Israels Kriege

Weshalb zieht das israelische Militär immer wieder in den Krieg? Und warum trägt die israelische Gesellschaft immer wieder die unverantwortlichen Kriege ihrer Führung mit, obwohl diese langfristig die Existenz Israels in Frage stellen?

Es ist offensichtlich: Die israelische Kriegspolitik löst den Konflikt mit den Palästinensern nicht. Vielmehr ist sie Ausdruck und Folge der Unfähigkeit, die Palästinenserfrage – die eigentliche (Ur-)Frage des Zionismus seit Beginn seiner Verwirklichung Anfang des 20. Jahrhunderts – mit diplomatischen Mitteln zu lösen. Tatsächlich steht Israels Staatsverständnis, selbst unter de facto binationalen Umständen im Land ein Nationalstaat für das jüdische Volk zu sein, dem zionistischen Postulat von Sicherheit und Normalisierung des jüdischen Lebens im Wege. Die Geschichte hat zu Genüge gezeigt, dass sich Sicherheit und Normalität für Juden und für Palästinenser im Heiligen Land eben nicht durch den wiederholten Einsatz des Militärs erzielen lassen.


Verfolgte man die israelische Berichterstattung vor allem nach dem Beginn des Einsatzes von Bodentruppen im Gazastreifen, so schien der israelische Konsens um den gesamten Einsatz Risse zu bekommen. Zu Beginn des Krieges, als die israelische Luftwaffe den Gaza-Streifen nur aus der Luft bombardierte, herrschte in Israel fast absolute Übereinstimmung darüber, dass die „militärische Operation“ notwendig sei. Politik (Regierung wie Opposition – und dies in Wahlkampftagen!), Gesellschaft, Militär und vor allem die Medien waren sich nahezu einig: Der Krieg sei unerlässlich. „Enough is enough“, erklärte die israelische Außenministerin Zipi Livni zu Beginn des Einsatzes. Israel könne den andauernden Beschuss Südisraels mit den Qassam-Raketen der Hamas nicht mehr tolerieren.


Das Militär soll also „die Ordnung“ wieder herstellen. Doch diese angestrebte Ordnung ist in der Vergangenheit trotz mehrfacher Anwendung militärischer Gewalt niemals eingetreten. Stattdessen setzt sich die Eskalation immer weiter fort. Bleibende Unsicherheit und Zweifel auf Seiten der Israelis sind die Folgen. Merkwürdigerweise kann sich die israelische Führung trotzdem immer wieder auf die Unterstützung der Bürger für ihre Kriegspolitik verlassen.

Die Palästinenser als militärisches Problem

Dies hat historische Gründe. Traditionell betrachtet Israel die Palästinafrage und die damit verbundene territoriale Frage vor allem in militärischen Kategorien. Die Ausnahme bestätigt die Regel: Der Osloer Friedensprozesses zwischen 1993 und 2000 endete in der Zweiten Intifada. Seit dem konstitutiven „Unabhängigkeitskrieg“ von 1948 gilt das Militär als effizientes Instrument zur Verwirklichung des zionistischen Projektes in Palästina; der Krieg wird als unerlässliches Mittel für die Errichtung des jüdischen Staates verstanden. Der Krieg von 1948 brachte Israel seinen nationalstaatlichen Zielen erheblich näher, als es die UN-Resolution 181 vom 29. November 1947 vorgesehen hatte. Im Krieg von 1967 bewies das israelische Militär erneut seine Stärke und eroberte zusätzliches Land. Doch das Militär wird nicht nur für Landgewinn eingesetzt, sondern auch für den Landerhalt: Vor dem Sechstagekrieg herrschte im Kernland Israels eine Militärregierung, anschließend übernahm das Militär in den so genannten besetzten Gebieten die Verantwortung. Bis heute sind die Landenteignung zugunsten der jüdischen Besiedlung sowie die Überwachung der palästinensischen Bevölkerung Aufgaben der Sicherheitskräfte.


Auch die weniger glorreichen Zermürbungskriege (von 1967 bis 1970 am Suezkanal sowie von 1985 bis 2000 im Südlibanon) oder die Verteidigungskriege (wie der Jom-Kippur-Krieg von 1973) wurden nicht zuletzt mit dem Ziel geführt, die Kontrolle über das im Jahr 1967 eroberte Land zu behalten. Israel hatte sich nämlich geweigert, auf diese Gebiete zu verzichten. Nach israelischem Verständnis – dies sei hier ausdrücklich betont – gelten all diese Kriege als Verteidigungskriege und werden innen- und außenpolitisch mit diesem Argument als unerlässlich gerechtfertigt. Doch wenn es nicht die Politik ist, die die Staatsgrenzen aufgrund von Verhandlungen mit den Palästinensern und Israels Nachbarstaaten regelt, dann bedeutet dies: Das Militär hat weiterhin das Sagen – und bestimmt somit den Konflikt.


