It's the Finanzföderalismus, stupid!

Hartz IV hat Langzeitarbeitslose aktiviert - und die Spaltung des Arbeitsmarktes verstärkt. Ohne neue Abgabenstruktur wird daran nichts zu ändern sein

Hartz IV hat die Republik verändert: Die Reform hat den Wohlfahrtsstaat liberalisiert, den Arbeitsmarkt aktiviert und zur Fragmentierung des Parteiensystems beigetragen. Fünf Jahre nach Inkrafttreten der Hartz-Reformen ist das Thema noch immer in aller Munde und der deutsche Arbeitsmarkt eine Dauerbaustelle. In dieser Situation hilft ein Blick zurück. Den Prozess der Hartz-Gesetzgebung zu verstehen, ermöglicht uns, Fallstricke im System zu erkennen und Fehler zu vermeiden. Denn es sind immer wieder die gleichen Fehlkonstruktionen, die eine Weiterentwicklung der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik verhindern.

Zunächst: Hartz IV ist nicht Armut per Gesetz. Vielmehr gibt es Gewinner und Verlierer. Zu den Gewinnern gehören die ehemaligen Sozialhilfebezieher, die nun wieder in die Arbeitsmarktpolitik einbezogen wurden. Die Verlierer waren Langzeitarbeitslose in Ostdeutschland mit Arbeitslosenhilfebezug. Auf dem Arbeitsmarkt sind große Fortschritte erzielt worden. Die Bilanz der Aktivierung ist in Europa nahezu unübertroffen. Gleichzeitig haben die Reformen jedoch andere Probleme ignoriert und wieder andere erst geschaffen. Dazu gehören die relativ neuen Phänomene der Unterbeschäftigung von Arbeitnehmern, die Vollzeit erwerbsfähig sind und neue Formen der Lohnsubvention. Auch der Trend einer sich vertiefenden Spaltung des Arbeitsmarktes ist Teil des Problems: abgesicherte Vollzeitbeschäftigung in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen auf der einen Seite und unsichere Teilzeitbeschäftigungen mit minimalen sozialen Sicherungsansprüchen auf der anderen Seite.

Für die Reform gab es zwei Triebfedern. Zum einen wurde das normative Fundament der bestehenden Arbeitsmarktpolitik ab Mitte der neunziger Jahre vom größeren Teil der Führung der SPD, der CDU und der Grünen nicht länger geteilt. Gleichzeitig gab es auf Länderebene zunehmend Kritik an den hohen Kosten und geringen Effekten der bestehenden Arbeitsmarktpolitik. Die Praxis der „Kurzarbeit Null“, der Beschäftigungsgesellschaften und der langen Bezugszeiten der Arbeitslosenhilfe, besonders in den neuen Bundesländern, bewerteten Experten zunehmend kritisch. Im Laufe der Zeit etablierte sich daher in weiten Kreisen die Überzeugung, die bestehende Arbeitsmarktpolitik sei ineffektiv, ungerecht und verschwenderisch. Eine grundsätzliche Neuorientierung sei notwendig. Führende Sozialdemokraten fürchteten um ihre Wahlchancen, weil die erwerbstätigen Wähler die traditionelle Stillegungspolitik kritisch sehen könnten.

Zum anderen geriet der bestehende Verschiebebahnhof zwischen Kommunen und der Bundesanstalt für Arbeit (BA) an seine Grenzen. Seit den achtziger und neunziger Jahren versuchten die Kommunen, Sozialhilfeempfängern eine vorübergehende sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu verschaffen, damit sie im Anschluss in den Genuss von Arbeitslosengeld kamen und die Haushalte der Kommunen entlasteten. Gleichzeitig stieg die Zahl der Sozialhilfebezieher kontinuierlich, zumal immer mehr Bezieher von Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe aufstockende Sozialhilfe benötigten. Zum Problem des Verschiebebahnhofs Kommune und BA kamen zwei weitere wichtige Aspekte: Erstens hatte Hans Eichels große Steuerreform im Jahr 2000 die bereits belasteten Haushalte der Kommunen an den Rand des finanziellen Ruins getrieben. Zweitens war die Belastung der Kommunen durch Sozialhilfeempfänger ebenso wie die Verteilung der Empfänger von Arbeitslosenhilfe regional höchst unterschiedlich verteilt. Beides führte zu erheblichen regionalen Umverteilungen der Finanzflüsse an die Kommunen, als die Bundesregierung Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegte.

