Humboldt muss sterben, damit die Lehre leben kann

Die deutsche Forschung ist Spitze, die deutsche Lehre nicht. So stellt sich die Wirklichkeit an den Hochschulen hierzulande dar, glaubt man den vielen Diskussionsbeiträgen zu diesem Thema. Doch wo liegen die Gründe für diese merkwürdige Diskrepanz? Und wie lässt sich die Situation verbessern? Antworten auf diese Fragen finden sich auf fünf verschiedenen Problemfeldern

„Die Politik muss endlich etwas für die Lehre tun. Die Lehre ist das ungeliebte Stiefkind der Universitäten. Massenvorlesungen, keine Betreuung, zu große Seminare!“ Solche Kritik hört man immer wieder. Dabei ist das Phänomen der ungeliebten Lehre an den deutschen Universitäten nicht neu. Schon zu den besten Zeiten des deutschen Hochschulsystems standen keineswegs nur begnadete Didaktiker am Katheder. Hegels Vorlesungsstil war derart langweilig, dass die Studierenden in Scharen aus dem Hörsaal flohen. Der berühmte Philosoph schaffte diesem Problem seinerzeit Abhilfe, indem er den Hausmeister bat, den Hörsaal während der Vorlesungen von außen abzuschließen.

SPD-Regierungen sind knauseriger

Heute beschränken sich die meisten Lösungsansätze zur Verbesserung der Lehre an den deutschen Hochschulen auf die Forderung nach mehr Geld und neuerdings auch auf die Schaffung von Lehr- oder Didaktik-Akademien. Beispielsweise wird im Oktober in Münster ein neues Zentrum für Hochschullehre seine Arbeit aufnehmen. Doch das Problem ist komplex und erfordert einen umfassenden Lösungsansatz. Eine solche „Paketlösung“ sollte mindestens fünf Punkte umfassen: Gute Lehre entsteht durch eine bessere finanzielle Ausstattung der Hochschulen und ein akzeptables Zahlenverhältnis von Professoren und Studierenden, durch die Auswahl geeigneter Formen für Lehrveranstaltungen und die Begeisterung und die Persönlichkeit der Lehrenden, sowie durch eine gute Didaktik innerhalb der Lehrveranstaltungen.

Erstens: Finanzielle Ausstattung. Generell sind die deutschen Hochschulen finanziell nicht üppig ausgestattet. Aber verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, dass die Unterfinanzierung von Hochschulen nicht zufällig auftritt und regional durchaus variiert. So ergaben statistische Untersuchungen, dass SPD-geführte Regierungen in der Vergangenheit im Durchschnitt weniger Finanzmittel für die Hochschulen zur Verfügung stellten als CDU-geführte Regierungen.

Ohne Zweifel wird sich auch das aktuelle Mantra der Haushaltskonsolidierung auf die Finanzierung der deutschen Hochschulen auswirken. Private Finanzierungsquellen wie Studiengebühren werden aus politischen Gründen ausgeschlossen, so dass auf absehbare Zeit keine ernsthafte finanzielle Besserstellung der meisten Universitäten zu erwarten ist. Bundesmittel können die größten Missstände lindern und den Hochschulen zumindest neue Spielräume verschaffen, etwa über Wettbewerbe, Sonderprogramme oder Notfinanzierungen. Bund und Länder stellten im Mai dieses Jahres mit ihrem unter Führung des Bundesbildungsministeriums entwickelten „Qualitätspakt für die Lehre“ eine Fördersumme von rund zwei Milliarden Euro für eine Verbesserung der Lehre zur Verfügung – ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Allerdings wird die Summe über ein ganzes Jahrzehnt gestreckt und auf 111 Hochschulen aufgeteilt.

