Hallo Deutsche! Welches Europa wollt Ihr eigentlich?

Ob es euch passt oder nicht, die Krise hat Deutschland eine ganze Reihe neuer Nachbarn beschert. Statt neun habt Ihr jetzt 16, wahrscheinlich sogar 26! Und sie alle schauen auf Euch. Ach, und noch etwas: Ihr müsst Euch klar machen, dass es in Eurem von 27 Nachbarn bewohnten Haus immer chaotischer zugehen wird als in Eurer eigenen gemütlichen Wohnung

S eit dem Frühjahr 2010, als die Verschuldungskrise ausbrach, ist Europa kleiner geworden. Ihr Deutschen müsst das endlich kapieren: Statt neun habt Ihr jetzt mindestens 16 Nachbarn, wahrscheinlich sogar 26! Und sie alle schauen auf Euch, mal ängstlich, mal neidisch, mal ungeduldig, manchmal sogar wütend. Hinter diesen Emotionen verbirgt sich die immer gleiche Sehnsucht nach einem visionären und glaubwürdigen Narrativ, wie es mit Europa weitergehen soll. Aber wisst Ihr Deutschen überhaupt schon, welches Europa Ihr wollt?

Bayern München – F.C. Barcelona 2:11

Mai 2012. Im Endspiel der Champions League trifft Bayern München auf den FC Barcelona. Vor dem Anpfiff setzen die Manager des deutschen Rekordmeisters durch, dass die Zahl der Spieler pro Mannschaft begrenzt wird, abhängig von der Höhe der Spreads bei Kreditausfallversicherungen für spanische und deutsche Anleihen. Deshalb treten gegen elf Bayern nur drei Spieler aus Spanien an. Trotzdem gewinnen Lionel Messi, Andrés Iniesta und Xavi mit 11:2.

Juni 2012. Bundeskanzlerin Angela Merkel unterbreitet allen 27 EU-Mitgliedsländern einen neuen Vorschlag, um die Krise der Eurozone in den Griff zu bekommen: Demnach sollen sich die Mitgliedsstaaten per Gesetz verpflichten, keine weiteren Leistungsbilanz- und Haushaltsdefizite anzuhäufen. Auf den Einwand, dann könne ja auch kein Land mehr Leistungsbilanzüberschüsse erzielen, erwidert die Kanzlerin, dass Länder in anderen Teilen der Welt weiterhin Defizite aufweisen werden. Deshalb könne Deutschland auch in Zukunft Überschüsse erwirtschaften. Außerdem kündigt Merkel an, mit einer deutschen Unternehmerdelegation zum Jupiter zu fliegen und auszuloten, ob die dortigen Bewohner an der Aufnahme von Handelsbeziehungen zu Deutschland interessiert sind.

Diese beiden Geschichten sind leider nicht von mir, sondern entstammen einem sehr lustigen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30. Dezember 2011. Ihr Autor, Jim O’Neill, war lange Chefvolkswirt der Großbank Goldman Sachs und leitet heute deren Vermögensverwaltung Goldman Sachs Asset Management. Sein Text stellt eine Art Prophezeiung für das Jahr 2012 dar, und natürlich lästert O’Neill darin über Deutschland. Mit typisch britischem Humor spottet er darüber, was viele Nachbarn des Landes in der Krise so verärgert. Erstens: Berlin will nicht einsehen, dass Deutschland von der Einführung der gemeinsamen Währung am meisten profitiert hat und deshalb stärker als die übrigen europäischen Staaten dazu verpflichtet ist, deren Fortbestand zu garantieren. Zweitens: Deutschland ist kein unschuldiges Opfer der Verschwendungssucht anderer. Vielmehr hat es den Stabilitätspakt selbst gebrochen. Außerdem waren es auch deutsche Banken, die im Süden risikoreiche Anlagen gekauft haben. Drittens: Das Land leidet nicht nur unter der Krise, sondern profitiert auch von ihr. So kann sich die Bundesrepublik derzeit auch deswegen zu extrem günstigen Konditionen Geld leihen, weil Investoren die Anleihen angeschlagener Länder als zu risikoreich bewerten und eine sichere Alternative suchen.

