Keynes neu denken

"Die Industrie ist nach wie vor das Rückgrat unserer Volkswirtschaft", heißt es im "Bremer Entwurf" für das neue Grundsatzprogramm der SPD. Doch wer die Globalisierung meistern will, muss heute vor allem die Dienstleistungsgesellschaft stärken

"Auf lange Sicht sind wir alle tot“ – dieses Bonmot des Ökonomen John Maynard Keynes konzentriert in dankenswerter Klarheit all das, was heute in einer bedrohlichen Staatsverschuldung kulminiert. Der Gedanke, den kurzfristigen Aufschwung durch Kredite und damit auf Kosten der Zukunft zu finanzieren, war der Startschuss für die defizitäre Haushaltspolitik, die Ende der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts begann und bis heute anhält. Zu Recht ist zumindest die praktische Umsetzung des antizyklischen deficit spending in Misskredit geraten.

Das Problem der Verschuldung und die steigenden Arbeitskosten ließen das Pendel zugunsten der Angebotspolitik zurückschlagen. Besonders angesichts der Abhängigkeit der Exportnation Deutschland vom globalisierten Markt gilt heute die Angebotspolitik als wachstumsfreundlicher: Ein liberaler Arbeitsmarkt und eine Sozialpolitik, die statt prekäre Lebenslagen abzusichern nur noch in akuten Notfällen hilft, sind verbreitete angebotspolitische Forderungen.

Welche Einkommen gestärkt werden müssen

Dieser Trend verstellt aber gerade in Deutschland den Blick dafür, dass es nicht allein Angebotspolitik ist, welche die derzeit erfolgreichen Volkswirtschaften auf Wachstumskurs gebracht hat. Nachfragepolitik, also die Stärkung der Kaufkraft in der Hand von Konsumenten, bleibt ein Wachstumsfaktor. Aber: Es kommt darauf an, welche Einkommen gestärkt werden. Genau dieser Aspekt wird in Deutschland völlig vernachlässigt.

Hierzulande gehen nachfragepolitische Argumente meist einher mit der Forderung nach hohen Transferleistungen. Hintergrund ist der zunächst verständliche Gedanke, dass die Politik, wenn sie als stimulierender Faktor auftritt, dies im Sinne des sozialen Ausgleichs tun sollte: Stärkt der Staat die Nachfrage, dann bitte die der sozial Schwachen. Für den Beschäftigungseffekt ist es aber nicht unerheblich, ob Erwerbseinkommen oder Transfereinkommen von Kaufkraftzuwächsen profitieren.

Transfers können Resignation nicht verhindern

In Deutschland steigen seit Jahren die Sozialausgaben, während die Erwerbstätigkeit als Einkommensquelle stagniert oder rückläufig ist. Bestritten 1991 noch 44,5 Prozent der Menschen in Deutschland ihren Lebensunterhalt überwiegend aus Erwerbstätigkeit, so waren es bereits 2004 nur noch 39,4 Prozent. Nimmt man die beiden wichtigsten Gruppen der Bezieher von Sozialleistungen zusammen: Arbeitslose und Rentner beziehungsweise Pensionäre, so stieg deren Anteil von 20,9 auf 27,7 Prozent. In weiten Teilen Ostdeutschlands ist die Seite der Empfänger bereits in der Überzahl. Auch bei der Höhe der Einkommen hat sich das Gewicht lange zu Ungunsten der Einkommen durch Arbeit entwickelt. Die soziale Absicherung in Deutschland liegt im weltweiten Vergleich weiterhin an der Spitze, während die Nettolöhne zurückgefallen sind.

Die Problematik dieser Entwicklung ist weitgehend bekannt. Durch die Schieflage entsteht eine Nachhaltigkeitslücke, die sich in dramatischen Defiziten der öffentlichen Haushalte niederschlägt. Die Staatsausgaben sind zunehmend konsumtiv ausgerichtet. In der jüngsten Zeit kommen sozialpsychologische Aspekte in die Debatte hinein: Die hohen Transferleistungen können Resignation und den Verlust an lebenspraktischer und kultureller Kompetenz in der Arbeitslosigkeit nicht verhindern.

