachtsausstellung und neue Hitler-Biografien.

Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ist wohl selten so offensiv und intensiv geführt worden wie in den neunziger Jahren. Die Methoden der Historiker und die Perspektive der Betrachtung änderten sich – statt abstrakter Großtheorien rückten Biografien von Tätern und die Leidensgeschichten der Opfer stärker in den Blick. Das Thema selbst aber blieb. Die stereotype Rollenaufteilung, bei der die Deutschen immer die Täter, die Alliierten immer die Befreier waren, die aufgrund eines vermeintlichen Handlungsdrucks keine Alternativen hatten, differenzierte sich aus. Ute Frevert und Aleida Assmann schrieben schon Ende der neunziger Jahre: „Vielmehr hat sich fortgesetzt und intensiviert, was bereits in den achtziger Jahren begonnen hatte: eine breite, differenzierte, hochgradig politisierte Auseinandersetzung mit jenen zwölf Jahren deutscher Geschichte, die sich allen Versuchen historiografischer ‚Normalisierung‘ beharrlich entziehen.“

Zugleich war es ein Gewinn der neunziger Jahre, dass zwei sehr verbreitete geschichtspolitische Legenden entlarvt wurden. Das war erstens die Behauptung, es sei die Achtundsechziger-Generation gewesen, die mit der Aufarbeitung der NS-Geschichte begonnen habe. Diese These diente der Selbstüberhöhung, hat aber mit der historischen Realität wenig gemein. Eine öffentliche Debatte über den Nationalsozialismus hat es in der bundesrepublikanischen Geschichte weit früher gegeben. Ähnlich verhält es sich zweitens mit der Behauptung, in den frühen Jahren der Bundesrepublik sei über den Holocaust kollektiv geschwiegen worden. Auch das stimmt nicht, vielmehr waren die bequemen Ausflüchte der Mehrheit der Deutschen das Problem, sie gaben sich damit zufrieden, die Verantwortung für den Holocaust einer kleinen Clique von Nazis zuzuschreiben. Heute wissen wir: Die deutsche Gesellschaft war durch alle Schichten hindurch vom Virus der nationalsozialistischen Weltanschauung infiziert.

Inszenierung ohne Erkenntnisgewinn

Die Furcht vor der Geschichtslosigkeit der Deutschen ist vollkommen unbegründet, die Beschäftigung mit Ursachen und Folgen des Nationalsozialismus ein fest institutionalisierter Bestandteil der politischen Kultur in Deutschland. Nachdem das Land zahlreiche Phasen historischer Aufarbeitung durchlebt hat – Verdrängung, kollektive Schuldminimierung, deutsche Kollektivtäterhaftung, Differenzierung der historischen Verantwortung, Alltagsgeschichte der Diktatur, beginnende Historisierung – hat nun etwas Neues eingesetzt. Der Historiker Michael Bodemann beschreibt es mit dem Begriff „Geschichtstheater“: „Fragmente“ historischer Geschehnisse werden ständig neu inszeniert – ohne Erkenntnisgewinn.

Exemplarisch zum Vorschein gekommen ist dies in der Diskussion über Günter Grass’ spätes Bekenntnis, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein. Um „Geschichtstheater“ handelt es sich, weil in diesem Fall nichts weiter als die medial inszenierte Wiederholung einer Debatte über die Mitverantwortung Einzelner und ihre Verstrickung in den Nationalsozialismus stattfand. Diese Diskussion ist in den vergangenen Jahrzehnten ja immer wieder geführt worden. Jetzt haben wir gelernt, dass sich Grass, anders als seine Rolle als moralisierender Politikschriftsteller vermuten ließ, genauso verhalten hat wie Tausende seiner Altersgenossen. Er hat mitgemacht und das Mitmachen in Gänze erst spät gebeichtet. Was haben wir aber über Hitlers Regime und die Voraussetzungen seines Entstehens neu gelernt? Nichts.

Bei der Grass-Debatte handelt es sich um die Diskussion einer Gruppe älterer Herren, die das siebzigste Lebensjahr überschritten haben. „Sie gehen auf die achtzig zu und liefern nach wie vor den Stoff für unsere kollektive Selbstbeschäftigung“, hat der Soziologe Heinz Bude hierzu treffend geschrieben. Und die Schriftsteller Eva Menasse und Michael Kumpfmüller forderten die Befreiung des Landes aus dem „zwiebelhautengen NS-Diskurs“. „Es ist beschämend, dass die Affäre Grass innerhalb von drei Tagen mehr Wortmeldungen und moralisch gefestigte Standpunkte von deutschen Dichtern und Denkern produziert als der Krieg in Nordisrael und Südlibanon in den 33 Tagen zuvor.“ Die Klage der Schriftsteller ließe sich mit innenpolitischen Themen beliebig ausschmücken, angesichts einer Großen Koalition, die ihren großen Aufgaben nicht gewachsen zu sein scheint. Dieses Nebeneinander von politischem Stillstand und Vergangenheitsdiskurs ohne neue Erkenntnisse kann kaum als Indiz für eine vitale politische Kultur interpretiert werden.

Vati war kein Flakhelfer mehr

Die Achtundsechziger werden Grass seine späte Beichte niemals verzeihen, weil sie sich an ihm aufgerichtet haben. Die nach 1970 Geborenen können die ganze Aufregung nicht verstehen, weil es für sie keinen Grund gibt, sich der deutschen Geschichte, in diesem Fall der Jahre 1933 bis 1945, mittels eines Schuld-Diskurses zu nähern. Ihre Väter waren keine Flakhelfer mehr. Schon in der Schule verstanden die heute Unter-35-Jährigen die ritualisierte Form der Vergangenheitsaufarbeitung nicht, die ihre Lehrer aus der Generation der Achtundsechziger betrieben.

Eine frühe und weitsichtige Anregung des Historikers Martin Broszat, den Nationalsozialismus zu „historisieren“, blieb relativ folgenlos. Politisch war eine Historisierung nicht gewünscht – und das rächt sich nun. Dabei wäre eine Historisierung schwer zu verhindern gewesen, weil die Beschäftigung mit den kollektivistischen, staatssozialistischen Diktaturen auch der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus neue Impulse gab. Im politischen Alltag jedoch ist Geschichte nützlicher, die noch dampft. Jeder Versuch, die überproportional starke Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus ein wenig zu begrenzen, wurde mit Warnungen vor dem „Schlussstrich“ vom Tisch gewischt.

Geschichtsdebatten ohne Argumente

Das historische Argument im politischen Tagesstreit stört überhaupt nicht. Wohl aber die Tatsache, dass an manchen Tagen in deutschen Zeitungen mehr Artikel über Grass’ Mitgliedschaft in der Waffen-SS erscheinen als über Bildungs-, Gesundheits- und Familienpolitik oder den demografischen Wandel.
Die deutsche Zeitgeschichtsforschung hat mittlerweile stark an Einfluss verloren. Sie ist weitgehend unfähig, sich in andere politische Auseinandersetzungen einzumischen als solche über Hitler, Göring oder den Zweiten Weltkrieg. Der mit einem typisch deutschen Katastrophismus geführten Debatte über niedrige Geburtenraten und den Gebärstreik deutscher Akademikerfrauen hätten ein paar historisch fundierte Argumente gut getan. So werden in Deutschland manche Debatten geradezu „geschichtsvergessen“ geführt, andere jedoch zwar umso vergangenheitsfixierter, aber ohne ernsthafte historische Argumente. Ein gutes Zeichen ist das nicht.

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