Hundert Jahre Glück

Rente mit 67? Wir streiten über Marginalien - und sollten lieber endlich anfangen, uns Geschichten von einer lebenswerten Zukunft zu erzählen

Ich empfehle ein Experiment. Sagen Sie einmal laut die Wahrheit: „Bei der Rente mit 67 wird es nicht bleiben, sondern mit der steigenden Lebenserwartung wird die Altersgrenze künftig weiter angehoben. Und wenn wir es schlau angehen, wird diese Entwicklung zum Wohl der gesamten Gesellschaft sein – aber auch zum Wohl der so genannten Alten!“ Sie werden Beschimpfungen erleben. Zornattacken. Und jede Menge Unverständnis. Dieses Unverständnis zieht sich durch die gesamte Diskussion über den demografischen Wandel.

Irrtümlich bezeichnen wir den Bevölkerungswandel als „Alterung“ der Gesellschaft. Er gilt uns als erdrückendes Problem. Ein ganzes Land fühlt sich, als stünde es mit dem Rücken zur Wand. Politische Antworten werden nicht gebündelt. Sie sind kurzfristig gedacht und als Abwehrmaßnahmen konzipiert. Wir diskutieren völlig falsch, nämlich statisch: Alles dreht sich darum, dass die Alterung für die bestehenden Systeme, etwa die Sozialversicherungen, eine Gefahr ist. Stattdessen brauchen wir eine dynamische Sichtweise: Wie können wir die Systeme angesichts des demografischen Wandels verändern, um besser leben zu können? Das ist die große Chance des demografischen Wandels!

Wirklich begriffen haben wir es immer noch nicht: Uns erwartet nicht nur ein längeres, sondern auch ein längeres gesundes Leben. Das ist keine Last, sondern eine der größten Errungenschaften der modernen Zivilisation. Allein im 20. Jahrhundert stieg die Lebenserwartung in Deutschland um etwa 30 Jahre. Ein im Jahr 2012 hierzulande neu geborenes Mädchen wird statistisch im Schnitt fast 83 Jahre alt, wobei diese Rechnung nicht berücksichtigt, dass sich die gesundheitlichen Bedingungen weiter verbessern könnten. Selbst wenn man den Fortschritt konservativ extrapoliert, kommt man zu beeindruckenden Ergebnissen: So haben Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock ausgerechnet, dass ein heute in Deutschland geborenes Baby mindestens eine 50-prozentige Chance hat, hundert Jahre alt zu werden. Die Kinder, die heute (heute!) auf den Geburtsstationen liegen, sind die Bürger einer Gesellschaft der Hundertjährigen.

Die Forschung zeigt auch: Mit der Lebensspanne nimmt nicht etwa der Anteil der Lebenszeit zu, die wir als senile Greise verbringen. Grob gesprochen ist ein heute 65-Jähriger so fit wie es noch im Jahr 1970 ein 55-Jähriger war (oder ein 75-Jähriger wie ein damals 65-Jähriger). Das Alter wird also immer aktiver und agiler. Zudem können (und wollen) Alte gesellschaftlich mehr Verantwortung übernehmen als früher. Eigentlich ist jemand mit 60 heute gar nicht mehr „alt“. Unsere Begriffe stimmen nicht mehr. Mit dieser Einsicht verliert der demografische Wandel eine Menge seines Schreckens.

Welche politischen Maßnahmen sind angesichts der Tatsache notwendig, dass wir immer gesünder alt werden? Keine Frage: Dazu gehört auch, die Pensionsgrenze so lange weiter anzuheben, wie die Lebenserwartung wächst. Nicht vorrangig deshalb, weil sonst – ceteris paribus – das Rentensystem zusammenbräche. Sondern weil eine starre Altersgrenze den Menschen und ihren Bedürfnissen nicht gerecht wird. Wir müssen die Perspektive unserer Kinder einnehmen, die der künftig Hundertjährigen. Aus ihrer Sicht ist es geradezu albern, spätestens mit 65 (oder 67, das macht für sie kaum einen Unterschied) aus einer Arbeit auszusteigen, die ihrem Leben Sinn gibt, um für die nächsten 35 (oder 33) Jahre auf einem Altenteil zu sitzen, ohne eine Chance auf berufliche gesellschaftliche Teilhabe zu haben.