Auch hier gilt: Hinter den bitteren Vorwürfen verbirgt sich in Wahrheit die große Hoffnung der europäischen Nachbarn, dass Deutschland – dieser ökonomische Riese, der inzwischen auch ein politischer Riese geworden ist – das wunderbare europäische Projekt vor dem Zerfall rettet. Genau diese Sehnsucht hat der polnische Außenminister Radosław Sikorski Ende November 2011 in einer Rede in Berlin zum Ausdruck gebracht. Der Auftritt Sikorskis zum Ende der polnischen EU-Ratspräsidentschaft sollte den Eindruck korrigieren, Warschau habe zur europäischen Krise nichts Interessantes beizutragen. Ein Ziel, das Sikorski zweifellos erreicht hat. Die Rede war gut geschrieben und sehr pointiert. Die Zeit druckte Auszüge ab, die FAZ besprach sie gleich auf der ersten Seite. Sikorskis zentrale Botschaft: „Wohl als erster polnischer Außenminister fürchte ich die deutsche Macht weniger als deutsche Untätigkeit. … Deutschland ist Europas unverzichtbare Nation geworden. Ich verlange von Euch, dass Ihr der Eurozone zum Überleben und Gedeihen verhelft.“

Sikorski sprach aus, was die Polen längst wissen

Der Publizist Adam Michnik – eine Art polnischer Rudolf Augstein, Joachim Gauck und Wolf Biermann in einer Person – bejubelte Sikorskis Rede in der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza als „mutig, klug und wichtig“. Ich würde mit dem Applaus nicht so weit gehen und mir nur die letzten beiden Superlative zu Eigen machen. Denn „mutig“ war die Rede nicht. Schon aus dem einfachen Grund, dass Sikorski kein mutiger Politiker ist. Im Gegenteil: Er ist ein ausgezeichneter Seismograf für politische Opportunitäten. Aber wenn sogar dieser Opportunist die Kausalität anerkennt, die zwischen der Qualität der deutschen Führung in Europa, der Stabilität der Eurozone und dem polnischen Wohlstand besteht, dann muss diese Erkenntnis in der breiten polnischen Gesellschaft mittlerweile tief verwurzelt sein. Zumindest ist es in Polen kein Geheimnis mehr, wie stark das Land von der europäischen Integration und von der wirtschaftlichen Verflechtung mit Deutschland profitiert.

Polen wird für Deutschland immer wichtiger

Vor einem Jahr habe ich für die Tageszeitung Dziennik Gazeta Prawna einen Artikel recherchiert, der unter dem Titel „Polnisches Wachstum, deutsche Lokomotive“ erschien. Die von mir dafür befragten Ökonomen schätzten, dass jeder Prozentpunkt zusätzliches Wachstum in Deutschland das polnische Bruttoinlandsprodukt fast automatisch um etwa 0,3 Prozentpunkte ansteigen lässt. Sollte Deutschland in eine tiefe Rezession rutschen und sich das Handelsvolumen halbieren, muss Polen mit einem Wachstumsrückgang um rund fünf Prozentpunkte rechnen. Schließlich gehen gut ein Viertel der polnischen Exporte nach Deutschland, während ein Fünftel der polnischen Importe aus Deutschland kommt. Die Verflechtung ist sogar schon viel weiter vorangeschritten als die polnisch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen vor 1989! Tendenz steigend – Polen wird für Deutschland als Handelspartner immer wichtiger. „Deutschlands Handel mit Polen ist größer als der mit Russland, auch wenn man es dem politischen Diskurs in Deutschland nicht immer anmerkt“, lautet einer der besten Sätze aus Sikorskis Rede.

Der Klassiker der modernen Ökonomie, David Ricardo, wies schon im Jahr 1817 nach, dass die wirtschaftliche Kooperation zweier Länder für beide Seiten Vorteile hat, vor allem wenn ein Land wesentlich reicher ist als das andere. Die Asymmetrie zwischen Deutschland und Polen wird nicht ewig bestehen. Die Arbeitskosten in Polen werden unweigerlich steigen, auch wird die polnische Wirtschaft auf Gebieten wie der Innovation oder der wissensintensiven Produktion nachholen, will sich das Land nicht irgendwann in einer Situation wie Portugal oder Griechenland wiederfinden. Zudem muss es aus polnischer Sicht darum gehen, den Handel mit weiteren Ländern zu intensivieren, um weniger stark von Deutschland abhängig zu sein. Auch dazu braucht Polen die Europäische Union, weil es im Osten (derzeit) keine attraktiven Handelspartner gibt. Und so landen wir wieder bei Deutschland. Denn nur Deutschland – so Sikorski in Berlin – kann Europa retten.

