Katzenwäsche und Tütensuppe

Derweil große Teile der deutschen Jugend hyperaktiv, konzentrationsgestört und fernsehfixiert vor sich hin aufwachsen, stiftet die scheinbar verzopfte Pfadfinderbewegung ihren Mitgliedern Orientierung und Lebenssinn. Ein Hoch auf das Werk Sir Baden-Powells

Eigentlich hätte ich erwartet, dass Dennis und Jan-Ole mit jeweils einem Buschmesser zwischen den Zähnen aus dem Unterholz hervorbrechen würden, das das Grundstück unseres norwegischen Ferienhauses begrenzte. Tatsächlich gestaltete sich ihre Ankunft weniger dramatisch. Sie riefen an, mit einem Handy, das sie nach einer sechstätigen Wanderung durch die Wildnis wieder eingeschaltet hatten, und klagten: „Noch 15 Kilometer Straße, uns reicht es, könnt ihr uns abholen?“ Wir konnten, und mir fiel die Aufgabe zu, den beiden erschöpften Waldläufern noch auf dem Parkplatz zwei Dosen eisgekühltes Bier zu überreichen. Zivilisation kann so schön sein.

 

Ich hatte den 26-jährigen Dennis in einem sozialistischen Singekreis (das ist eine andere Geschichte) kennen gelernt und lange Zeit gar nicht gewusst, dass er in einem dritten Leben, neben Studium und politischem Engagement, seit seinem elften Lebensjahr ein begeisterter Pfadfinder ist. Es passte aber. Dennis ist der Typ, der Leute für eine kleine Überraschungsparty zusammentrommelt, wenn ein depressiver Freund an seinem Geburtstag allein zu Hause sitzt und sich grämt. Er ist derjenige, der länger bleibt, um nach einer Veranstaltung aufzuräumen und abzuschließen. Der, den man wegen Liebeskummer nachts um vier anrufen dürfte. Nur wenn man ihn erreicht natürlich, denn Dennis bekommt regelmäßig „Ich-muss-mal-wieder-wandern“-Attacken und hat dann tagelang sein Handy abgeschaltet, weil Handys seiner Meinung nach nicht im Wald herumzuklingeln haben. Außerdem kann er Feuer machen. Und Gitarre spielen: Je später der Abend, desto künstlerischer die musikalischen Einlagen, was manchmal eine große Herausforderung für seine Sängerkameraden darstellt.

 

Dennis lebt einen scheinbaren Anachronismus – die Pfadfinderei mit ihren Traditionen und dem Fähnlein-Fieselschweif-Outfit – auf eine Weise, die einen heute, im hundertsten Jahr der Pfadfinder-Bewegung, fast schon wieder die Avantgarde wittern lässt. Es gibt da dieses Pfadfinderversprechen, das Neumitglieder in Anlehnung an die Grundsätze des britischen Generals und boy scout-Erfinders Sir Robert Baden-Powell ablegen. Demnach sollen Pfadfinder zuversichtlich sein und das eigene Leben bejahen, mit dem, was ihnen anvertraut wurde verantwortlich umgehen, und sich nicht von materiellen Dingen leiten lassen. Vielleicht ist letzteres sogar der Kern des Pfadfindertums, den auch Dennis besonders ernst nimmt: In einer Zeit und in einer Gesellschaft, in der der kleine Polospieler auf dem Herrenhemd, das silberne Dreieck auf der Handtasche und jede Menge Markeninsignien auf Kinderpullovern „drinnen“ und „draußen“ markieren, wirkt er eigenartig frei. Das alles interessiert ihn nicht sehr. Er beurteilt andere Menschen nicht nach Statussymbolen und käme nie auf den Gedanken, sich selbst daran messen zu lassen (außer vielleicht, wenn es um diese wirklich einzigartig gute Petroleumlampe geht).