Vor allem seit dem Ausbruch der Zweiten Intifada im Jahre 2000 ist in Israel die Meinung weit verbreitet, der hundertjährige Konflikt mit den Palästinensern sei mit diplomatischen Mitteln nicht lösbar. Besonders nach dem Scheitern des Osloer Friedensprozesses sind die Palästinenser für die Mehrheit der Israelis zum Feindbild schlechthin geworden – vor allem die entrechteten Palästinenser im Gaza-Streifen und in der Westbank, aber auch die eingebürgerten Palästinenser im israelischen Kernland. Denn das ansässige palästinensische Kollektiv in Palästina steht bis heute de facto der zionistischen Utopie im Wege, die die Errichtung eines (demokratischen) jüdischen Nationalstaates für das jüdische Volk in Erez Israel vorsieht.

Die Achillesferse der zionistischen Utopie

Dadurch entsteht naturgemäß ein demografisches Problem. Den höheren palästinensischen Geburtenraten versucht Israel mit einer Politik der „Judaisierung des Landes“ mittels jüdischer Einwanderung und Besiedlung entgegenzuwirken. Doch die „demografische Frage“ bleibt auch nach 60 Jahren ein ernsthaftes Hindernis für die Verwirklichung der zionistischen Utopie, sie ist gewissermaßen Israels Achillesferse. Nicht nur herrschen im Land de facto binationale Verhältnisse. Auch sind viele Beobachter der Auffassung, dass die Chance für eine politische Zweistaatenlösung längst verpasst worden ist. Geopolitische, innenpolitische und soziopolitische Grundlagen für eine solche politische Konstellation fehlen in umfassender Weise, und vor allem im Hinblick auf den Gesichtspunkt Völkerverständigung sieht es düster aus: Vertrauen und Dialogbereitschaft schwinden mit jedem Ausbruch der Gewalt immer weiter. Dialogfähigkeit lässt sich so erst recht nicht erlernen.

In der hausgemachten Sackgasse

Die Folge ist eine hausgemachte Sackgasse, die die Palästinenser nach wie vor als Sicherheitsproblem erscheinen lässt. Und weil der Begriff der Sicherheit in Israel traditionell eng mit dem Begriff der nationalstaatlichen Existenz assoziiert wird, lässt sich der Kampf gegen das palästinensische „Sicherheitsproblem“ in Israel leicht rechtfertigen.


Deshalb überrascht es nur wenig, dass ein Großteil der israelischen Gesellschaft hinter dem Militär steht und Israels Kriege beinahe automatisch breite öffentliche Unterstützung erhalten. Kritische Stimmen finden besonders in den ersten Tagen von Militäroperationen wenig Gehör. In der Forschung bezeichnet man dieses Phänomen als „zivilen Militarismus“. Dabei handelt es sich um einen spezifisch israelischen Militarismus. Träger sind die politischen und akademischen, juristischen und wirtschaftlichen Eliten, die Medien sowie ein Großteil der jüdisch-israelischen Gesellschaft, die wiederum zu einem großen Teil zionistisch orientiert ist.


Somit beruht der zivile Militarismus in Israel auf einem ausgeprägten sozialen Konsens. Das militärische Bewusstsein ist auch deshalb fest in der politischen Kultur verankert, weil über Jahre hinweg eine Praxis der „Unerlässlichkeit des Krieges“ etabliert wurde. Bei Israels zivilem Militarismus handelt es sich also im Kern um die in weiten gesellschaftlichen Kreisen verinnerlichte Haltung, der militärische Weg sei unabdingbar für die Sicherung der nationalstaatlichen Existenz. Er müsse immer wieder eingeschlagen werden, um die als Erzfeinde begriffenen Gegner zu zerschlagen.


Daraus entsteht ein gesellschaftlicher Code der Abschreckung: Israels Sicherheitsdoktrin basiert auf der militärischen Überlegenheit als Garant nationalstaatlicher Existenz. Demnach muss Israel militärisch stärker sein als seine Feinde, denn sonst besteht Vernichtungsgefahr. Diese Doktrin ist im Bewusstsein der jüdischen Israelis sehr stark verankert. Sie hat nicht nur stetige Aufrüstung zur Folge, sondern auch die permanente Zurschaustellung des eigenen militärischen Potenzials. Nicht von ungefähr wird häufig – wie jetzt im Fall des Angriffs auf den Gaza-Streifen – Abschreckung als Ziel eines Waffengangs genannt. Auf diese Weise können auch „unverhältnismäßige“ militärische Einsätze innenpolitisch legitimiert werden. Die Abschreckungswirkung darf nie nachlassen, selbst wenn parallel über Frieden verhandelt wird.

Panik und Abschreckung

Die Kehrseite dieser auf militärischer Überlegenheit basierenden Sicherheitsdoktrin ist die Panik, in die Politik, Armee und Gesellschaft immer wieder geraten, wenn sich in der Abschreckungswirkung Risse auftun; Beispiele hierfür sind der Rückzug aus dem Libanon im Jahr 2000 und die „militärische Schlappe“ des Jahres 2006. Wann immer die israelische Armee Niederlagen einstecken muss – zumal gegen militärisch deutlich unterlegene Kräfte wie die Hisbollah im Libanon und den palästinensischen Widerstand zunächst der PLO und später der Hamas – wächst der Drang, die in Zweifel geratene Abschreckungsmacht nun erst recht durch militärische Aktionen wieder aufzubauen.


