It’s morning in Northrhine-Westfalia

Hannelore Krafts Version von Sozialdemokratie verbindet die Elemente Kümmern, Investieren und Konsolidieren. Erweist sich ihr rot-grünes Politik-modell über die Euphorie des Anfangs hinaus als wirklichkeitstauglich, wird es auch jenseits von Rhein und Ruhr Schule machen

Nur wenige sehen Alternativen zur bürgerlichen Sparpolitik – trotz Dauerkrise. Nach dreißig Jahren neoliberaler Dominanz im Denken und Handeln ist man froh, wenn das politische Geschäft zugunsten einer marktkonformen Demokratie akkurat abgewickelt wird, was die Kanzlerin mit ihrer vorgeblich schwäbischen Hausfrauenpolitik so beliebt macht. Fünf Jahre nach dem Aus für die Regierung Schröder/Fischer schien Rot-Grün das Letzte zu sein, was dazu glaubwürdige Alternativen versprach. Dass Rot-Grün aber sieben Jahre später im größten Bundesland – zumal im Boomjahr der Piraten – eine klare Mehrheit holt, ist nicht nur mit Oppositionswahlverhalten der Bürger zu erklären: Das hätte auch an der Spree, an der Saar oder an der Förde wirken können. Was ist also dran an Rot-Grün 2.0 in Nordrhein-Westfalen, wo doch Rot-Grün 1.0 unter Wolfgang Clement und Bärbel Höhn nicht nur dort als die Mutter aller Dauerkrach-Koalitionen erinnert wird?

Am Anfang stand die Niederlage, die Hegel zufolge die Verlierer zum Nachdenken zwingt. Nach vierzig Jahren an der Regierung zeigte die NRW-SPD klare Ermüdungserscheinungen. Im Zuge von Gerhard Schröders Sozialreformen verlor sie binnen weniger Jahre etwa 100.000 Mitglieder. Intern zerschlugen Franz Münteferings Parteireformen den gewachsenen Unterbau aus Bezirken und Unterbezirken zugunsten eines matten Landesverbands. Der Absturz in der Wählergunst zwang die SPD dann in eine ungeliebte Koalition mit eher linken NRW-Grünen, was den „Partnern“ große Reibungsverluste bescherte. Als Wolfgang Clement auf Johannes Rau folgte, wechselte die SPD-Spitze von fürsorglichem Paternalismus zu aktionistischem Autoritarismus. Mit seiner „Flucht in die Bundesregierung“ im Jahr 2003 hinterließ Clement eine gelähmte, ratlose Partei mit vielen offenen Baustellen. Seinem Nachfolger Peer Steinbrück fehlten die Zeit, die Einfühlungsgabe und das Konzept, um Regierungsapparat und Partei zu reformieren. Nach dem Sieg des selbsternannten christdemokratischen Arbeiterführers Jürgen Rüttgers 2005 taumelte die nordrhein-westfälische SPD im Ring. In der Bundes-SPD gaben nach Schröder die Niedersachsen den Ton an. Gegenüber Schwarz-Gelb im Bund wirkte die gute alte NRW-SPD mit ihren Versöhnungsappellen gestrig und provinziell. Aber Krisen bieten Außenseitern Chancen. Diesmal hieß die Newcomerin Hannelore Kraft.

Kraft stieg wie die harten Kerle der Schröder-Ära aus kleinen Verhältnissen auf. Mit Ehrgeiz, Fleiß und Einfühlungsvermögen arbeitete sie sich aus dem Mülheimer Arbeitermilieu zur Unternehmensberaterin hoch, ohne die Wurzeln zum Heimatmilieu zu kappen. Seither spricht sie die Sprache der „kleinen Leute“ wie die der Eliten. Vor Ökonomen hat sie keine Angst, die sie großspurig überspielen müsste, sie ist selber eine. Kraft ist ausdauernd, Perfektionistin, hat einen Riecher für Personal und Themen und scheint sich für die Menschen zu interessieren.