Was Qualitätsverbesserung verhindert

Neben ausreichendem Lehrpersonal sind Investitionen in eine angemessene Infrastruktur wichtig. Häufig stören sich die Studierenden ja nicht an der eigentlichen Lehre, sondern an ihrer unprofessionellen Organisation seitens der Fakultäten. Dazu gehören neben starken und verantwortlichen Koordinatoren auch ästhetisch ansprechende und funktional durchdachte Räumlichkeiten – Bibliotheken, Arbeitsräume und so weiter. All das kostet viel Geld. Aber entsprechende Investitionen könnten sich durchaus lohnen: Auf diese Weise lassen sich Abbrecherquoten senken und die Qualität der Ausbildung an den Hochschulen erhöhen.
Zweitens: Verbesserung des Betreuungsverhältnisses. Selbst eine über Nacht reich gewordene deutsche Universität könnte ihr Betreuungsverhältnis nur leicht verbessern, die so genannte Kapazitätsverordnung schiebt einer echten Qualitätsverbesserung einen Riegel vor. Diese Verordnung legt fest, dass in beliebten (und damit überfüllten) Studiengängen für jeden neu berufenen Professor zusätzliche Studierende aufgenommen werden müssen. Anders ausgedrückt: Die Regelung stellt zwar sicher, dass Einzelne ihren Studienwunsch verwirklichen können, aber sie verhindert, dass die Universitäten in der Lage sind, flächendeckend eine auf individueller Förderung basierende Lehre anzubieten.

Warum gibt es eigentlich noch Vorlesungen?

Die Kapazitätsverordnung und die im Grundgesetz verankerte Berufsfreiheit sollten nicht abgeschafft, wohl aber reformiert werden. Deutschland kann beides gleichzeitig schaffen: Breiten- und Spitzenförderung – aber eben nicht mit den gleichen Instrumenten. Das gesetzlich festgeschriebene Recht, dass jeder sein Wunschfach an der Universität seiner Wahl studieren kann, erscheint überholt. Wenn sich junge Leute in Studiengänge einklagen müssen, läuft etwas grundlegend falsch. Ziel sollte es sein, dass jeder ein Studium aufnehmen und sein Wunschfach studieren kann – allerdings ohne Anspruch auf einen bestimmten Studienort. Universitäten brauchen das Recht, das quantitative Betreuungsverhältnis in ihren Studiengängen zu verbessern.

Klar ist, dass ein Professor in einem Seminar mit 80 Studierenden nur in Ausnahmefällen eine produktive akademische Diskussionsatmosphäre schaffen kann. Dennoch sollte die Qualität der Betreuung nicht nur an der Größe von Lehrveranstaltungen festgemacht werden. Eine weitere Verbesserung könnte sein, jedem Studenten einen akademischen Mentor zur Seite zu stellen. Die Zahl der Rückmeldungen, die ein Student pro Semester von seinem Betreuer auf Hausarbeiten bekommt, ist ebenfalls ein wichtiger Indikator. Schreibt ein Student in einem Seminar alle drei Wochen eine kurze Hausarbeit und bekommt jedes Mal eine detaillierte Rückmeldung, lernt er vermutlich ziemlich viel. Zusammengefasst heißt das: Wir müssen die quantitative Betreuung nicht nur verbessern, sondern sie auch um qualitative Dimensionen erweitern.

Drittens: Auswahl geeigneter Formen für Lehrveranstaltungen. Warum gibt es heutzutage eigentlich noch Vorlesungen? Sie waren wichtig zu einer Zeit, als Bücher teuer waren und es noch kein Internet gab. Mittlerweile existieren gute Alternativen: Beispielsweise kann sich ein deutscher Student der Wirtschaftswissenschaften online die Einführungsvorlesung vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) anschauen, möglicherweise hält sie sogar ein sehr unterhaltsamer Nobelpreisträger.

Viele Vorlesungen langweilen den Großteil der Studierenden nicht nur, ihnen wird auch wenig beigebracht, was sie sich nicht anlesen könnten. In einer neuen Form vermögen Vorlesungen aber sehr sinnvoll zu sein. Zum Beispiel ist die beliebteste Lehrveranstaltung an der Harvard University nicht ein kleines Seminar, sondern eine Massenveranstaltung: Michael Sandels Ethik-Vorlesung hören mehr als 1.000 Studierende. Mit großem rhetorischem Talent schafft er es, die Zuhörer mitzureißen und zum „Mitmachen“ anzuregen. Die ethischen Dilemmata, die er in seiner Vorlesung diskutiert, vertiefen anschließend mehrere Dutzend Kursassistenten in Kleingruppen. Mit dem richtigen Format, mit logistischer Unterstützung und einer gewissen Begeisterungsfähigkeit können Vorlesungen also auch heute noch sinnvoll sein.

