Indiens Zukunft ist düster

Der Schriftsteller PANKAJ MISHRA lebt einen Teil des Jahres fernab der indischen Metropolen im Dorf Mashobra unweit des Himalaya-Gebirges. Er zählt zu den führenden Intellektuellen seines Landes. Für sein jüngst erschienenes Buch "Aus den Ruinen des Empire" wurde der 45-Jährige vielfach ausgezeichnet. Über die zentralen Herausforderungen der größten Demokratie der Welt sprachen Fabian Heppe und Marius Mühlhausen mit ihm für die "Berliner Republik"

Bei den indischen Parlamentswahlen im April und Mai erreichten die Hindu-Nationalisten der Indischen Volkspartei eine absolute Mehrheit. Wie gelang dem frisch vereidigten Premierminister Narendra Modi und seiner Partei ein solcher Erfolg?

Es sind vor allem junge Arbeitslose aus dem Mittelstand, die hoffen, dass Modi das Land nach vorne bringt. Diese teilweise wütende und frustrierte Masse will nun endlich die Früchte des Kapitalismus ernten. Das hat Modi versprochen, und die Wähler haben es ihm geglaubt. Doch wer Modis Geschichte kennt, muss an seinen Führungsqualitäten zweifeln.

Erzählen Sie uns seine Geschichte.

In seinem Heimatstaat Gujarat herrscht bis heute ein Klima des Hasses: Muslime leben ausgegrenzt und verängstigt in Ghettos – niemand will sie haben. Modi war seit 2001 ununterbrochen Regierungschef von Gujarat und hat es nicht geschafft, die Konflikte zu befrieden. Er wird sogar mit Morden an Muslimen im Jahr 2002 in Verbindung gebracht. Während des Wahlkampfs bezeichneten Modi und seine Anhänger indische Minderheiten als eine Bedrohung für das Land. Wer denkt, dass Indien nun der moderne Fortschritt blüht, der irrt gewaltig.

In der Vergangenheit waren es oft Wahlen, die Indien vor weiteren Gewaltausbrüchen bewahrten, weil die Menschen sich mitgenommen gefühlt haben. Ist die hohe Wahlbeteiligung von 66 Prozent nicht ein gutes Zeichen?

Die politische Einheit Indiens bleibt fragil. Viele Wähler – ganz gleich ob Christen oder Muslime – fordern mehr Selbstbestimmungsrechte für ihre eigene Region oder sogar die Unabhängigkeit. Die bislang regierende Kongresspartei hatte es geschafft, alle Kasten und Gemeinschaften einigermaßen friedlich unter ihrem Dach zu vereinen. Mit einer hindu-nationalistischen Partei an der Regierung steht Indien nun eine ungewisse Zukunft bevor.

Wie kam es zu diesem radikalen Wandel im Wählerverhalten?

Indien war lange Zeit eine Ein-Parteien-Demokratie, doch die steigende Politisierung der unteren Kasten und das ungleiche Wirtschaftswachstum haben die zentrifugalen Kräfte im Land verstärkt. Das hängt vor allem mit der neuen Ungleichheit zusammen, die eng mit dem kapitalistischen System verwoben ist.

Indiens zerbrechliche Lage ist längst zu einem Dauerzustand geworden. Seit seiner Unabhängigkeit vor mehr als 60 Jahren befindet sich das Land in einer Identitätskrise.

Um das zu verstehen, muss man weit in die Geschichte zurückschauen. Man kann mit der Spaltung des Landes im Jahre 1947 beginnen: Die Aufteilung in Pakistan und Indien war ein folgenreicher Rückschlag für beide Länder. Es folgte ein halbes Jahrhundert voller Feindseligkeiten, während ein extrem teurer Aufrüstungswettbewerb mit Pakistan die Politik bestimmte.

Inwiefern spielt die vergangene Besatzung durch das britische Empire heute noch eine Rolle für die Politik in Indien?

Die Kolonialherren haben viele Inder in die Not getrieben und haben dem Land hohe Entbehrungen abverlangt. Deshalb waren das Bildungsniveau, das öffentliche Gesundheitssystem und die Infrastruktur völlig unterentwickelt. Anders als viele ostasiatische Länder wie Südkorea, Japan und sogar China haben wir in diese zentralen öffentlichen Güter nie richtig investiert. Zudem haben wir es verpasst, zum richtigen Zeitpunkt dem internationalen Handel beizutreten. Unsere Industriebranche war nie wirklich wettbewerbsfähig und für den Weltmarkt nicht innovativ genug.