In kurzer Zeit setzte sie sich im Männerverein NRW-SPD durch, obwohl sie erst spät in die Partei kam und als resolute Quereinsteigerin nie nur Freunde hatte. Seit sie 2007 in schwieriger Lage den Landes- und Fraktionsvorsitz übernahm, wurde sie in ihrer Doppelrolle immer sicherer, sind kritische Stimmen zusehends verstummt. Als Ministerpräsidentin gelang es ihr, mit ihrer emotionalen Rede anlässlich der Katastrophe bei der Duisburger Loveparade in die Rolle der unbestrittenen Landesmutter hineinzuwachsen, ohne abgehoben zu wirken. Im Wahlkampf registrierten viele Medien, dass sie die SPD mit ihrer „Tatkraft“ wieder zur Partei der Kümmerer gemacht hat. Das erklärt auch ihre enormen Glaubwürdigkeits- und Sympathiewerte: 75 Prozent aller Wähler fanden, sie mache gute Arbeit. Dazu befragt, sagt sie nur: „Nicht mehr versprechen, als man halten kann, und das umsetzen.“ Und die Menschen attestieren ihr, genau das getan zu haben. Der Spiegel nannte sie in einem sichtlich um Kritik bemühten Porträt „Hannelore Rau“. Das galt in der Heimat des großen Versöhners als denkbar größtes Kompliment.

Geräuschloses Regieren kommt besser an

Fünf Jahre nach dem Aus für Rot-Grün 1.0 in Nordrhein-Westfalen verbesserte sich die Ausgangslage für die Wiederauflage 2.0: Beide Partner hatten verstanden, dass man Konflikte lieber frühzeitig beredet, als sie öffentlich auszutragen, und dass geräuschloses Regieren besser ankommt als Profilbildung auf Kosten des jeweils Anderen. Nicht nur Kraft und die grüne Fraktionschefin Sylvia Löhrmann hatten diese Lektion gelernt: Die Ruhr-SPD war angesichts kommunaler Erfolge der CDU von ihrem Anti-Grün-Trip fast geheilt, während Grüne wie Rainer Priggen und Johannes Remmel schwarz-grünen Träumen wenig Raum gaben und Umwelt- und Industriepolitik kombinieren wollten. Beide Parteien opponierten gemeinsam gegen die CDU von Jürgen Rüttgers und stießen im Jahr 2010 in die weiche Flanke der Union: Schwarz-Gelb im Bund begann als Debakel und Rüttgers musste sich strategisch entscheiden, weiter links zu blinken oder die schwache Bundesregierung zu decken. Der Opportunist Rüttgers lavierte und offenbarte seine linken Töne als Phrasen, um seine Sparpolitik zu kaschieren. Als die Bürger Schwarz-Gelb im Bund einen Denkzettel erteilen wollten, bot die nordrhein-westfälische Regierungskoalition aus pseudo-sozialer CDU und neoliberaler FDP kein Gegenmittel und ging im Mai 2010 gnadenlos unter. Das Problem war nur: Im Landtag fehlte Rot-Grün eine Stimme zur Mehrheit, und die vorsichtige Hannelore Kraft musste von den Grünen zur Minderheitsregierung gedrängt werden. Zum Glück beharrte Rüttgers auf dem Amt des Ministerpräsidenten, weil die CDU 0,1 Prozent vor der SPD lag. Daraufhin ließ ihn Hannelore Kraft mit der Linkspartei zusammen abwählen und zeigte, wie politische Arithmetik funktioniert.

Trotz kritischer Medien und Verbände etablierten SPD und Grüne ihre „Regierung der Einladung“. Bald zeigte sich, dass sie es ernst meinten. In nur 18 Monaten ging die neue Regierung viele Probleme an: Mit der Linkspartei schaffte sie Studiengebühren und Kita-Beiträge ab, beides nickte CDU-Kandidat Röttgen im Wahlkampf 2012 ab. Mit der CDU erzielte Rot-Grün einen Schulkompromiss, der das ewige Kampfthema der Bürgerlichen „abräumte“: Den Preis der Absicherung des Gymnasiums zahlten Schulministerin Löhrmann und Ministerpräsidentin Kraft gern, weil der Weg frei wurde für neue Schulformen, die gerade im ländlichen Raum das bürgerliche Lager spalteten. Mit der FDP gelang Rot-Grün ein Stärkungspakt Kommunal-finanzen. Ohne damit deren Probleme zu lösen, hatte Kraft klar gemacht, dass sie sich Kümmern etwas kosten lässt.

