Israels Krise ist Israels Chance

Die Sozialproteste der vergangenen Monate haben Israel erschüttert. Erstmals erhebt sich die Mitte der Gesellschaft gegen die Staatseliten. Doch diese spielen kühl die Sicherheitskarte aus - vorerst mit Erfolg

Die Sozialproteste in Israel, die am symbolischen 14. Juli begannen und seither das Land erschüttern, sind ohne Zweifel Ausdruck der globalen Kapitalismuskrise. Die verheerenden sozioökonomischen Folgen der neoliberalen Wirtschaftsordnung sorgen im Westen zunehmend für eine Vertrauenskrise zwischen Regierten und Regierenden: Ob in Athen, Madrid, Lissabon oder London – überall fühlt sich das Volk sichtlich nicht mehr von den wirtschaftspolitischen Entscheidungsträgern vertreten.

Im Fall Israels gibt es allerdings eine zusätzliche Dimension: Das israelische Volk muss gleichzeitig an mehreren Fronten kämpfen, um die schwer durchschaubare israelische Ordnung zu reformieren: Erstens gibt es da die nationalreligiös (aber auch andersartig) motivierte Siedlerbewegung, die jeglicher Friedensregelung mit den Palästinensern im Wege steht und so die endgültige Festlegung des israelischen Staatsgebiets verhindert. Damit verbunden ist zweitens  die mächtige und in der politischen Kultur des Landes fest verankerte sicherheitspolitische Elite: die Wächter des zionistischen Projekts. Der eigentliche Anlass für die jetzigen Proteste ist drittens die Wirtschaftselite, die von der zügellosen kapitalistischen Ordnung profitiert, ebenso wie die Politik, die wiederum alle drei Eliten traditionell unmittelbar unterstützt.  

Die Sozialproteste begannen in der berühmten Rothschild-Straße in Tel Aviv, mittlerweile haben sie sich auf das ganze Land ausgeweitet. In erster Linie richten sie sich gegen die neoliberale Ordnung und die Politik, die sie zu verantworten hat. Von der jungen Generation der achtziger Jahrgänge initiiert, suchen die Protestierenden einen Ausweg aus den unerträglichen sozioökonomischen Zuständen: Diese Generation bekommt die Folgen der Neoliberalisierung der israelischen Wirtschaft am meisten zu spüren. Der historische Wirtschaftsplan aus dem Juli 1985, durchgesetzt von einer großen Koalition mit dem Vorsitzenden der Arbeitspartei und Premierminister Shimon Peres an der Spitze, bedeutete de facto den Beginn der Auflösung des bis dahin recht progressiven Sozialstaates.

Der so genannte „Notstandsplan zur Stabilisierung der Wirtschaft“ war eine Reaktion auf eine akute Wirtschaftskrise, die tatsächlich überwunden wurde. Gleichzeitig setzte der Plan einen Prozess in Gang, der die Neoliberalisierung der Wirtschaft im Sinne Ronald Reagans und Margaret Thatchers zur Folge hatte. Damit einher ging die Privatisierung der Wirtschaft und der staatlichen Dienste, außerdem des Arbeitsmarkts. Der damals mächtige Gewerkschaftsbund, die Histadrut, die beim Aufbau des zionistisch-israelischen Markts seit den dreißiger bis in die siebziger Jahre eine zentrale Rolle spielte, erlebte Mitte der achtziger Jahre einen herben Schlag: Per Notstandgesetz verwirklichte die israelische Regierung einen Plan, der die organisierte Arbeiterschaft in Israel und damit den traditionellen sozialistischen Zionismus auf Dauer aufheben sollte.