Falsch eingesetzt werden sie dann, wenn es nur darum geht, möglichst viele Studierende auf einmal „abzuarbeiten“ oder trockenen Grundlagenstoff mit so geringem Personaleinsatz wie möglich zu vermitteln. Eigentlich sollten Vorlesungen Auszeichnungen sein für die besten Professoren, die die Gelegenheit haben, den Studierenden die großen Zusammenhänge ihres Faches zu erklären. Allerdings kostet die Abschaffung von Vorlesungen auch Geld, da an ihre Stelle viele neue, kleinere Lehrformate treten müssten. Langfristig können andere Lernformate aber Geld sparen, etwa online-gestützte Lernmethoden – und das, obwohl sie interaktiver sind als Vorlesungen.

Die Gastprofessorin kannte alle Namen

Viertens: Die richtigen Anreize setzen. Im vergangenen Sommersemester hielt eine amerikanische Gast-Professorin an einer deutschen Universität ein Seminar ab. Zu Beginn notierte sie sich wie selbstverständlich die Namen aller Studierenden. Beim zweiten Treffen kannte sie die Namen aller Teilnehmer auswendig. Am Ende des Kurses erzählten ihr viele Studierende, so etwas noch nie erlebt zu haben. Warum sie das tat? Ihr war es wichtig, den Lernfortschritt jedes einzelnen Studierenden verfolgen zu können. Das ist das Geheimnis guter Lehre: Sind Lehrende in der Lage zu sehen, wie sich die Lernenden weiterentwickeln, ist Lehre plötzlich nicht mehr nur der Ausfluss von Wissen, sondern Bildung im wahrsten Sinne des Wortes. Um diesen Bewusstseinswandel zu unterstützen, sind zusätzliche Mittel nötig, kleinere Kurse und vielleicht auch mehr didaktische Schulungen. Letztlich aber muss der Lehrende das Interesse haben, die eigenen Studierenden intellektuell wachsen zu sehen.

Wir brauchen zusätzliche Anreize, damit Menschen mit einem solchen Interesse und Lehrtalent dauerhaft an den Universitäten bleiben – und damit schlummernde Lehrtalente geweckt werden. Nicht alle Professoren haben auch ein Talent für die Lehre oder arbeiten in einem Umfeld, das dieses Talent fördert. Häufig hängt ihre Karriere von anderen Faktoren ab, etwa von ihrer wissenschaftlichen Arbeit oder ihren akademischen Netzwerken. Dennoch gibt es auch an deutschen Hochschulen Mitarbeiter mit großem Lehrtalent, die mit leuchtenden Augen und Begeisterung von der Romantik, dem Rechtsstaat oder Ribonukleinsäuren erzählen können. Vermutlich bleiben nicht alle von ihnen an der Universität, sondern nur diejenigen, die auch gute Forscher oder Netzwerker sind. Viele Universitäten sperren sich dagegen, guten Lehrenden eine dauerhafte und anerkannte Position zu geben. Ihre Begründung: Dies sei nicht im Sinne der Humboldtschen Einheit von Forschung und Lehre. Wer lehren will, müsse auch forschen. Der Wissenschaftstheoretiker Yehuda Elkana sieht das in seinem bald erscheinenden Buch über die Universität im 21. Jahrhundert anders: Selbstverständlich sollten Lehrende Forschungserfahrung haben, aber man müsse kein Forscher sein, um eine gute universitäre Lehre zu bieten.

Derzeit schafft das deutsche Hochschulsystem mehr Anreize zum mäßigen Forschen als zum guten Lehren. Sicher gibt es institutionelle Lehranreize, aber ein Lehrpreis mit Urkunde in Höhe von 2.000 Euro wirkt weniger imposant als die Einwerbung eines 150.000 Euro-Forschungsprojektes. Gute Lehre sollte überall mit gutdotierten Lehrpreisen belohnt werden, zum Beispiel neben einem Geldpreis auch mit Stellen für Tutoren. Auf der einen Seite sind die einzelnen Hochschulen gefragt, auf der anderen Seite müssen die jeweiligen Bundesländer neue Anreizstrukturen schaffen.

