Jamie Oliver war erfolgreicher

zu Ines Heindl, Wenn Aufklärung nicht mehr genügt, Berliner Republik 2/2011

Ines Heindl stellt eine wichtige Frage: Wie kann der Staat seine Bürger dazu bewegen, sich besser zu ernähren? Von Großbritannien lässt sich dabei einiges lernen: Wie in vielen anderen westlichen Ländern sorgt auf der Insel wachsender Wohlstand dafür, dass in den Haushalten gut ein Drittel aller Nahrungsmittel in die Mülltonne wandern. Zugleich essen die Briten zu viel und oft das Falsche – zu viel Fettes, zu viel Salz und viel zu viel Süßes. Laut einer neuen Untersuchung hat der Taillenumfang elfjähriger Mädchen und Jungen binnen drei Jahrzehnten um zehn beziehungsweise neun Zentimeter zugenommen. 24 Prozent aller britischen Kinder sind fettleibig. Die Fettleibigkeit hat eine Explosion von Diabetes, Krebs und Herzkrankheiten ausgelöst und treibt die Kosten im Gesundheitswesen in schwindelerregende Höhen. Im April 2011 veröffentlichte der nationale Gesundheitsdienst NHS die neuesten Statistiken: Der Trend hat eher noch zugenommen, die Fälle von Altersdiabetes häufen sich. Und das, obwohl die britischen Regierungen, lokale Behörden und viele andere staatliche Instanzen den Bürgern die Ernährungsbotschaften rund um die Uhr eingehämmert haben: Esst fünf Portionen Gemüse oder Obst am Tag! Nehmt nicht mehr als drei „Einheiten“ Alkohol zu euch! Diese Botschaften blieben durchaus hängen. Nur richten sich die meisten Briten nicht danach.   

In seinem Bericht empfiehlt der NHS, das Problem der Fettleibigkeit durch den Einsatz von Magenbändern zu entschärfen. Nur so könne die drohende Kostenexplosion abgemildert werden. Das Magenband ist eine Kapitulationserklärung, ein Symbol dafür, wie gering der Einfluss der Politik auf das Verhalten der Bürger ist. Alle Kampagnen konnten nicht verhindern, dass die Briten in der internationalen Liga der Fettleibigkeit Bauch an Bauch mit den Deutschen liegen, auf dem zweiten Rang hinter den Amerikanern.

Die Ohnmacht der Politik lässt sich beispielhaft am britischen Phänomen des „binge drinking“ beschreiben: Dabei schütten vor allem junge Menschen in kürzester Zeit so viel Alkoholika wie nur möglich in sich hinein – um sich anschließend richtig gehenzulassen. Premierminister Tony Blair entschied sich im Jahr 2004 zu einer harten Gangart, um dieses soziale Problem einzudämmen: Die Regierung stellte einen Katalog der Sünden auf, die seitdem mit saftigen Geldstrafen geahndet werden. Wer auf offener Straße uriniert, erbricht, rumpöbelt oder prügelt, dem knöpft die Polizei auf der Stelle 80 Pfund ab. Im Sommer 2004 probierte die Polizei die neue Taktik in besonders arg von Alkohol-Exzessen gebeutelten Stadtzentren erstmals aus. Es kam zu Tausenden von Geldstrafen und fast 5.000 Verhaftungen. Zunächst stieß die Strategie auf breite Zustimmung der Öffentlichkeit. Der exzessive Hedonismus der jungen Briten geht vielen, zumal älteren Bürgern auf die Nerven. Doch dann wandelte sich die Stimmung. Tony Blairs Regierung wurde einer allzu autoritären Gangart bezichtigt. Viele Kritiker von links wie rechts sahen in den Maßnahmen eine Bedrohung individueller Freiheiten. Im Übrigen vermochte das schärfere Vorgehen der Polizei nur die Auswüchse zu mindern, nicht aber das Verhalten selbst zu ändern.  

Auch andere Versuche, die Bürger von schlechten Gewohnheiten abzubringen, waren in Großbritannien nur begrenzt erfolgreich. Beispielsweise erließ die Labour-Regierung ein scharfes, ja drakonisches Rauchverbot – nicht nur für alle Restaurants und Kneipen, sondern auch für „Working Mens Clubs“ und die „Londoner Gentlemen Clubs“. Die Folge: Tausende von Pubs gingen ein. Dafür wird jetzt mehr zu Hause geraucht und getrunken. Premierminister David Cameron plant ein noch schärferes Vorgehen: Zigaretten sollen nur noch unter der Ladentheke und ohne Markennamen verkauft werden.

Der bislang größte Erfolg in Sachen Verhaltensänderungen ist nicht einer britischen Regierung gelungen, sondern einem jungen Fernsehkoch mit schnoddrigem Mundwerk: Jamie Oliver mit seiner Reality-Sendung „Jamies School Dinners“. Vor fünf Jahren hatte er sich zum Ziel gesetzt, Schulkinder an besseres, gesünderes Essen heranzuführen und die Mahlzeiten an den Staatsschulen zu revolutionieren. Eine Untersuchung der Universität Oxford ergab, dass Olivers Rezepte bereits nach fünf Jahren zu merklich besseren Leistungen geführt haben als in den umliegenden Vergleichsschulen.