Soziale Fragen galten bislang als sekundär

So wurde die Histadrut entmachtet. Längst hat sie sich mit der neoliberalen Wirtschaftspolitik des israelischen Staats arrangiert und vertritt lediglich eine schmale Schicht der starken und gut organisierten Arbeitnehmer; der Rest der Arbeitnehmerschaft ist den inzwischen blühenden Zeitarbeitsfirmen ausgeliefert. Die Folge: Aktuell verdienen 73 Prozent der israelischen Arbeitnehmer bis zu 8.000 Schekel (1550 Euro) – 12 Prozent umgerechnet zwischen 1.150 und 1.550 Euro, 20 Prozent zwischen 770 und 1.150 Euro und 40 Prozent umgerechnet bis 770 Euro. Letzere bezahlen so gut wie keine Einkommensteuer. Die Lebensunterhaltkosten in Israel liegen im Durchschnitt gleich beziehungsweise leicht höher als in Deutschland – kein Wunder, dass sie nun auch der israelischen Mittelschicht über den Kopf gewachsen sind.

Der vergleichsweise kleine israelische Markt hat eine Art Kartellierung durchlaufen: Rund zehn Familien beherrschen 70 Prozent des Dienstleistungs- und Handelsmarkts und 50 Prozent des Kapitalmarkts. Die Folge sind stetige Preiserhöhungen, denen im „freien“ Markt kaum Einhalt geboten wird. Die Tycoons bereichern sich beständig, die Mittelschicht erstickt unaufhaltsam unter der Last des Alltags, und die Politik ebenso wie die „Vierte Macht“, die großenteils in den Händen der Tycoons ist, halten die bestehende Ordnung für selbstverständlich. Der scheinbar alternativlose Kapitalismus ist dermaßen verinnerlicht worden, dass er längst zum vorherrschenden Diskurs geworden ist.

Genau deshalb ist die Irritation über das Ausmaß der Proteste so groß. „Was könnten die Protestierenden bloß wollen?“ – diese Frage stellten sich viele Israelis in den ersten Tagen allen Ernstes. Zwar ist vielen die sozioökonomische Lage Israels unheimlich geworden, doch in der politischen Kultur des Landes wird sozialen Angelegenheiten nur bedingt Aufmerksamkeit geschenkt: Sicherheit, Besiedlung und die Wirtschaft werden materiell begünstigt, da sie als integraler Bestandteil des historischen zionistischen Projekts gelten. Traditionell muss sich die Sozialpolitik diesen „großen Aufgaben“ unterwerfen. Bis zum Sommer 2011.

In der Geschichte Israels sind Sozialproteste dieses Ausmaßes ein Novum. Zum ersten Mal geht die Mittelschicht auf die Straße, um gezielt gegen die Sozialpolitik zu protestieren. Nicht allein „Randgruppen“ wie die Orthodoxen, die arabischen Juden oder die israelischen Palästinenser sind am Zug, wie dies Ende der fünfziger Jahre in Wadi Salim, Haifa, der Fall war, oder in den siebziger Jahren in Jerusalem, als die israelischen Black Panthers für „Milch und Chancengleichheit für alle“ inklusive für die Palästinenser protestierten. Diesmal ist vom „Salz der Erde“ der israelischen Gesellschaft die Rede: von den Gebildeten, Akademikern, Ärzten, Freiberuflern, Jugendlichen, Studierenden, jungen Familien – kurz: vom „aschkenasischen Israel“. Sie sind die tragende Schicht der israelischen Wirtschaft, mithin des zionistischen Projekts. Das israelische Volk erhebt sich gegen die Staatseliten; es will den noch immer als sakral begriffenen jüdischen Staat (Hamedina) „zurück haben“. Ja, es will den Sozialstaat zurück.

Kann sich wirklich etwas ändern?