Humboldt liegt schon im Sterben

Schon heute wird ein bedeutender Teil der Lehre von Personen geleistet, die nur wenig forschen. Diese sind meist nicht fest an der Hochschule verankert. Statt offizieller Lehrprofessuren können die Universitäten immer wieder nur kleine Lehraufträge vergeben. Ein Beispiel aus der realen Hochschulwelt: Das Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin ist das größte und älteste politikwissenschaftliche Institut der Bundesrepublik. Im Vorlesungsverzeichnis für das Sommersemester 2011 wurden für die ersten vier Bachelor-Semester des Studiengangs Politikwissenschaft an die 100 Vorlesungen, Seminare und andere Lehrveranstaltungen angeboten. Allerdings sind nur 22 Prozent der Lehrenden auch Professoren am OSI. Etwa 41 Prozent der Lehrenden sind Wissenschaftliche Mitarbeiter, viele haben ihr Diplom selbst erst seit kurzem in der Tasche. Der Rest, etwas mehr als ein Drittel, sind Lehrbeauftragte oder Gäste ohne institutionelle Anbindung an das Institut. Mit anderen Worten: Humboldt liegt schon im Sterbebett, es wagt nur niemand auszusprechen.
Lehraufträge oder befristete Stellen zweiter Klasse mit niedrigem Gehalt werten die Lehre gegenüber der Forschung ab. Echte Lehrprofessuren müssen die gleichen Entfaltungsmöglichkeiten bieten wie reguläre Professuren. Die entscheidende Frage ist, ob es an jeder Universität Lehrprofessuren zur Verbesserung der Lehre geben sollte oder, ähnlich dem amerikanischen Modell, vorwiegend an den Hochschulen, die weniger stark im internationalen Wettbewerb stehen.

Fünftens: Sinnvoller Einsatz der Hochschuldidaktik. Dieser Punkt steht bewusst am Ende dieser Ausführungen. Denn Hochschuldidaktik funktioniert nur schlecht, wenn die oben genannten übrigen Kriterien nicht erfüllt werden. Eine Schulung in Didaktik für den neuen Juniorprofessor bringt wenig, wenn dieser in einem Seminar ohne Hilfskräfte 120 Studierende unterrichten muss und es für ihn in der Lehre wenig karrierefördernde Anreize gibt. Hochschuldidaktik ist wichtig, bleibt aber Trostpflaster, solange die dahinter liegenden Probleme nicht gelöst werden.

Verklärte Blicke nach Amerika helfen nicht weiter

Ein Programm zur echten Stärkung der Lehre in Deutschland muss daher alle fünf hier genannten Punkte berücksichtigen. Einzelmaßnahmen können kurzfristig hilfreich sein, werden die Lehre aber langfristig nicht verbessern. Letztlich gehört auch ein Blick ins Ausland zu einem guten Lösungsvorschlag – allerdings nicht der übliche, verklärte Blick in die Vereinigten Staaten. Auf einer Konferenz zu Hochschulpolitik klagte ein bekannter deutscher Professor vor wenigen Monaten sein Leid über den Zustand der deutschen Universitäten. Vor allem die Lehre sei in den USA ja so viel angenehmer. Dieses Urteil könne er sich erlauben, weil er schon in Harvard, Berkeley und an der Cornell University unterrichtet habe.

Da hat der Professor einen sehr wichtigen Punkt genannt. Alle drei Universitäten gehören nämlich zu den 25 besten von landesweit über 3.000 Hochschulen. Nur wenige Deutsche wissen aus eigener Erfahrung, wie die Qualität der Lehre an anderen Hochschulen der USA aussieht, die – ebenso wie die deutschen Hochschulen – keine Milliardenvermögen besitzen. Genau dort sollten wir nach weiteren Wegen zu guter Lehre suchen. Die Verantwortung für die Verbesserung der Lehre kann und soll dabei nicht nur auf die Schultern der Professoren, Universitätspräsidenten oder Politiker geschoben werden. Auch die Studierenden können hier viel bewirken. Sie haben die Möglichkeit, an ihren jeweiligen Hochschulen konkrete Verbesserungen einzufordern. Es kommt jedoch auch vor, dass Studierende eine Verschlechterung der Lehre befördern, weil sie sich zum Beispiel dafür einsetzen, dass selbst ihre Kommilitonen aus wohlhabenden Elternhäusern keine Studiengebühren zahlen müssen oder weil sie – mit guten Absichten und in Einklang mit den rechtlichen Regelungen – abgelehnte Studienbewerber ermuntern, sich in die Hochschule einzuklagen und damit für noch vollere Seminare und Vorlesungen sorgen. Stattdessen könnten Studierende darauf bestehen, dass ihre Universität ein Mentoring-System aufbaut; sie könnten vorschlagen, sinnlose Vorlesungen abzuschaffen; sie könnten dafür sorgen, dass ihre Professoren sie namentlich kennen; und sie könnten dafür eintreten, dass die Organisation der Lehre in professionelle Hände gegeben wird. «

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