 

Heiße Dusche. Kaltes Bier

 

Diese Freiheit, die andere Menschen für viel Geld in Manager-Resozialisierungsseminaren oder Esoterik-Workshops zu finden hoffen, schafft offenbar Platz für einen Entwurf des guten Lebens. Allein sein können. Still sein können. Draußen sein. Sicher das kalte Bier. Die heiße Dusche nach tagelanger Katzenwäsche. Ein leckeres Essen nach zwei Wochen Tütensuppe. Und Freunde. „Ich glaube, dass Freundschaften, die bei den Pfadfindern geschlossen werden, tiefer gehen als andere“, sagt Dennis. Bei sich selbst und bei Mit„pfadis“ hat er beobachtet, dass sie ein wenig von den Klassenkameraden, den Kommilitonen abrückten, nachdem sie diese neue, als viel „echter“ empfundene Gemeinschaft kennen gelernt hatten. Völlig offen bleibt dabei allerdings die Frage, ob die Pfadfinder Persönlichkeiten, wie Dennis sie beschreibt – zuverlässig, verantwortungsbewusst, antimaterialistisch, fähig zur Freundschaft – hervorbringen, oder ob sich Menschen, die diese Eigenschaften von vornherein mitbringen, dorthin wenden. Vermutlich trifft beides zu.

 

Jugendliche machen Bastelvorschläge

 

Jedenfalls haben die Pfadfinder – anders als Parteien, Bürgerinitiativen und viele Sportvereine – keine Nachwuchsprobleme. Die Mitgliederzahlen sind stabil bis wachsend: 47.000 Menschen gehören wie Dennis dem (evangelischen) Verband Christlicher Pfadfinder (VCP) an – so viele Mitglieder haben die Grünen. Insgesamt gibt es in Deutschland 250.000 pfadfinderisch Aktive, weltweit sind es 35 Millionen. Nur die DLRG und die Jugendfeuerwehren, auf den ersten Blick vergleichbar „unmoderne“ Organisationen, sind ähnlich erfolgreich bei der Jugendarbeit.

 

Möglicherweise liegt die Attraktivität der Pfadfinder also gerade in den scheinbar altmodischen Formen, den Regeln und Ritualen, dem speziellen Lebensgefühl; vielleicht sogar in der Kluft mit Hemd und Halstuch. Irgendetwas muss ja geschehen zwischen dem ersten Gruppennachmittag, den ein kleiner „Wölfling“ (so genannt nach den Wolfsjungen in Rudyard Kiplings Dschungelbüchern) besucht – und den unerschütterlichen Freundschaften Erwachsener. Die ersten Erfahrungen dürften in aller Regel frustrierend sein. Dennis erinnert sich noch genau an jenen bewegenden Nachmittag, an dem er das einzige anwesende Kind war. Seine Gruppe „Merlin“ befand sich noch im Aufbau. Irgendwie muss es dem Gruppenleiter trotzdem gelungen sein, ihn zum Weitermachen zu überreden.

 

Wer heute als Acht- oder Neunjähriger einen der typischen Gruppennachmittage besucht, findet zunächst nichts besonders Aufregendes vor: zehn bis zwölf andere Kinder, so hyperaktiv, konzentrationsgestört oder fernsehfixiert wie der Durchschnitt einer üblichen Grundschulklasse, mit den gleichen Schwierigkeiten beim Zuhören und Stillsitzen. Dazu zwei oder drei Jugendliche, die – teils begeistert, teils lustlos – Bastelvorschläge machen, Lieder einüben, Fragen über die vergangenen Ferien stellen. Nichts daran unterscheidet sich sehr von anderen, mitunter ein wenig schlappen Konzepten der offenen Jugendarbeit, und der Gruppenraum unterm Dach des Gemeindehauses mit seinen Sperrmüllsofas und Fotocollagen erinnert durchaus an den freudlosen städtischen Jugendtreff gleich nebenan.

 

Geheimnisse des Spirituskochers

 

Spannend wird es immer dann, wenn die Rede auf zurückliegende Fahrten kommt und die Kinder aufmerksam werden: „Oh, das letzte Pfingstlager, war das schön! Ein Rollenspiel unter dem Titel ‚Märchen-Haft‘, in dem die Waldbewohner gegen den unterdrückerischen König aufbegehrten, und wisst ihr noch – Rumpelstilzchen?“ Die Wölflinge sind sehr interessiert daran zu erfahren, dass ihr Gruppenleiter im letzten Urlaub mit Rumpelstilzchen persönlich auf Fahrt war. Noch beliebter ist die Planung zukünftiger Reisen, die Einweisung in die Geheimnisse des Zeltbaus und des Spirituskochers. Es gibt ganz offensichtlich nur wenige echte Erlebnisse im Leben dieser Kinder, und die Sehnsucht nach etwas Besonderem, Nicht-Alltäglichem ist groß.