Auch im Fall des aktuellen Kampfes im Gaza-Streifen wird Abschreckung als Ziel genannt: Die Hamas soll so stark zerschlagen werden, dass sie sich mit Israel nicht mehr anlegen kann. Doch wie gedenkt Israel bezüglich der Palästinenserfrage zu verfahren, wenn die verhasste Hamas (ebenso wie bereits die PLO) endlich zerschlagen ist? Diese Frage bleibt offen. Damit aber führt sich Israels Sicherheitsdoktrin ad absurdum: Sie birgt die Eskalation in sich und versetzt dadurch auch Juden – Soldaten wie Zivilisten – immer wieder in Gefahr. Dennoch verliert die Doktrin kaum an Gültigkeit. Wie entsteht ein derartiger gesellschaftlicher Konsens für einen so offensichtlich gescheiterten und gefährlichen militärischen Weg?


Eine Antwort lässt sich im historisch gewachsenen Prozess der Entpolitisierung der Sicherheitspolitik in Israel finden: Die Gesellschaft und ihre Vertreter im Parlament werden de facto, wenn auch nicht offiziell, aus dem eigentlichen sicherheitspolitischen Entscheidungsprozess ausgeschlossen. Die exekutiven Organe des Staates, also das Sicherheitskabinett und die Sicherheitsapparate, genießen traditionell einen Sonderstatus als (apolitisch begriffene) Gruppe von „Sicherheitsexperten“. Deshalb gelten sie als innenpolitisch legitimiert, alle Beschlüsse in der Sicherheitspolitik zu fällen. Sicherheit und Kriegspolitik werden als dem politischen Diskurs entzogene Themenfelder verstanden. Entscheidungen in diesen Fragen entstehen meist weit entfernt vom normalen öffentlichen politischen Prozess. Dieses innenpolitische Muster hat sich im Laufe der Jahre etabliert. Es scheint angesichts des nicht aufgehobenen Kriegszustandes und der weit verbreiteten Auffassung, der Konflikt sei nicht zu lösen, kaum veränderbar.

Die Kultur der entpolitisierten Sicherheit

Die Grundlagen für die Entpolitisierung der Sicherheitspolitik lassen sich bis in die frühen Gründungsjahre des Staates Israel zurückverfolgen. Staatsoberhaupt David Ben Gurion verfügte in den formativen Jahren der Souveränität über genügend Macht, den gesamten Komplex der Sicherheitspolitik vom politischen Alltag fernzuhalten und sie „den Sicherheitsexperten“ zu überlassen. Damit stellte Ben Gurion die Weichen für die politische Kultur der entpolitisierten Sicherheit.


Die Folgen sind ein starker Staat und schwache Bürger: Während der Staat seine exekutive Gewalt auf diese Weise stärkt, wird die israelische Gesellschaft, die im Kern noch immer aus Einwanderern und Siedlern besteht, „von oben“ diszipliniert, entpolitisiert und letztlich den Entscheidungen der sicherheitspolitisch orientierten Führung des Landes ausgeliefert. Im Laufe der Jahre hat sich dieses Verhältnis zwischen Staat, Militär und Gesellschaft in Israel verfestigt.

Goliath mit dem Bewusstsein eines David

So wird erklärbar, dass ein im Jahr 2000 offensichtlich gescheiterter Ex-General und Premierminister wie Ehud Barak, der für den Ausbruch der Zweiten Intifada mitverantwortlich war, acht Jahre später nicht nur erneut den Posten des Führers der Arbeitspartei bekleiden, sondern auch kurz vor den Parlamentswahlen erneut einen Krieg anzetteln konnte. Damit punktet er tatsächlich (vorerst) bei den Israelis, die über die Jahre hinweg das israelische Narrativ verinnerlicht haben, der Krieg sei keine politische Angelegenheit, sondern ein Muss.


Israels Tragik besteht in dem Paradox, dass militärische Stärke mit dem (Vor-)Bewusstsein eines David einhergeht: Israel sieht sich dazu verdammt, sich stets verteidigen zu müssen, gleichzeitig greift es zur Gewalt, auch zu extremer Gewalt, um eben diese Verteidigung zu gewährleisten. Damit aber führt sich das Land wie ein Goliath auf und riskiert eben deshalb seine Sicherheit – sowie langfristig eine nationalstaatliche Existenz in der Region.


Ein falsches Bewusstsein, eine trostlos unfähige und dazu auch unverantwortliche politische Führung, eine entpolitisierte und daher verängstigte Gesellschaft und gleichzeitig eine viel zu starke Armee, die auf ihre Kapazitäten und ihren hohen Stellenwert in der Gesellschaft nur ungern verzichten würde – das sind die Stoffe, aus denen Israels Kriege immer wieder gemacht werden.

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