Der Weg dahin war alles andere als leicht, gerade angesichts seiner Zielgruppe. Aus Rotherham, einer ziemlich tristen Stadt im Norden Englands, in der das Experiment begann, wurde nach kurzer Zeit Widerstand gemeldet gegen den erfolgsverwöhnten Starkoch: In der Kantine der Schule gab es nur noch Mahlzeiten nach Jamie Olivers Rezepten, etwa Risotto mit Hühnchen und Gemüse, Lachs und Brokkoli mit Pasta oder Lauch und Makkaroni mit Käse überbacken. Burger, Fish and Chips und die berühmt-berüchtigten „Turkey Twizzlers“ aus Truthahnresten und Fett, serviert mit Geschmacksstoffen, waren vom Speiseplan verschwunden. Und zur Mittagszeit durften die Schüler ihre Schule nicht mehr verlassen, damit sie sich draußen nicht mit Fritten oder Hamburgern versorgen konnten.

Doch einige Mütter gingen auf die Barrikaden. Mittags erschienen sie am Schulzaun, nahmen Bestellungen auf und kehrten mit Hamburgern, Fritten und Cola zurück. Die Schule, behaupteten sie, habe einen abrupten Kurswechsel verhängt, ohne die Eltern zu fragen. Das wolle man sich nicht bieten lassen. Überhaupt gehe ihnen Jamie Olivers Gequatsche über gesunde Ernährung auf die Nerven. Ihre Kinder sollten handfeste Nahrung essen, nicht „Salat, müde Tomaten oder Reis“. Die Schule nahm die Junkfood-Lieferungen nicht tatenlos hin, sie verbot die Aktion der Mütter. Die Medien mischten sich ein. Die Sun bezeichnete die Frauen als „Junk Mothers“. Hingegen pochten libertär gesonnene Zeitgenossen auf ihr Recht, fett zu essen. Selbst der füllige Boris Johnson, jetzt Bürgermeister von London, machte abfällige Bemerkungen über die „Gesundheitspolizei“.

Jamie Oliver reagierte auf die Revolte ungewöhnlich heftig. Zwei Jahre lang habe er sich „politisch korrekt“ ausgedrückt, was gewisse Eltern betrifft. Nun sei es an der Zeit, Klartext zu sprechen: Ein „fucking arsehole“ sei, wer seinen Kindern eine Flasche nach der anderen mit süßen Drinks gebe; ein „Idiot“, wer junge Kinder „regelmäßig mit süßem Scheißkram“ versorge. Sein Kreuzzug sei bitter nötig angesichts wachsender  Fettleibigkeit und Diabetes-Erkrankungen unter Kindern und Jugendlichen in Großbritannien.

Die britischen Erfahrungen zeigen, auf welches gefährliche Minenfeld sich Politiker begeben, wenn sie Veränderungen im Verhalten der Bürger erreichen wollen. Intervenieren sie, droht ihnen der Vorwurf, den „Gouvernantenstaat“ anzustreben. Tun sie nichts, erschallt der Vorwurf der Gleichgültig- und Herzlosigkeit. Kein Wunder, dass die angelsächsische Politik – von New Labour und David Cameron bis Barack Obama – derzeit begierig auf die Ideen der Wissenschaftler Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein zurückgreift, die in ihrem Buch Nudge eine Art „Dritten Weg“ zwischen Zwang und Untätigkeit vorschlagen. David Cameron ließ in 10 Downing Street sogar eine eigene „Nudge-Abteilung“ einrichten. Die Nudge-Theoretiker gehen davon aus, dass die Bürger nicht immer rational agieren, sonst würden sie ja permanent am Aktienmarkt investieren oder nicht rauchen. Jedoch sei es kontraproduktiv und zum Scheitern verurteilt, sie mit Gewalt von „irrationalem Verhalten“ abzubringen. Vielmehr müsse man sie mittels leichter Anstöße, Anreizen und Informationen dazu bewegen, ihr Verhalten zu ändern. Doch Skepsis bleibt angebracht, ob ein „libertärer Paternalismus“ das Problem lösen kann.  

Zugleich ist der Erfolg von Jamie Olivers Kampagne ein Beleg für die Machtverschiebung in den modernen Mediendemokratien des Westens. Eine Fernsehgröße besitzt mehr Einfluss als gewählte Volksvertreter. Auch dieser Realität muss Politik Rechnung tragen. Das Problem gesundheitsschädigenden Verhaltens kann sie nur entschärfen, wenn sie offen bleibt, aus Erfahrungen lernt und verschiedene Wege gleichzeitig verfolgt. «

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