Nun könnte man einwenden, dass die Arbeit vielen gar keinen Lebenssinn verschafft und darum eine Belastung ist, die besser früher als später vorbei sein sollte. Aber dann ist vielleicht genau das unser Problem, und nicht die Erhöhung des Rentenalters. Wir müssen endlich den kraftzehrenden Blockade-Streit darüber beenden, ob am Ende marginale Änderungen wie die Rente mit 67 überhaupt anstehen. Wir werden in diesem Jahrhundert viel mehr verändern als das. Lasst uns endlich ernsthaft darüber reden, wie wir diese Veränderungen gestalten wollen.

Was will ich mit meinem langen Leben anfangen?

Wenn unsere im Jahr 2012 geborenen Kinder schon sprechen können und immer noch fast 100 Jahre vor sich haben, werden sie nicht nach der Rente fragen. Sie werden fragen: Was will ich mit meinem langen Leben anfangen? Wie will ich die mir geschenkte Zeit aufteilen? Bestimmt nicht mehr so wie bisher! Wir brauchen neue Visionen für dieses lange Leben. Wir müssen beginnen, uns neue Geschichten von einer lebenswerten Zukunft zu erzählen. Hier kommt ein Versuch.

Die traditionelle Aufteilung des Lebens in die drei Abschnitte Lernen – Arbeit – Freizeit bricht auf. Künftig arbeiten wir viel mehr Jahre, dafür aber weniger Stunden pro Woche. Viele setzen mit der Arbeit sogar mitten im Leben für Monate oder Jahre ganz aus, um sich anderen Dingen zu widmen. Arbeit, Ausbildung, Freizeit und Kindererziehung vermischen sich im Lebensverlauf stark. Das bedeutet für jeden dieser Gebiete nicht weniger als kleine Revolutionen.

Die Wirtschaft orientiert Arbeitsplätze besser an den Zeitbedürfnissen der Menschen und wandelt im großen Stil Vollzeitjobs in Teilzeitjobs um. Der Staat flankiert diese Veränderungen durch Maßnahmen wie lebenslange Arbeitszeitkonten und fiskalische Anreize. Die Sozialsysteme basieren nicht mehr (fast) ausschließlich auf Erwerbsarbeit.

Das Bildungssystem ist in 50 Jahren kaum mehr wiederzuerkennen – im positiven Sinne. Lebenslanges Lernen ist kein Schlagwort mehr, sondern Realität. Universitäten werden von Menschen aller Altersgruppen besucht. Die Arbeitgeber fordern ihre Mitarbeiter auf, sich regelmäßig weiterzubilden und übernehmen auch die Kosten dafür. Bildung ist in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt die wertvollste Währung.

Weil sich die Arbeitszeit über das Leben gleichmäßiger verteilt, sind die Geburtenraten spürbar angestiegen. Junge Menschen haben wieder Zeit für Kinder. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie am Anfang des zweiten Lebensdrittels wird von Staat und Wirtschaft inzwischen besser ermöglicht als noch im Jahr 2012 in Schweden. Dass die Freude an Enkeln und Urenkeln über Jahrzehnte bewusst erlebt werden kann, gibt dem Kinderkriegen eine ganz neue Relevanz.

Die Politik hat begriffen, dass nicht nur die Erfüllung von Kinderwünschen, sondern auch die Verteilung der Lebenschancen eines ganzen Jahrhunderts eine Frage der Gleichberechtigung ist: Frauen und Männer besetzen Führungspositionen fast paritätisch und teilen sich Erwerbs- und Familienarbeit fair auf.

Eine unerfüllbare Vision? Nur teilweise. Denn die Menschen in modernen Gesellschaften werden sich nicht dauerhaft daran hindern lassen, ihre grundlegenden Bedürfnisse zu erfüllen. Dazu gehört, wie wir altern und Kinder bekommen, wie wir leben, lieben und arbeiten. Wenn das Leben selbst sich so stark verändert wie im demografischen Wandel, dann ist ausgeschlossen, dass sich die gesellschaftlichen Systeme einer ebenso grundlegenden Veränderung langfristig widersetzen. Auch wenn die großen Umbrüche dieses Wandels noch vor uns liegen: Er hat längst begonnen. Unsere Verantwortung ist es nicht, ihn aufzuhalten. Sondern ihn zu formen. Jetzt. «

Dieser Text wurde zunächst auf der progressiven Debattenplattform www.fortschrittsforum.de veröffentlicht. Wir danken herzlich für die Gelegenheit zum Nachdruck.

zurück zur Ausgabe