Investiv sein wollen heute alle

zu Michael Miebach, Für welche soziale Idee steht die SPD?, Berliner Republik 5/2011

Michael Miebach legt die Finger in die Wunde: In der Tat ist es erklärungsbedürftig, warum sich die SPD – gerade vor dem Hintergrund der Debatten des vergangenen Jahrzehnts – so schwer damit tut, ein sozialpolitisches Leitbild zu formulieren, und dieses mit ihren übrigen Konzepten zu verbinden. Keine Frage: Es reicht weder aus, sich an den Defiziten des schwarz-gelben Regierungshandelns abzuarbeiten, noch überkommene fordistische Produktions- und Verteilungsstrukturen zu verteidigen. Dass diese nicht das Nirwana auf Erden waren, weiß man schließlich nicht erst seit der feministischen Kritik daran.

Miebach stellt idealtypisch zwei Ausprägungen sozialdemokratischer Sozialstaatskonzeptionen gegenüber: Da sei zum einen der Ausbau des Sicherungsniveaus innerhalb der Sozialversicherungen. Diese Variante betrachtet Miebach als rückwärtsgewandt, sie sei zudem kaum zu finanzieren und stoße politisch-legitimatorisch an Grenzen. Auf der anderen Seite stehe als Modell der Zukunft der „investive Sozialstaat“, der in das „gesellschaftliche Humanvermögen investiert“, und besonders durch den Ausbau sozialer Dienstleistungen dazu beitrage, Ausgrenzung zu vermeiden und Beteiligung zu fördern.

Den beschriebenen Zielen und Ansätzen des „investiven Sozialstaats“ können ernsthaft nur beinharte Marktradikale widersprechen. Nur: Ist die vorgenommene Entgegensetzung sowohl analytisch als auch politisch sinnvoll?

Mir scheint, dass diese beiden Modelle normativ mit zwei Ansätzen des Gerechtigkeitsdiskurses unterlegt werden: Das Sozialversicherungsmodell wird dem Paradigma der Ergebnisgerechtigkeit zugeordnet, das üblicherweise mit egalitären Ansätzen verbunden ist. Demgegenüber basiert der „investive Sozialstaat“ auf dem Paradigma der Startgerechtigkeit, wonach alle Individuen die gleichen Ausgangsvoraussetzungen haben sollten. In der politischen Theorie ergeben diese Konzepte Sinn, um analytisch unterschiedliche Schwerpunkte herauszuarbeiten; zur Beschreibung der Wirklichkeit sind sie aber nicht geeignet, wie beispielsweise die Bildungspolitik sehr deutlich zeigt: Ohne Umverteilung sind keine gleichen Startchancen möglich, da nicht nur die Mittel zur Finanzierung eines ausgebauten Bildungswesens aufgebracht werden müssen, sondern auch die Lebenssituation des elterlichen Umfelds zu verbessern ist.

Gravierender aber ist das verbreitete Missverständnis, das primäre Ziel der Sozialversicherungen sei Egalitarismus: Sicherlich findet eine Umverteilung statt, aber eben überwiegend keine interpersonelle, sondern – besonders in der Rentenversicherung – eine intertemporale! Versicherte zahlen jetzt Beiträge, um im Fall des Risikoeintritts einen Anspruch auf Leistungen zu besitzen. In seinem Buch Die Metamorphosen der sozialen Frage definiert der französische Soziologe Robert Castel die historische Durchsetzung der lohnarbeitszentrierten Sozialversicherung daher so: „Die Sozialversicherung bewerkstelligt, vermittelt über die Arbeit und unter der Ägide des Staates, eine Art Eigentumstransfer. Sicherheit und Arbeit werden sich zu einer substantiellen Einheit fügen, weil in einer Gesellschaft, die sich um die Lohnarbeit herum neu organisiert, der Status, der der Arbeit zukommt, das moderne Äquivalent zur traditionell vom Eigentum gewährleisteten Absicherung bildet.“ Wenn man also Sozialversicherungen überhaupt mit einem Gerechtigkeitsparadigma verbinden kann, dann ist es angesichts der Lohn- und Beitragsbezogenheit das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit.