Das eigene Milieu wurde nicht vergessen, so bekamen die Gewerkschaften das alte Personalvertretungsgesetz zurück und ein neues Vergabegesetz, das öffentliche Aufträge an soziale Standards bindet. Es entstand aber auch ein Mittelstandspaket, gemeinsam mit den positiv überraschten Verbänden. Schließlich legte die Koalition das bundesweit schärfste Klimaschutzgesetz auf; die Umweltverbände waren erfreut. All dies wurde eingebettet in einen Diskurs der Beteiligung aller Parteien, Verbände und Bürger.

Zugleich entschärfte die SPD fast geräuschlos die Folgen des Klimagesetzes für die Wirtschaft. Überhaupt die Wirtschaft: Als das Handelsblatt im April 2012 Manager aus Nordrhein-Westfalen mit den Worten zitierte, sie wüssten, dass Hannelore Kraft für sie, aber nicht, wofür Norbert Röttgen stehe, war die Wahl für ihn eigentlich verloren. Nach der Wahl schrieb die FAZ, die Wirtschaft gratuliere Kraft zum Sieg. Dies war umso erstaunlicher, weil Krafts genuines politisches Projekt gerade in der Wirtschaft auf wenig Begeisterung stieß: Im Gegensatz zur schwarz-gelben Sparpolitik tritt Kraft konsequent für einen finanzpolitischen Dreiklang aus vorsorglichem Investieren, höheren Einnahmen und Konsolidierung ein. Gegen heftigen medialen Gegenwind verteidigte sie ihr Konzept höherer Investitionen in Bildung und Soziales, um durch präventive Maßnahmen dauerhaft Einsparungen zu verwirklichen. Ihr Konzept fasste sie bildhaft und emotional zusammen: „Wir lassen kein Kind zurück.“

Im Wahlkampf machte Rot-Grün fast alles richtig

Natürlich halfen der chaotische Politikstil von Schwarz-Gelb im Bund sowie die Ausgelaugtheit von CDU und FDP. In NRW war und ist die CDU gespalten in einen eher liberalen Großstadtflügel, für den der Aachener Armin Laschet steht, und einen sozial-konservativen Flügel um Fraktionschef Karl-Josef Laumann. In einer Phase gegenseitiger Blockade eroberte Norbert Röttgen – Bundesumweltminister, CDU-Vize und „Muttis Klügster“ – die nordrhein-westfälische CDU. Er blieb aber ein „Parteichef auf Durchreise“ ohne Fühlung zum Land. Die FDP war auf eine neoliberale Makler- und Anwaltsriege zusammengeschnurrt, eine intellektuell-programmatische Enge, aus der sich die Partei erst im Angesicht des Untergangs mit der Aufstellung -Christian Lindners erfolgreich befreite. Die Linkspartei verlor sich im Streit zwischen Fundi-Sektierern und tolerierungswilligen Pragmatikern. Schließlich schweißte die unstete Merkelsche Atompolitik Rot-Grün zusammen und gab erst den Grünen Auftrieb, dann der SPD als Korrektiv gegen die grüne Version der Energiewende. Das vermeintliche Megathema Schulden schlug anfangs mit dem Urteil des Verfassungsgerichts gegen den Nachtragsetat 2010 hohe Wellen, verringerte sich aber mit den wachsenden Steuereinnahmen. Die Eurokrise sorgte dafür, dass das Land mit seinen Schulden gar nicht mehr besonders auffiel. Zur Abwicklung der maroden West-LB gelang eine einvernehmliche Einigung im Landtag.