Die Mitte trägt das Sozialsystem

Diese Erfahrungen haben bereits ein Umdenken in Gang gesetzt. Die SPD will die Sozialpolitik stärker vorsorgend ausrichten: Sie plädiert für einen „aktivierenden“ Sozialstaat. Wenn der Parteivorsitzende Kurt Beck die Partei dazu auffordert, sich wieder stärker den Bürgerinnen und Bürgern zuzuwenden, die „Werte schaffen“, jenen 40 bis 50 Prozent in der Mitte der Gesellschaft, dann meint er genau jene tragenden und zahlenden Mitglieder des Sozialsystems.

Diesen wichtigen sozial- und haushaltspolitischen Argumenten ist ein wirtschaftspolitischer Aspekt hinzuzufügen, der den Zusammenhang zwischen der skizzierten Entwicklung und den Beschäftigungschancen der Dienstleistungsgesellschaft betrifft. In den Vereinigten Staaten und in Großbritannien stützt sich der Aufschwung der vergangenen fünfzehn Jahre auf eine Nachfragepolitik, die gezielt die wirtschaftlich aktiven Mitglieder der Gesellschaft gestärkt hat. Die Politik des billigen Geldes, erhebliche Steuererleichterungen zum Beispiel bei der Immobilienfinanzierung und eine Gesetzgebung, die eine äußerst freizügige private Kreditvergabe ermöglicht, haben die Kaufkraft der Haushalte immens gestärkt.

Es sind dadurch in diesen Ländern vor allem die Haushalte der Mittelschichten, die über steigende finanzielle Spielräume verfügen. Diese Einkommen aber – und das ist der entscheidende Unterschied – sind dienstleistungsfreundlicher als Transfereinkommen. Denn das Einkommen aus Erwerbstätigkeit geht mit erheblich größerer Zeitknappheit einher, als das bei Rentnerhaushalten und Arbeitslosen der Fall wäre.

Das lässt sich besonders drastisch im Osten Deutschlands beobachten. Dort sind beispielsweise die Rentnerhaushalte teilweise besser ausgestattet als im Westen. Trotzdem hat deren Nachfrage keine stabile Dienstleistungsgesellschaft entstehen lassen. Stattdessen boomt im Osten der informelle Sektor, besonders die Eigenarbeit. Das Problem der Arbeitslosigkeit wäre weitgehend behoben, wenn es gelänge, die gesamte Eigenarbeit in die arbeitsteilige Gesellschaft zu überführen.

Dass zudem Arbeit in Deutschland nach wie vor teuer ist, macht Eigenarbeit, ob beim Hausbau oder an der Tankstelle, ökonomisch so attraktiv wie in wohl keinem anderen entwickelten Land. Den Volkswirtschaften, die beispielsweise in Skandinavien – trotz hoher Sozialleistungen – eine niedrigere Arbeitslosenquote haben, ist es zumindest gelungen, die Sozialleistungen stärker über Steuern zu finanzieren, statt fast ausschließlich über Arbeit wie in Deutschland.

Die Industrie als „Rückgrat“? Das ändert sich

Nun kann man einwenden, dass Haushalte mit großen zeitlichen Ressourcen zwar weniger Dienstleistungen in Anspruch nehmen, dafür aber entsprechend mehr Industrieprodukte konsumieren. Die Nachfrage nach Industrieprodukten hat aber einen weit geringeren Beschäftigungseffekt als die Nachfrage nach Dienstleistungen. Beschäftigungszuwächse sind trotz der großen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie in diesem Sektor kaum zu erwarten. Noch in den siebziger Jahren waren in Deutschland mehr Menschen im produzierenden Gewerbe tätig als im Dienstleistungssektor; inzwischen jedoch hat sich die Zahl der Erwerbstätigen im Dienstleistungssektor fast verdreifacht, während sie in der industriellen Produktion leicht zurückgegangen ist.

