Kanzlerpräsident und Präsentationsdemokratie: Wie sich das Regieren verändert hat



Bundeskanzler Schröder regierte jahrelang so, als ob jeden Tag die Wahllokale geöffnet hätten: tagessensibel, welchselwählerwirksam, wie ein Pragmatiker des Augenblicks. Das änderte sich erst 2003. Der Neustart von Rot-Grün erfolgte nicht mit der Bundestagswahl von 2002, sondern erst mit der Kanzlerrede „Agenda 2010“ vom 14. März 2003. Regieren in Zeiten ökonomischer Knappheit erfordert Mehrheitsbildungen gegen die öffentliche Meinung. Schröder konnte nicht mehr als Tageskanzler agieren. Getrieben von sichtbaren innerparteilichen Machterosionen und verheerenden Wahlniederlagen setzt er seitdem auf das Instrument der Policy-Akzentuierung als Chefsache: die Reform des Arbeitsmarktes und des Sozialstaats als machtstragisches und steuerungstechnisches Markenzeichen seiner Kanzlerschaft. Als Reformkanzler will er in Erinnerung bleiben.

Bonner Parteiendemokratie? Das ist vorbei

Der Grundimpuls von Schröders politischer Steuerung ist dabei immer der gleiche, egal, ob es sich um die Tageskanzlerschaft (1998-2003) oder das Reformkanzlertum handelt. Denn er versucht, sich Handlungskorridore des Regierens ad hoc zu erschließen, die eher zum Typus einer präsidentiellen Demokratie passen. So hat sich der Bundeskanzler in der Berliner Republik aus machtpolitischer Strategie in einen Kanzlerpräsidenten gewandelt.


Es existiert ein eindeutiger Trend hin zur Zentralisierung von Macht und Verantwortung bei der Spitze der Exekutive. Zur Kehrseite dieser Gouvernementalisierung der Gesetzgebung und des damit einhergehenden exekutiv-kooperativen Politikstils gehört die schleichende Entmachtung des Bundestages. Gestaltungsmacht ist hingegen den Runden Tischen und Kommissionen, den neokorporatistischen-verbändestaatlichen Formen der Politik sowie der Darstellungspolitik („going public“ ) zugewachsen.


Schröder hat dazu nicht nur die Mehrheitsfraktion im Deutschen Bundestag instrumentalisiert, sondern immer wieder auch die Opposition und die Medien. Drohte die parlamentarische Arena zu bröckeln, organisierte er Druck über die Mechanismen der Nebenregierungen. Blieb er auch hierbei erfolglos, setzte Telepolitik in der öffentlichen Arena ein. Mit dem Agieren in der Parteiendemokratie Bonner Provenienz hat das nur noch wenig zu tun. Parteipolitische und koalitionspolitische Mehrheiten musste sich auch Bundeskanzler Kohl permanent erarbeiten. Doch spielten vergleichbar wichtige andere Machtressourcen keine nennenswerte Rolle.


In der ersten Phase der Kanzlerschaft von Schröder kam die Präsidentialisierung einem daytrading gleich, einer fast schon plebiszitären Umwandlung der Berliner Republik. Zunächst tastete Schröder wie in einer Demoskopie-Demokratie die inhaltlichen Spielräume ab. Stießen die Regierungsvorschläge auf öffentlichen Widerstand, wurden neue Optionen gesucht. All das entsprang einer Legitimation des Augenblicks. Tägliche Umfragen und extreme Demoskopiefixierung sicherten die Rückbindung an fluide Wählerstimmen. Regieren erschien gleichsam im Minutentakt als Antwort auf den Rollenzuwachs der öffentlichen Arena und die Aushöhlung der Parteien- und Koalitionsdemokratie, in der Schröder notgedrungen nur eine Quelle seiner Macht sah. Die Präsidentialisierung der parlamentarischen Parteiendemokratie wurde begleitet von einem Machtzuwachs von Nichtgewählten im Umfeld des Kanzlers („sofa government“). Tendenziell wurde so durch die extreme Personalisierung die Einheit von Regierungsfraktion und Regierung geschwächt. Zwar funktioniert die repräsentativ-parlamentarische Demokratie noch in ihren tradierten Bahnen, doch hat sich daneben ein neues Regulierungsmodell etabliert, in dem alles Repräsentative zur Kulisse verdammt ist. Die präsidentielle Demokratie ist mithin auch eine Präsentationsdemokratie. Sie favorisiert das Präsentativ-Plebiszitäre als strategische Antwort der Politik auf immer wählerischer werdende Wähler.