Die 1991 eingeführten liberalen Wirtschaftsreformen bescherten Indien endlich ein hohes Wachstum und schufen Arbeitsplätze. Sie sind auch der Grund, warum heute viele Experten eine weitere Liberalisierung des Landes fordern.

Vor allem auch Ökonomen der Elite-Universitäten in den Vereinigten Staaten wie Jagdish Bhagwati vertreten die Auffassung, dass dieser Wirtschaftskurs weiterverfolgt werden sollte. Sie bleiben in ihren Ausführungen aber bewusst vage. Dennoch nehmen diese Leute heute eine entscheidende Rolle in der indischen Wirtschaftspolitik ein und sind in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen. In ihrem Einfluss gleichen sie den Chicago Boys in Pinochets Chile oder den Harvard Boys in Jelzins Russland. Klar ist, dass die Wirtschaftsliberalisierung vorrangig diejenigen Unternehmensfamilien begünstigte, die zuvor vom Protektionismus profitiert hatten. Am Ende sind Wenige sehr reich geworden, während die Mehrheit keine Veränderung spürte und sie auch in Zukunft nicht spüren wird.

Weil Indiens Wirtschaftsstruktur bis heute nicht ausreichend Arbeitsplätze schafft?

Ja, dafür ist unsere industrielle Produktion zu schwach. Sie wächst nicht, sondern nimmt sogar ab. Währenddessen verpasst es die Politik, ausreichend in öffentliche Güter zu investieren. Folglich verfügt ein Großteil der Gesellschaft schlicht nicht über die entsprechende Bildung, um Teil des vielgelobten indischen Informatiksektors zu werden.

Der neue Premierminister will zunächst ausländische Investoren anlocken, um das schwächelnde Wachstum anzukurbeln …

 … und übersieht dabei, dass noch nie eine Volkswirtschaft dauerhaft allein durch Fremdinvestitionen erfolgreich wurde. Das Geld kann zu schnell abwandern und die neunziger Jahre haben in vielen ostasiatischen Volkswirtschaften gezeigt, wie fatal die Folgen sind. Indien ist ein Land der kleinen Bauern und der kleinen bis mittleren Geschäftsleute. Jede Maßnahme muss diesen Umstand berücksichtigen, anstatt den Bedürfnissen der internationalen Finanzwirtschaft, der Ratingagenturen und der Investoren nachzukommen. Doch genau das beabsichtigt Modi mit seinem Kurs, der höchst zweifelhaft ist.

Worin sehen Sie die größten Gefahren für Indien?

Ein Blick in Europas Geschichte zeigt uns, dass auch die europäischen Faschisten den Massen versprachen, die Modernisierung voranzutreiben. Heute wissen wir, um welchen Preis sie dies taten. Indien sollte aus den schrecklichen Erfahrungen Europas lernen, dass individuelle Freiheit und soziale Vielfalt nicht ökonomischer Effizienz zum Opfer fallen dürfen. Es ist tragisch, dass Indien diese Erfahrung wohl selber machen muss, aber das ist das Schicksal aller Staaten, die an die Ideologie des ökonomischen Wirtschaftswachstums glauben, ohne ihren eigenen Weg in die Moderne zu finden.

Laut einer Untersuchung des Internationalen Währungsfonds hat sich das Nettovermögen der indischen Milliardäre in den vergangenen 15 Jahren verzwölffacht. Könnten nicht zunächst auch Umverteilungsprogramme die Armutsquote senken?

Man sollte davon ausgehen, dass die nächste Regierung stärker umverteilt, doch es wird weiterhin an den Steuervergünstigungen für Milliardäre festgehalten werden. Die großen Landbesitzer sowie die Erdgas- und Telekommunikationsmogule erhalten seit Jahren enorme Kredite von staatlichen Banken, die sie meistens nicht zurückzahlen. Selbst wenn dann Wachstum entsteht, ist es ein Wachstum auf Kosten der Gemeinschaft.

Modi ist auch deshalb so beliebt, weil er verspricht, für Recht und Ordnung zu sorgen sowie sich gegen die Korruption von Politikern einzusetzen.

Auch dieses Versprechen wird er nicht halten. Die Politiker und ihre Parteien sind finanziell abhängig von den großen Unternehmen. Deshalb ist klar: Die hoffnungsvolle Masse wird nicht von Modis Wirtschaftspolitik profitieren, sondern die großen Konzerne.