Kommunen in der Haushaltskrise

Damit wurde eine akute Schieflage der Kommunalfinanzen zur Triebfeder einer Strukturreform, wobei der Handlungsdruck zur finanziellen Rettung der Kommunen ständig anstieg. Aus rein arbeitsmarktpolitischen Überlegungen heraus hätte eine administrativ erheblich einfachere Alternative darin bestanden, die Arbeitslosenhilfe zu befristen und Langzeitarbeitslose in den Bezug der Sozialhilfe zu überführen. Oder man hätte die Arbeitslosenhilfe stärker degressiv ausgestalten können, was ebenfalls die Arbeitsteilung zwischen BA und Kommunen im Grundsatz nicht geändert hätte. Zugleich hätte man die Arbeitslosenhilfe armutsfest gestalten und die kommunale Beschäftigungspolitik für Langzeitarbeitslose weiter ausbauen können. Diese Alternativen waren in erster Linie dadurch blockiert, dass sich die Kommunen in der größten Haushaltskrise der Nachkriegszeit befanden. Es gibt keine Möglichkeit einer direkten Finanzierung der Kommunen durch den Bund, bei der notleidende Kommunen höhere Zuweisungen erhalten als wohlhabende Kommunen. Daher musste der Bund den übergroßen Teil der Sozialhilfebezieher in die Verantwortung des Bundes überführen, um diesen Ungleichgewichten zu begegnen.

Die fiskalische Frage war nicht nur eine wesentliche Triebfeder der Reform, sie hat auch die Ausgestaltung der Reform maßgeblich mitgeprägt. Ein Beispiel ist die Entscheidung, die Transferleistung auf der Höhe der Sozialhilfe anzusiedeln und die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes zu verringern – trotz gegenteiliger Beteuerungen im Wahlkampf. Dies war in erster Linie dem (im Ergebnis deutlich verfehlten) Ziel geschuldet, die Folgekosten für den Bundeshaushalt unter Kontrolle zu bringen. So wurde eine fachpolitisch motivierte Reformagenda durch finanzpolitische Sonderinteressen im Zusammenspiel von Bund und Ländern nicht nur maßgeblich verformt, sondern auch erheblich verteuert.

In Zukunft geht es um mehr Qualität


Die Aktivierung der Langzeitarbeitslosen hat viele strukturelle Probleme am Arbeitsmarkt nicht gelöst. Die Arbeitslosenquote gering Qualifizierter ist noch immer erheblich höher als die der höher Qualifizierten. Der Arbeitsmarkt spaltet sich zunehmend in Kern- und Randbelegschaft. Es hat sich ein Segment von Unterbeschäftigten herausgebildet, die zuvor langzeitarbeitslos waren. Außerdem sind viele der neuen Arbeitsmöglichkeiten im Vergleich zu der Mehrheit der Arbeitsplätze von geringerer Qualität. Sie liegen oftmals im Bereich der Zeitarbeit, der geringfügigen Beschäftigung und sind befristet. Auch sind sie gering entlohnt, und die Einkommen der Betroffenen müssen regelmäßig mittels Transferleistungen aufgestockt werden.

Durch die Hintertür hat die Hartz-IV-Reform ein Abgabenregime eingeführt, wie es viele angelsächsische Länder seit längerem kennen: Dort wird die Beschäftigung im Niedriglohnsektor über eine negative Einkommenssteuer subventioniert. Im deutschen Fall wurde eine ähnliche Lösung in die Debatte eingeführt; die Rede ist vom Kombilohn. Beiden Konzepten liegt die gleiche Idee zugrunde: Das am Markt erzielte Einkommen wird mit möglichen Transfereinnahmen verrechnet. Ein Einkommen speist sich somit aus zwei Quellen, einem geringen Lohn und einer zusätzlichen Transferleistung.

Die nächsten Reformschritte auf der Baustelle Arbeitsmarkt müssten daher zum Ziel haben, die zurzeit gering entlohnten und qualitativ unterdurchschnittlichen Beschäftigungsverhältnisse auf ein höheres Niveau zu bringen, ohne dass eventuell höhere Kosten Arbeitsplätze und die Beschäftigungsquote in Gefahr bringen. Dafür müssten Löhne und Einkommen steigen und Qualifikationen verbessert, das Arbeitsvolumen geringfügig Beschäftigter vergrößert und die Beschäftigungssicherheit erhöht werden. Mit anderen Worten, die Bereitschaft und Möglichkeiten der Arbeitgeber, gute Arbeitsplätze anzubieten, müsste durch eine politische Flankierung und Regulierung erhöht werden. Gleichzeitig müsste der Anreiz für geringfügig Beschäftigte verbessert werden, sich eine sozialversicherungspflichtige Arbeit zu suchen. Statt weiter allein auf Aktivierung und Beschäftigungsaufbau um jeden Preis als wesentliches Ziel der Arbeitsmarktpolitik zu setzen, sollte in den kommenden Jahren die qualitative Verbesserung der Beschäftigungsverhältnisse in den Vordergrund rücken.