 

Fernweh lässt sich allerdings nur schwer stillen auf dem fantasielosen Sechziger-Jahre-Spielplatz neben dem Gemeindezentrum. Doch dann ritzt der Gruppenleiter die so genannten „Waldläuferzeichen“ („verdorbenes Wasser“, „hier entlang“, „guter Rastplatz“) in den Sand der Sandkiste, und ein klein wenig Ehrfurcht macht sich breit. Was bedeutet der Kreis mit dem Punkt darin? „Das hat sich dieser Mann aufs Grab malen lassen“, flüstert ein kleiner Junge andächtig. Genau. Sir Baden-Powell, und es heißt: Mission erfüllt. Pfadfinder zu sein, das erfordert auch ein bisschen Mut zum Pathos in einem coolen und ironischen gesellschaftlichen Klima.

 

Natürlich ersetzt den Älteren die Knochenarbeit mit den Kindern nicht die eigene Lagerfeuerromantik. Die wöchentlichen Treffen können zäh sein und erfordern viel Vorbereitung. Die jährlichen Zeltlager, die im Vierjahresrythmus stattfindenden Bundeslager mit tausenden Teilnehmern sind wie eine Klassenfahrt hoch zehn. Daraus ergibt sich das einzige Mitgliederproblem, das die Pfadfinder kennen: Sie könnten noch viel mehr Kindergruppen füllen, doch fehlt es ihnen an jugendlichen Betreuern. Aller „Jugend führt Jugend“-Grundsätze zum Trotz macht es eben doch mehr Spaß, eigene Feten vorzubereiten, Freunde in aller Welt zu besuchen und abends gemeinsam zu singen, als einen allwöchentlich wiederkehrenden Kindergeburtstag zu organisieren.

 

Dennis hat pflichtgemäß seine Gruppe („Truso“) geleitet – nett und fürsorglich und in dem Bewusstsein, dass man an Jüngere weitergeben sollte, was man selbst einmal genossen hat. Aber seine Leidenschaft gilt eher der Arbeit mit Gleichaltrigen. Genau wie andere Verbände haben die Pfadfinder nicht nur ihre örtlichen Gruppen und Stämme, sondern auch gewählte Gremien auf Kreis-, Landes- und Bundesebene. Irgendwann entwächst man den Aktivitäten der Gruppe und tut, was alle Funktionäre tun: Man koordiniert die Aktivitäten anderer. Bei den Pfadfindern sind die Gegenstände der Gremienberatungen immerhin relativ konkret: Es geht (natürlich) um Finanzen, um Bildungsarbeit, um Fahrten und Zeltlager.

 

Aufsaugen und assimilieren

 

Der schleswig-holsteinische Landesverband des VCP hat keinen Vorsitzenden, sondern eine kollektive „Landesleitung“, der Dennis vier Jahre lang angehörte; weitere vier Jahre arbeitete er in der Landesversammlungsleitung. In den neunziger Jahren habe die Landesversammlung noch vergleichsweise politische Beschlüsse gefasst, sagt Dennis, zum Beispiel Rundbriefe des VCP nur auf Recyclingpapier zu drucken oder bei Veranstaltungen keinen politisch unkorrekt gefangenen Thunfisch für die Verpflegung zu verwenden.

 

Derartige Diskussion gebe es heute beinahe überhaupt nicht mehr. Solche Themen klingen eigentlich auch nicht nach den Neunzigern, sondern eher nach den frühen achtziger Jahren; aber vielleicht liegt ein Geheimnis pfadfinderischen Erfolges im Aufsaugen, Assimilieren und Bewahren unterschiedlicher Jugendkulturen. Von Baden-Powells Ehrvorstellungen und seiner Waldläufermystik über Elemente der Ökologie- und Friedensbewegung bis hin zum aktuellen Bemühen um Anschluss an die Moderne: kein Bundeslager, auf dem nicht auch ein Computerzelt stünde; und die traditionelle Andacht am Sonntagmorgen heißt im Pfadi-Jargon ganz fortschrittlich „C-Impuls“.