Damit sind wir unmittelbar bei der Frage der politischen Durchsetzbarkeit. Miebach möchte auf Anhebungen im Leistungsniveau der Sozialversicherungen verzichten, weil dies „die Besserstellung bestimmter – ohnehin privilegierter – Bevölkerungsgruppen wie der Rentner und der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten“ darstelle. Einmal davon abgesehen, dass in einer zeitlichen Perspektive Rentner natürlich üblicherweise auch sozialversicherungspflichtig Beschäftigte gewesen sind, kann man diese beiden Gruppen in ihrer Gänze nicht ernsthaft als „privilegiert“ betrachten – auch sozialversicherungspflichtige Beschäftigung kann prekär sein. Und selbst unterstellt, dass hier flächendeckend die Abwesenheit von Armut zu beobachten wäre, so könnte dies schwerlich als Privileg gelten: Ein Leistungsniveau oberhalb des sozio-kulturellen Existenzminimums beruht schließlich auf vorherigen Beitragszahlungen.

Wenn der Sozialstaat aber nicht mehr auf „sozialen Bürgerrechten“ (T. S. Marshall) beruhen würde, sondern primär auf Existenzsicherung beziehungsweise Armutsvermeidung ausgerichtet wäre, verlöre er seine Funktionalität für die lohnabhängigen Mittelschichten: Wenn diese nicht erwarten können, für ihre Beiträge entsprechend hohe Leistungen zu erhalten, besteht für sie weder eine Notwendigkeit, an dem System festzuhalten, noch steht zu erwarten, dass sie bereit sein werden, ein ausreichendes Mindestsicherungsniveau zu finanzieren.

Sich von den Gerechtigkeitsvorstellungen derjenigen Bevölkerungsgruppe zu trennen, die in einem SPD-Programm einmal als „steuerzahlende Mitte“ bezeichnet worden ist, und die immer noch die sozialdemokratische Kernwählerschaft ausmacht, wäre politischer Selbstmord. Dass stattdessen das Konzept des „investiven Sozialstaats“ ausreichen könne, um den sozialpolitischen Markenkern der SPD darzustellen, leuchtet nicht ein: Gerade weil all die von Michael Miebach genannten Themen (Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Integration von Migranten, Ausbau des Bildungswesens, Verbesserung der Pflege und so weiter) offenkundig wichtig sind, steht nicht zu erwarten, dass sie dauerhaft für die politische Distinktion der Sozialdemokratie taugen. Bereits jetzt ist nicht zu erkennen, wo hier der qualitative Unterschied zu den Grünen liegt, und mittelfristig dürften auch aufgeklärte Liberale und Konservative diesen Ansatz adaptieren.

Gerade vor dem Hintergrund der von Miebach – absolut zu Recht! – festgestellten Zentralität der Erwerbsarbeit überrascht seine Vernachlässigung der Interessen der abhängig Beschäftigten im Hinblick auf ihre soziale Sicherung. Richtig ist aber natürlich, dass der Wandel der Erwerbsgesellschaft zu einer Zunahme mehr oder weniger freiwilliger Selbständigkeit geführt hat, wobei vielfach ein unzureichendes Sicherungsniveau besteht. Die Sozialversicherung als bloße Arbeitnehmerversicherung ist daher in der Tat kein zukunftsfähiges Modell; sowohl unter dem Gesichtspunkt neuer Risikogruppen, als auch einer Neutralität des Sozialrechts gegenüber der jeweiligen Form der Erwerbstätigkeit sollten zukünftig alle Erwerbspersonen in die Renten- und eine neue Arbeitsversicherung einbezogen werden. Aber auch für Selbständige mit geringem Einkommen wird dies nur attraktiv sein, wenn sie für ihre Beiträge auch akzeptable Leistungen zu erwarten haben.

Das ist die eigentliche Lektion des skandinavischen Sozialmodells: ein universalistisches Sicherungssystem auf hohem Niveau und gleichzeitige Investitionen in die soziale Infrastruktur. Wenn die SPD sich darauf verständigen könnte, wäre politisch viel zu gewinnen.

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