Ein wichtiger Hemmschuh für die Ausweitung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung, also der Arbeitsplätze oberhalb von Mini- und Midijobs, ist jedoch die Kostenbelastung im unteren Bereich des Arbeitsmarktes. Mit anderen Worten: Sowohl der Umfang neuer Beschäftigung wie auch die Qualität bestehender Arbeitsplätze werden maßgeblich von der Kostenstruktur der Abgaben und Steuern auf Arbeit beeinflusst.

Dieses Problem haben die Hartz-Reformen nicht gelöst, sondern lediglich verschoben. Aufgrund der Zuverdienstmöglichkeiten im Hartz-IV-Bezug kann es jetzt zu Situationen kommen, in denen das Einkommen von Arbeitnehmern, die mehrere Kinder und Angehörige zu versorgen haben und Vollzeit beschäftigt sind, zunächst durch eine hohe Abgabenlast gemindert wird, wodurch sie transferleistungsberechtigt werden. Arbeitnehmer mit Bruttoeinkommen, die prinzipiell ein Auskommen des Einzelnen ermöglichen sollten, werden so in die Sozialleistungsfalle getrieben. Gäbe es bereits bei den Sozialversicherungsbeiträgen einen Freibetrag für Kinder und ein existenzsicherndes Grundeinkommen, dann würde dieser Transferbezug erst gar nicht entstehen.

Bei den „working poor“ liegt Deutschland vorn


Das Problem wird dadurch verstärkt, dass der deutsche Arbeitsmarkt keinen gesetzlichen Mindestlohn kennt. Denn ein Mindestlohn verhindert, dass Arbeitgeber den Kombilohn dazu nutzen, Stundenlöhne nach unten zu drücken. Wenn Arbeitnehmer aufstockende Hilfeleistungen in Anspruch nehmen können, weil ihre Einkommen zu gering sind, besteht die Gefahr, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich allein deshalb auf einen geringen Stundenlohn einigen, um Kosten zu sparen, die wiederum von der Bundesagentur für Arbeit über Arbeitslosengeld II und Wohngeld ausgeglichen werden müssen. In der Folge sinken die Löhne für breite Einkommensgruppen, da Niedriglohnunternehmen andere Unternehmen auf dem Markt unterbieten können. Mittlerweile liegt Deutschland beim Anteil der working poor  (derjenigen Vollzeitarbeitnehmer, die weniger als zwei Drittel des Durchschnittlohns verdienen) innerhalb der EU an der Spitze. Zu verdanken ist dies in einem beträchtlichen Maße dieser Lohnkonkurrenz und den Mitnahmeeffekten durch die Möglichkeiten, den Lohn mit Hartz IV aufzustocken.

Mehr Vollerwerbsarbeit, weniger Outsider

Anstatt Jobs in geringfügige Bestandteile aufzuteilen und damit die Kosten zu drücken, sollte Vollzeiterwerbstätigkeit mittels Freibeträgen und einer progressiven Abgabenstruktur gefördert werden. Damit würde auch die derzeit rapide wachsende Kluft wieder geschlossen zwischen Arbeitsmarkt-Insidern mit festen Beschäftigungsverhältnissen zu vergleichsweise guten Bedingungen und Outsidern, die zwischen Arbeitslosigkeit und geringfügiger Beschäftigung hin und her pendeln.

Paradoxerweise wirkt die deutsche Finanzverfassung, die zuvor eine Triebfeder für die Hartz-Reform war, nun als ein wesentlicher Blockadefaktor für eine Abgabenentlastung am unteren Rand des Arbeitsmarktes. Dass die Einkommen von Niedrigverdienern vergleichsweise hoch besteuert werden, findet seinen Ursprung wiederum in der föderalen Finanzverfassung. Zum einen sind die paritätische Finanzierung der Sozialversicherungen und damit der Ursprung der Sozialpolitik als Versicherungsleistung zu nennen. Sozialversicherungsabgaben sind im Unterschied zu Steuern anteilige Abgaben und belasten niedrigere Gehälter überproportional. Zum anderen geht die hohe Abgabenlast darauf zurück, dass die Höhe der Sozialversicherungsabgaben dem direkten Zugriff der Bundesregierung unterliegt und nicht, wie fast jede andere Steuerart, mit den Bundesländern abgestimmt werden muss. Da die schwarz-gelbe Koalition eine Steuersenkungspolitik angekündigt hat, sind keine weiteren Fortschritte in Richtung Steuerfinanzierung der Sozialversicherung zu erhoffen. Derzeit muss der Bund an der Finanzierung der Sozialversicherungen über Beiträge festhalten, um sich eine gewisse Steuerautonomie von den Bundesländern zu erhalten. Damit wird eine aus beschäftigungspolitischer Perspektive schädliche Abgabenstruktur für niedrigentlohnte Beschäftigung weiter zementiert.