 

Hinzu kommt ein programmatischer Internationalismus: Die Pfadfinder betrachten ihre Organisation als Instrument der Völkerverständigung und pflegten weltweite Kontakte schon lange bevor das Wort Globalisierung in aller Munde war. Vielleicht entsteht ihre Neugier auf das Fremde aus einem klaren Bewusstsein des Eigenen: Weil sie eine Heimat haben – weniger eine Wohnort- als eine Gruppenheimat – sind sie so offen für Neues. Die neuen Erfahrungen allerdings sollen nicht beliebig sein wie allfällige studentische Praktika im Ausland. Es geht um Freundschaft und tieferes Verständnis.

 

Auch die neuen Technologien werden in gruppenfreundlicher Weise gehandhabt. Das bedeutet Restriktionen für den Einsatz von Handys und Gameboys. Computer werden nicht für einsames Gedaddel verwendet, sondern für die gemeinsame Lagerorganisation – und zur Vernetzung: Inzwischen gibt es im Internet Pfadfinder-Chats, die sich besonders im aktionsarmen Winter großer Beliebtheit erfreuen.

 

„Ich hab mich in dein rotes Haar verliebt“

 

Bestimmte äußerliche Moden halten sich offenbar in dieser speziellen Subkultur länger als anderswo. Zu Dennis’ abendlichen Lieblingsliedern im Singekreis gehört der ergreifende Titel „Ich hab mich in dein rotes Haar verliebt“. Das kann einem bei den Pfadfindern leicht passieren, sind doch rot gefärbte Haare bis heute nach wie vor en vogue und Henna-Workshops feste Programmbestandteile vieler Zeltlager. Wenn sie ihre Sprösslinge verfärbt zurückbekommen, reagieren manche Erziehungsberechtigte etwas engstirnig. Dennis kann diese Eltern im Prinzip verstehen. Zugleich frohlockt der antiautoritäre Strang seines Charakters über den selbstbestimmten kindlichen Umgang mit dem natürlichen Haarfärbemittel.

 

Dennis gehört zu den Menschen, die jedermann zur Begrüßung freundlich umarmen und vor niemandem zurückschrecken. Das mag schlicht einer seiner Wesenszüge sein, doch wird bei den Pfadfindern generell sehr viel umarmt und geherzt. Der 18-jährige Leon, ein „Pfadfinderziehkind“ von Dennis, beschreibt einen deutlich anderen Umgang mit körperlicher Nähe als sonst in der Gesellschaft: „Ich würde doch nie mit einem Mädchen Arm in Arm über den Schulhof gehen. Aber auf einem Lagerplatz ist das völlig normal – ohne dass es gleich Gott weiß wie interpretiert wird.“

 

Pfadfinderei scheint also, wenigstens in manchen Fällen, eine Art ganzheitliche Lebensweise zu sein, die sich nicht auf das korrekte Aufschichten des Feuerholzes reduzieren lässt. Die Attraktivität dieses Lebensentwurfs besteht in seinem Spannungsverhältnis zum Zeitgeist: nicht schnell, schick und teuer, sondern stetig und ernst gemeint, dabei ein bisschen wehmütig, romantisch und sehnsüchtig.

 

Dennis lebte lange Zeit in einer Wohngemeinschaft mit Gesa, einer Pfadfinderfreundin fast seit Kindertagen. Immer wieder kam Gesine zu Besuch, noch eine Ewig-Freundin, die in Barcelona Häuser besetzt und sich an Anti-Globalisierungsprotesten beteiligt – durchaus im Einklang mit dem Pfadfinderversprechen, „für Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit“ einzutreten. Da es am Abend oft viel zu erzählen gab, kamen die drei nur selten zum Singen. Wenn, dann hörte man aus Gesas Zimmer Klänge, die morgens, in einer studentischen Stadtwohnung, seltsam anmuteten: „Abends treten Elche aus den Dünen“, sangen sie, und dann das vielleicht schönste Pfadfinderlied „Leise weht der Wind“, eine Huldigung an das Belldonne-Massiv: „Der Berg ist wie ein König / die Krone ganz aus Eis / eine Schleppe voller Blumen / jung und doch ein Greis.“ Die letzte Strophe lautet: „Vor uns liegt die Eile / der Zivilisation / doch wir kehren immer wieder / zu unserm Freund Belldonne.“ Seit 100 Jahren, und, wie es aussieht, auch in Zukunft.

zurück zur Ausgabe