Eine der größten Herausforderungen Indiens bleibt die Armut.

Das Thema wird derzeit vor allem den Ökonomen mit ihrer Vorliebe für statistische Spielereien überlassen. Doch die Bemessung von Armut allein anhand der Einkommenshöhe greift zu kurz. Wie ist zu erklären, dass die Kalorienzunahme pro Kopf in Indien gesunken ist, wenn gleichzeitig die Armut statistisch abgenommen haben soll? Ich lebe in einem indischen Dorf und weiß: Auch wenn die Menschen durch eine Arbeitsstelle in einer Fabrik oder in einem Büro ein höheres Einkommen erzielen, kann ihre Lebensqualität durch Umweltverschmutzung, aufgelöste Familienstrukturen und schlechte Ernährung sinken.

In vielen Städten ist die Umweltverschmutzung bereits gesundheitsgefährdend. Wie aber kann Indien den westlichen Kapitalismus nachahmen, ohne dass es zu einer ökologischen Katastrophe kommt?

Das zeigt einmal mehr: Wir müssen unsere Vorstellung von der indischen Gesellschaft und ihrer Wirtschaftspolitik grundlegend überdenken. Die Umweltverschmutzung ist dabei wesentlich, denn sie wird in den kommenden Jahren zunehmen. Auch deshalb können wir es uns nicht erlauben, die Urbanisierung wie in China voranzutreiben. Zudem müssen wir bedenken, dass zu viele Menschen in Indien nach wie vor in einer prä-modernen Welt leben. Wer will sie dazu zwingen, ihr traditionelles Leben aufzugeben – nur um am Ende in einer verschmutzten Stadt wie Mumbai in einem Slum zu wohnen, in dem die Armut grassiert? Zu versuchen, den Westen im globalen Wettbewerb einzuholen und nur die oberflächlichen Aspekte der Moderne nachzuahmen, muss in einem Staat wie Indien scheitern.

Auch durch das indische Kastensystem wird die Armut zementiert.

Überhaupt ist das starre Kastensystem das größte Hindernis für eine moderne indische Gesellschaft. Die tiefgreifende hierarchische Ordnung hemmt jeglichen Fortschritt des Landes, der liberale Bürgerrechte für jeden ermöglichen könnte. In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben einige Anhänger der freien Märkte – die selbst lieber in den Vereinigten Staaten leben – versucht, uns weißzumachen, dass die Marktwirtschaft einen freien Ort für alle Bevölkerungsschichten bietet. Der Markt könne, so sagen sie, jede Aufstiegshürde durchbrechen und Gerechtigkeit herstellen. Inzwischen wissen wir, dass die Herkunft auch in den reichen westlichen Ländern die Zukunft dominiert.

Wie kann dieses System abgeschafft werden?

Die Lösung kann nicht rein ökonomischer Natur sein, sondern muss politisch gestaltet werden. Unser Verfassungsgründer Bhimrao Ramji Ambedkar, der selbst der untersten Kaste der Daliten angehörte, verwies früh darauf, dass Rechte nur im aktiven Kampf zu erreichen sind. Sie werden nicht einfach durch politische Macht gewährt. In indischen Bundesstaaten wie Kerala, Tamil und Nadu sind starke zivilgesellschaftliche Bewegungen entstanden. Dort ist das Kastensystem im innerindischen Vergleich inzwischen am schwächsten. Die Menschen müssen sich für ihre Rechte und ihre Würde einsetzen.

Was sollte Modi am dringendsten anpacken?

Er ist Premierminister eines großen und unberechenbaren Landes. Damit er regieren kann, braucht er soziale und ethnische Harmonie. Das ist selbst Modi klar. Gleichwohl darf das, was er tun kann und tun wird, nicht verschleiern, wofür er steht. Er will Indien als einen militärischen Nationalstaat, der durch einen gemeinsamen Hinduismus getragen wird, auferstehen lassen. Minderheiten werden bestenfalls nur von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen. Eine Versöhnung zwischen Muslimen und Hindus kann beispielsweise nur gelingen, wenn Modi mit seinen Anhängern bricht. Anders kann er kein liberaler Demokrat werden und Indien unter seiner Regierung nicht aus der konfessionsgebundenen politischen Kultur befreien. Dann steht es auch in Zukunft schlecht um das Land.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Pankaj Mishras neues Buch „A Great Clamour: Encounters with China and Its Neighbours“ erscheint im Frühjahr 2015 auf Deutsch im S. Fischer Verlag.

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