Die weitere Entwicklung der sozialen Sicherungssysteme und der Arbeitsmarktpolitik wird auch in Zukunft durch die finanziellen Restriktionen und Strukturen der Finanzverfassung bestimmt werden. Zu den wichtigsten Determinanten der unmittelbaren Zukunft gehören, dass das Defizit der Kommunen nach Aussagen der Präsidentin des Städtetags Petra Roth (CDU) in diesem Jahr 15 Milliarden Euro betragen wird. Damit würden die Städte ihren bisherigen Negativrekord aus dem Krisenjahr 2003 fast verdoppeln. Finanzpolitisch waren die Hartz-IV-Reformen für die Kommunen nicht mehr als eine Atempause.

Gleichzeitig rollt eine gewaltige Welle notwendiger Haushaltskonsolidierungen auf den Bundeshaushalt zu. Die in der Föderalismusreform 2009 vereinbarte Schuldenbremse zwingt den Bund, die Neuverschuldung kontinuierlich abzubauen. Der Posten des Arbeitsministeriums ist der mit Abstand größte Einzelhaushalt innerhalb der Bundesregierung. Die Leistungen für das Arbeitslosengeld II umfassen gemeinsam mit den Zuschüssen zur Sozialversicherung mehr als 60 Prozent des Bundeshaushalts. 

Die Kombination dieser Faktoren spiegelt den neuen Anpassungsdruck für die Hilfesysteme wider. Der hohe und steigende Anteil der Zuschüsse des Bundeshaushalts an die sozialen Sicherungssysteme wird einer Senkung der Beiträge zur Sozialversicherung entgegenstehen. Was sind die wahrscheinlichen Folgen für den Bund? Man kann sich vorstellen, dass die Schwächung des Versicherungsprinzips durch Hartz IV zu einer weiteren Absenkung der Leistungen der Arbeitslosenversicherung führen wird, entweder durch eine Senkung der Lohnersatzraten oder durch die Verkürzung der Bezugsdauer. Bereits in den neunziger Jahren wurden die Lohnersatzraten regelmäßig gesenkt. Während Deutschland im internationalen Vergleich bereits heute nicht mehr zu den großzügigeren Arbeitslosenversicherungssystemen gehört, würde eine relative Absenkung der Lohnersatzquoten auch jetzt den Bundeshaushalt wieder direkt entlasten. Damit würde der Abstand zwischen den Transferleistungen Arbeitslosengeld I und II immer geringer werden.

Ohne neue Finanzverfassung wird’s nicht besser

Auf diese Art und Weise nähert sich die deutsche Arbeitslosenversicherung immer weiter einem liberalen Wohlfahrtsstaat an. Einer vergleichsweise großzügigen Grundsicherung wird eine restriktive Arbeitslosenversicherung an die Seite gestellt. Letztlich ist für die Betroffenen der Unterschied in der materiellen Absicherung mit Ausnahme der Vermögensanrechnung nicht mehr erheblich. Eine weitere Sparmöglichkeit besteht darin, das Volumen der aktiven Arbeitsmarktpolitik im Sinne eines Stop-and-Go jederzeit drosseln und ausweiten zu können, allerdings mit kaum absehbaren Folgen für den Arbeitsmarkt. Der Abschaffung der Arbeitslosenversicherung steht ihre Rolle als reine Bundessteuer entgegen. Wahrscheinlicher sind daher moderate Erhöhungen des Beitrages zur Arbeitslosenversicherung.
Der Befund lautet also, dass sich der zunehmenden Spaltung des Arbeitsmarktes ohne eine umfassende Reform der Finanzverfassung des deutschen Föderalismus und der Sozialversicherung nur wenig entgegenwirken lässt. Dies gilt umso mehr, als dass die investiven Elemente der Sozialpolitik in Bildung und Kinderbetreuung, die nach Urteil aller Experten von großer Bedeutung für zukünftiges Wachstum sind, komplett in der Hand der Bundesländer und Kommunen liegen. Die Zukunft des deutschen Wohlfahrtsstaats liegt in den Händen der Finanzverfassung. Das sind die Lehren aus Hartz IV. «

Eine umfassende Analyse der sozialdemokratischen Arbeitsmarktreformen findet sich in dem gerade erschienenen Buch der Autorin: Anke Hassel und Christof Schiller, Der Fall Hartz IV: Wie es zur Agenda 2010 kam und wie es weitergeht, Frankfurt am Main: Campus Verlag 2010, 348 Seiten, 24,90 Euro

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