„Die Industrie ist nach wie vor das Rückgrat unserer Volkswirtschaft“, heißt es im „Bremer Entwurf“ für das neue Grundsatzprogramm der SPD – und in der Tat mag diese Feststellung bezogen auf die Gegenwart noch zutreffen. Jedoch tun gerade Sozialdemokraten gut daran, diese Konstellation nicht linear auf die Zukunft hochzurechnen. Schon gar nicht sollten sie darauf hoffen, neue Arbeitsplätze könnten noch einmal in nennenswertem Umfang in der Industrie entstehen. Aufgrund des technischen Fortschritts nämlich sind in der industriellen Produktion die Chancen der Rationalisierung so hoch, dass selbst ein kräftiges Wirtschaftswachstum den Beschäftigungsabbau hier allenfalls kompensieren kann. Dienstleistung dagegen wird – trotz Produktivitätsfortschritten auch hier – immer arbeitsintensiv bleiben.

Warum wir Opfer unseres Erfolges sind

Es ist bezeichnend, dass die jüngsten Erfolge beim Abbau der Arbeitslosigkeit vor allem einem Beschäftigungsaufbau bei den unternehmensnahen Dienstleistungen zu verdanken sind: Die gute Auftrags- und Ertragslage der Unternehmen generiert kaum zusätzliche Arbeitsplätze auf dem Gebiet der Fertigung, durchaus aber im Dienstleistungssektor. Die privaten Haushalte dagegen profitieren bislang kaum vom Aufschwung und können diese Entwicklung nicht stützen. Hinzu kommt, dass das produzierende Gewerbe viel anfälliger ist für den Kostendruck durch billige Löhne im Ausland. Industrieprodukte sind der Konkurrenz des globalisierten Marktes voll ausgesetzt. Dienstleistungen dagegen sind nur begrenzt aus Billiglohnländern importierbar. Die Stärkung der Dienstleistungsgesellschaft kann mithin auch als Antwort auf die Globalisierung betrachtet werden.

Das wirtschaftspolitische Denken ist in Deutschland nach wie vor zu sehr an der industriellen Produktion orientiert. Wir sind gewissermaßen Opfer unseres Erfolges: Die deutsche Wirtschaft konnte sich lange noch auf ein stark exportorientiertes produzierendes Gewerbe stützen, als andere Länder den Strukturwandel zur Dienstleistungsgesellschaft bereits begonnen hatten.

Prosperität durch Dienstleistungen

Der Erhalt industrieller Arbeitsplätze bleibt wichtig, darf aber angesichts der geringen Beschäftigungseffekte den Blick auf die Dienstleistungsbranchen nicht verstellen. In Deutschland beginnt man zu begreifen, dass ein Wirtschaftsaufschwung ohne die Stärkung der Erwerbshaushalte nicht zu erreichen ist. Die Debatte um den Investivlohn geht dabei in die richtige Richtung. Die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung spielt dagegen keine nennenswerte Rolle mehr. Man will weg von der Frühverrentung und setzt stattdessen auf eine Steigerung der Erwerbsquote bei Älteren. Haushaltsnahe Dienstleistungen werden steuerlich begünstigt.

Es geht nicht zuletzt darum, Aktivität zu stärken statt Passivität zu subventionieren. Zu lange haben wir in Deutschland versucht, mit teuren Frühverrentungsprogrammen und der Subventionierung der Hausfrauenehe das Angebot an Arbeitskräften am Markt zu reduzieren. Genau umgekehrt funktioniert es: Die Nachfrage nach Arbeit muss stimuliert werden, um das Überangebot an Arbeitskraft abzubauen. Die prosperierenden Volkswirtschaften sind heute die Dienstleistungsgesellschaften. Entwickeln konnten sie sich nur, weil die Kaufkraftzuwächse in eine Nachfrage nach Dienstleistungen geflossen sind.

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