Im Wahlkampf machte Rot-Grün dann fast alles richtig und Norbert Röttgen alles falsch. SPD und Grüne spielten mit verteilten Rollen: Hannelore Kraft als Landesmutter, die ihre Politik gegen Norbert Röttgen souverän verteidigte und erklärte; Sylvia Löhrmann als kundige Angreiferin gegen FDP und Piraten. Viel wurde geschrieben über Krafts „Kümmer-Stil“, ihre Popularität stieg steil an. Und während sie darlegte, in jedem Fall in Nordrhein-Westfalen zu bleiben, leistete sich Röttgen den kapitalen Fehler, diese Frage offen zu lassen, obwohl bei ihm eine Niederlage weit wahrscheinlicher war. Der Kandidat fremdelte mit Land und Leuten, bedauerte vorab die Entscheidung der Wähler und versuchte, die Kanzlerin in Mithaftung zu nehmen – mit flugs folgendem Dementi. Das Ende ist bekannt: Röttgen verlor Landesvorsitz und Ministeramt. Die NRW-CDU reagierte auf ihr Debakel mit einer Doppelspitze der Verlierer: Armin Laschet als Landes- und Karl-Josef Laumann als Fraktionschef. Nicht eben eine Erfolgsperspektive.

Kriegsgewinnler war die FDP, deren neuer Star Christian Lindner CDU-Wähler abräumte, was aber die Distanz zur Union und die Unwucht in der Bundes-FDP vergrößern dürfte. Die Grünen hielten trotz des Einzugs der Piraten ihr Ergebnis von 2010 und können nun in Ruhe mit der SPD verhandeln: Für sie geht es weiter wie bisher, sie sitzen mit an den Schalthebeln. Die SPD hat gezeigt, dass 40 Prozent möglich sind, wenn sie personell und programmatisch gut aufgestellt ist. Sie hat eine Ersatzoption (FDP) und einen möglichen Tolerierungspartner (Piraten) und hätte in einer Großen Koalition die Nase weit vorn.

Nach der Wahl bemühte sich die Troika der Sozialdemokraten um die Siegerin. Kein Wunder, liegt sie doch beim Wähler als mögliche Kanzlerkandidatin vor allen drei Herren, sogar vor Merkel. Nicht nur die Frankfurter Rundschau verglich sie mit der Bundeskanzlerin, aber anders als Merkel erklärte Kraft ihren Verzicht auf eine Machtoption im Bund aus inhaltlichen Gründen: Sie sagt, sie wolle die Welt verändern, und dazu müsse sie ihre präventive Politik in Nordrhein-Westfalen dauerhaft betreiben. Es geht ihr also um nachhaltige politische Alternativen. Derlei hat Merkel niemals behauptet. Die ist eine – brillante – Machttaktikerin, deren Zenit klügere Köpfe seit dem 13. Mai 2012 überschritten sehen.

Schon heute ist Hannelore Kraft für die SPD, für Nordrhein-Westfalen und für Deutschland wichtig: Der SPD weist sie eine Zukunft als geeinte Volkspartei. Postdemokratie-Skeptikern zeigt sie, dass eine andere Politik möglich ist und man anders leben kann, als stets auf dem Sprung nach Berlin. „Kraft gewann ein Land im Niedergang“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung), aber ihr Sieg war „ein Votum für den starken Staat“ (Kölner Stadt-Anzeiger). Nun muss Rot-Grün 2.0 zeigen, dass die Koalition an richtiger Stelle investieren, einnehmen, sparen und dabei anspruchsvoll gewordene Bürger mitnehmen kann. Themen wie der demografische Wandel, die Energiewende, die Infrastruktur, Inklusion und Sparen sind gesetzt. Die Bundes-SPD muss nach den Siegen von François Hollande und Hannelore Kraft eine Alternative entwickeln, die alle Politikebenen verbindet. Der Fiskalpakt ist die erste Nagelprobe.

zurück zur Person