Doch welche Chance haben die Proteste? Können sie eine echte Umgestaltung der sozialen Verhältnisse im Lande herbeiführen? Kann die Staatselite die Protestierenden ignorieren, über die zahlreichen Zeltstädte im Lande hinwegsehen und so tun, als sei die Wirtschaftslage Israels – wie sie angesichts der Euro- und Dollar-Krise häufig gehuldigt wird –  die beste aller Welten? Es liegt ein echtes Verständigungsproblem zwischen dem Volk und seinen Vertretern vor: Der vorherrschende Wirtschaftsdiskurs konzentriert sich auf die Stabilität der Wirtschaft beziehungsweise der Währung, auf niedrige Arbeitslosigkeit und ständiges Wachstum, aber seine Protagonisten weigern sich dezidiert, die daraus resultierenden verheerenden sozialpolitischen Konsequenzen anzuerkennen. Armut wird im besten Fall als kleines Übel gesehen, als Preis für Stabilität wenn nicht Prosperität, meist aber mit Faulheit und Unfähigkeit der Betroffenen assoziiert.

Weil diesmal nicht nur die Armen, sondern die Mittelschicht am Zug ist, musste Premierminister Benjamin Netanjahu handeln. Er sah sich gezwungen, einen Untersuchungsausschuss zu berufen, um die „Lage des Bürgers“ zu erleichtern. Gleichzeitig gab er deutlich zu verstehen: Um die wirtschaftliche Stabilität zu sichern, werde die Regierung den Haushaltsrahmen nicht überziehen. Auch von einer Umstrukturierung des sicherheitspolitischen beziehungsweise des Siedlungshaushalts kann keine Rede sein. Wie genau die Erleichterung der Lage der Bürger aussehen wird, bleibt abzuwarten. Die Sozialdemokratisierung der Wirtschaft zumindest wird der neoliberale Premierminister wohl kaum vorantreiben, geschweige denn durchsetzen.  

Viel zu sehr sind die neoliberalen und sicherheitspolitischen Strukturen in der israelischen Ordnung etabliert, viel zu groß ist der Abgrund zwischen den Interessen des Volks und der Staatseliten. Deren Reformierung bedarf Ausdauer und Entschlossenheit. Denn wie so häufig erweist sich die explosive Sicherheitslage als Retter der bestehenden Verhältnisse: Jede sicherheitspolitische Krise kann die zu erkämpfende neue sozialdemokratische Sprache zunichte machen, jedes Attentat auf Israelis kann das Militär zu einem regionalen Krieg ausweiten. Dann hat die soziale Frage erst recht keine Chance.  

Ganz schnell wird die Aufmerksamkeit weg von den „verwöhnten Protestlern“, die sich über fehlende Lebensqualität beschweren, auf die existenzielle Frage gelenkt, sprich auf die sicherheitspolitisch begriffene Nationalstaatlichkeit. Keine Ausnahme in der politischen Kultur des zivilmilitärischen Israels – der Staat steckt sowohl auf der mentalen Ebene als auch von seinen Strukturen her noch immer tief in der Phase der Konsolidierung des zionistischen Projekts.

Sicherheit, Siedlung und Wirtschaft gelten noch immer als wichtige Säulen des zionistischen Projekts. Sie sind noch immer unantastbar. Dass nun eben diese Staatseliten beziehungsweise Staatscodes, mithin die israelische Ordnung, der real-historisch gewachsenen israelischen Gesellschaft allmählich im Wege stehen könnten, dieser Gedanke scheint zunehmend salonfähig zu werden.  

Im Sommer 2011 ist zweifelsohne auch in Israel eine echte Krise manifest geworden. Hier steckt das Potenzial für ein neues Bewusstsein, das die sonst äußerst konforme, eigentlich entpolitisierte Immigranten-Siedler-Gesellschaft aus ihrem Schlaf erwecken könnte. Es gibt die wirkliche Gelegenheit für ein neues kritisches Verständnis vom Staat und seiner destruktiven sicherheitspolitischen und sozialökonomischen Politik sowie seiner Siedlungspolitik. Dass das israelische Volk diese der israelischen Ordnung zugrunde liegende Politik auf Dauer nicht mehr mittragen kann – das ist die eigentliche Erkenntnis aus diesen mutigen und ermutigenden Protesten. «

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