Nach dem inhaltlichen Neustart der Regierung in 2003 führt Schröder noch sichtbarer als vorher in der Rolle des Kanzlerpräsidenten. Die Reformdebatte hat er zur Chefsache erklärt. Es ist ihm gelungen, die vielen Vetospieler des politischen Systems transparent zu machen und in Mithaftung zu nehmen. Das gilt besonders anschaulich für das Gipfeltreffen der Parteivorsitzenden im Bundesrat vom Dezember 2003. Seither ist der Kanzler personifizierter Ideenträger des reformorientierten Modernisierungskurses. Erneut hat er entscheidungsorierientierte Mehrheiten strategisch im Blickfeld, die für die Bundestagswahl 2006 wichtig sein können. Die erzwungene Arbeitsteilung mit dem neuen Parteiführer und Fraktionsvorsitzenden Müntefering zu Beginn des Jahres 2004 antizipierte vorausschauend ein desaströs verlorenes Wahljahr 2004. Seither transportiert der Parteivorsitzende und nicht der Kanzler die schlechten Wahlbotschaften. Präsidentiell pflegt Schröder die Agenda der Außenpolitik. Überparteilich appelliert er an die Bürger, um die Notwendigkeiten für Systemveränderungen am Sozialstaat zu goutieren. Schröders Eigenanteile an der Erosion der Volksparteiendemokratie – ein weiteres Indiz für eine Präsidentenrepublik – setzten schon früh mit seinem rebellenhaften Umgang mit der eigenen Partei ein. Die Aushöhlung der Volksparteien durch Mitglieder- und Ansehensverluste zeigt sich dramatisch an den Wahlen des Jahres 2004.

Kanzlerpräsident Schröder bleibt populär

Unbehelligt vom Sympathieverlust der SPD bleibt der Kanzlerpräsident Schröder in allen Meinungsumfragen äußerst populär. Mehrheiten für unpopuläre Maßnahmen durch starke politische Führung zu organisieren wird in dem Maße möglich, wie einerseits die Einsicht in der Bevölkerung gewachsen ist, dass der Reformstau aufgelöst werden muss und andererseits parteipolitische Alternativen derzeit wenig attraktiv erscheinen.


Der Kanzlerpräsident ist in der Berliner Republik nicht linear machtvoller und stärker geworden. Regierungschefs, die sich in parlamentarischen Systemen graduell einer präsidentiellen Funktionslogik annähern, sind nicht täglich Gewinner dieser Steuerung. Bereits die aus der Wählerwut resultierenden verheerenden Verluste der SPD in den vergangenen Jahre dokumentieren dies. Wer sich angesichts der Mehrheitsverhältnisse in der zweiten Kammer, Mehrheiten wo und wie auch immer neu organisieren muss, der kann auch schnell Verlierer sein. Viel hängt davon ab, wie starke politische Führung vertrauensvoll ausgeübt wird. Wird der Weg einer strategischen Reformkommunikation gewählt, dann kann solch ein Kanzlerpräsident Agenda-Setting betreiben, um auch zukünftige Mehrheiten für sozialpolitische Einschnitte zu erhalten.


Der Begriff der Berliner Republik ist somit nicht nur eine Chimäre des Feuilletons, sondern durchaus eine systemische Neuakzentuierung, die auch eine begriffsgleiche Zeitschrift verdient hat. Vielleicht sogar ist diese Neuakzentuierung die deutsche Antwort auf eine Politik der wachsenden Zumutungen.

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