Im Rückspiegel kann man nicht nach vorne sehen

Was der Sozialdemokratie am meisten fehlt, ist ein neues emanzipatorisches Versprechen. Zu dessen Entwicklung leistet Tony Judts Text keinen Beitrag

Wenn ich es richtig verstanden habe, dann ist Tony Judts zentrale politische Botschaft diese: Die Sozialdemokratie sollte sich angesichts der Rückkehr des Gefühls existenzieller Verunsicherung in den westlichen Gesellschaften erneut auf die sozialstaatlichen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts besinnen. Der keynesianische Sozialstaat hat im vergangenen Jahrhundert angesichts ähnlicher Krisen und Herausforderungen eine wichtige stabilisierende Rolle gespielt. Diese Rolle gilt es wiederzubeleben, zu stärken und offensiv politisch zu vertreten. Diese These ist nicht unsympathisch und sicher auch nicht falsch. Zugleich ist sie aber auch dramatisch unzureichend: Eine politische Bewegung, die nur noch nach hinten, nicht mehr nach vorne blicken will, hat sich im Grunde aufgegeben.

Zunächst hat Judt mit seiner Forderung nach einer Rückbesinnung auf den wohlfahrtstaatlichen „Acquis“ des 20. Jahrhunderts natürlich Recht. Gerade für die sozialdemokratische Debatte über die Lehren, die aus Aufstieg und Niedergang des „Dritten Weges“ zu ziehen sind, ist dies wichtig. Es stimmt, dass wir auf absehbare Zeit „wirtschaftlich unsicher und kulturell verunsichert“ leben werden, wie Judt schreibt. Diese Rückkehr der Verunsicherung ist zum einen gleichsam „objektiven“ Veränderungen der Weltwirtschaft und der westlichen Gesellschaften geschuldet. Sie hat ihre Ursachen aber auch in der Art und Weise, wie die Politik auf diese Veränderungen reagiert (beziehungsweise nicht reagiert) hat.

Die Fetischisierung des Wandels, der Flexibilität und der „kreativen Zerstörungskraft“ des Kapitalismus, der Offenheit und der Entgrenzung waren nicht auf die politischen Kräfte der Rechten oder des Liberalismus beschränkt. Mitten im Sturm haben sich auch die Parteien der linken Mitte schlicht geweigert, das in den sozialen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts erreichte Niveau sozial- und nationalstaatlicher Sicherungsarrangements offensiv zu verteidigen. Im Gegenteil galt nicht wenigen der Reform-Technokraten des Dritten Weges das Festhalten-Wollen an den wohlfahrtstaatlichen Arrangements der keynesianischen Epoche (und den etablierten Formen kollektiver „nationaler“ kultureller Identität) als expliziter Ausweis reaktionärer Zukunftsverweigerung ewiggestriger „Modernisierungsverlierer“. Gleich dem unverdrießbaren Professor Pangloss in Voltaires „Candide“ setzte die Sozialtechnokratie den lebensweltlichen Verunsicherungs- und Entmachtungserfahrungen der Durchschnittsbevölkerung einen Pangloss’schen Diskurs der Schönfärberei entgegen: Globalisierung, ökonomischer Wandel, Umverteilung zugunsten der Reichen und kultureller Identitätsverlust als unvermeidliches, letztlich positives Schicksal in der „besten aller möglichen Welten“. Wenn Tony Judts Aufsatz dazu beitragen sollte, diese Haltung endgültig zu beerdigen, dann hat er schon mal seine Verdienste erworben.

Der Glaube an den Sozialstaat ist geschwunden

Weniger überzeugend wird die Argumentation Judts jedoch, wenn es darum geht, wie wir unser politisches Angebot in Zukunft begründen sollen. Eine solche Begründung, so Judt, dürfe weder pragmatisch noch ökonomistisch allein sein, sondern müsse auch moralisch und ethisch den Sozialstaat neu legitimieren. Seine eigenen Bemühungen hierfür wirken jedoch seltsam wirklichkeitsfremd: Sie abstrahieren ziemlich großzügig von den vielfältigen realen Problemen der wohlfahrtstaatlichen Institutionen der westlichen Gesellschaften. Die lange ideologische Hegemonie des Neoliberalismus erklärt sich ja schlicht auch dadurch, dass viele Menschen ein bisschen den Glauben verloren haben an das Gerechtigkeitspotenzial des traditionellen Sozialstaats. Judt selbst liefert in seinem Exkurs über die Eisenbahnen als öffentliches Gut ein unfreiwilliges Beispiel dafür, weshalb das so ist: Warum um alles in der Welt sollte ein Stadtbewohner, der doppelt so viel Miete zahlt wie ein Landbewohner, deren Bahntickets subventionieren? Es ist nicht zuletzt diese Art von mission creep des Sozialstaats, die permanente Ausweitung seiner Aufgaben und Zuständigkeiten, die den Sozialstaatskonsens der Nachkriegszeit für den neoliberalen Angriff sturmreif gemacht haben. Ein Sozialtransfersystem, das aus „moralischen“ Gründen auch noch das individuelle Verlangen nach Landluft und Ruhe quersubventionieren soll, ist nicht nur finanziell überfordert – es verliert auch seine gesellschaftliche Akzeptanz.

Das eigentliche Problem des Judt’schen Ansatzes einer „Sozialdemokratie der Angst“ liegt jedoch woanders: Es besteht in dem völligen Fehlen einer vorwärtsgewandten Dimension, eines zukunftsweisenden emanzipatorischen Projekts. Als ob es in einer immer produktiver werdenden Welt nicht unendliche Spielräume der Gewinnung von individuellen und kollektiven Freiheitsräumen, von Lebensqualität und demokratischer Teilhabe gäbe. Als ob Selbstbestimmung und Kontrolle über das eigene Leben sich nicht noch erheblich verstärken, die Rechte von Bürgern, Konsumenten und Produzenten am Arbeitsplatz sich nicht noch erheblich ausweiten ließen. Der real existierende, sozialstaatlich eingehegte Kapitalismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert war, verglichen mit anderen Epochen, sicherlich schon mal nicht schlecht: nice try, sozusagen. Aber als Muster einer „guten Gesellschaft“ taugt er nie und nimmer. Was die Sozialdemokratie braucht, ist ein neues emanzipatorisches Versprechen, eine Vision einer wirklich gerechten Gesellschaft, in der kollektive Arrangements und Institutionen die Voraussetzungen für individuelles Glück, Selbstbestimmung und Entfaltungsfreiheit einer größtmöglichen Anzahl von Menschen schaffen. Tony Judts Text hat uns die positiven Errungenschaften des sozialdemokratischen 20. Jahrhunderts noch einmal eindrucksvoll in Erinnerung gerufen. Bei der Konstruktion eines neuen Projekts hilft er in seiner Mutlosigkeit aber nicht wirklich weiter. Im Rückspiegel kann man nicht nach vorne blicken.

P.S.: Kleiner Nachtrag aus Pariser Perspektive: Tony Judts Behauptung, die französischen Sozialisten betrieben, genauso wie die gaullistische Rechte, eine „unreflektierte Befürwortung der Staatswirtschaft“, ist völliger Unsinn. Das hat die Partie Socialiste nicht verdient. Sarkozy auch nicht. «

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