Die Wirtschaft ist natürlich nicht alles. In den vergangenen 20 Jahren hat Deutschland viel politisches und gesellschaftliches Kapital in den Aufbau von guten nachbarschaftlichen Beziehungen zu Polen und Tschechien investiert. Ähnliches kann man etwa über das deutsche Verhältnis zu Frankreich oder Holland in der Nachkriegszeit sagen. Aber ob Ihr es wollt oder nicht, die Krise hat Deutschland eine ganze Reihe neuer Nachbarn beschert: Portugal, Griechenland, Spanien oder Italien. Diese Länder sind weit weg, dennoch hängt der Wohlstand jedes Bundesbürgers in jeder beliebigen deutschen Kreisstadt entscheidend davon ab, wie sich Loukas Papademos, Mario Monti oder Mariano Rajoy verhalten.

Merkel kann nicht sagen, wohin es gehen soll

Erfordert diese verstärkte Verflechtung nicht eine neue Definition von europäischer Nachbarschaft? Zumindest verlangt die veränderte Lage von Deutschland Anpassungen. Langfristig müssen die Deutschen ihr Image wieder aufpolieren und die politischen Beziehungen zu den neuen Nachbarn verbessern. Es wird um eine Wiederannäherung an Griechenland und Portugal gehen, vielleicht nach dem deutsch-polnischen und deutsch-französischen Modell. Auch die Südländer haben ein Interesse an einem solchen Prozess. Nachbarschaft beruht immer auf Gegenseitigkeit.

Ferner muss Deutschland einige kurzfristige Entscheidungen treffen: Wie genau kann die deutsche Führung in Europa aussehen? Ja, es geht um Führung! Oder besser gesagt: um ein neues, glaubwürdiges Narrativ, wohin die europäische Reise geht. Leider scheint Angela Merkel nicht in der Lage zu sein, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Seit Jahren macht sie sich „außenpolitisch gern eine Nummer kleiner, als sie ist“, so Matthias Nass in der Zeit. „Sie will ihren Job ordentlich erledigen und wieder nach Hause gehen.“ Aber jede politische Strategie hat ihre Zeit. Merkels Stil passte gut in die Phase nach dem Ende von Gerhard Schröders Kanzlerschaft. Schröder hatte Deutschlands Nachbarn regelmäßig empört, weil er sich gern ein paar Nummern größer machte, als sein Land tatsächlich war. Merkels Stil war gut, um die EU-Verfassung in Form des Lissaboner Vertrages wiederzubeleben. Und er trug dazu bei, in den Jahren 2005 bis 2007 die Reibereien mit Jarosław Kaczyński konservativer Regierung in Polen zu mildern. Aber jetzt haben wir das Jahr 2012, und die Nachbarn erwarten etwas anderes.

Was genau? In Bezug auf den Stil einen Mittelweg zwischen dem Schröderschen „zwei Nummern zu groß“ und dem Merkelschen „eine Nummer zu klein“. Die Blaupausen liegen schon seit mindestens zehn Jahren auf dem Tisch. So hatte der Politologe Hanns W. Maull das Konzept der „Zivilmacht“ erarbeitet; andere forderten von Deutschland, die Rolle eines „weichen Hegemons“ einzunehmen, der gleichzeitig führt und den Partnern zuhört.

Auch inhaltlich braucht das deutsche Europa-Narrativ eine Runderneuerung. Dass wir die Staatsverschuldung bekämpfen müssen, daran besteht kein Zweifel. Und dass dabei Opfer notwendig sind, muss man einem Polen angesichts der harten aber erfolgreichen Transformation seit den neunziger Jahren auch nicht weiter erklären. Ein kritischer Punkt sind hingegen die von Merkel vorgeschlagene Fiskalunion und die Wirtschaftsregierung. Denn mehr Zentralisierung ist nicht immer die beste Lösung. Jedes Land der Eurozone befindet sich doch auf einem eigenen Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung, jedes Wirtschaftsmodell ist anders. Eine Fiskalpolitik, die Deutschland nützt, kann schlecht für Griechenland sein – und umgekehrt. Manche Länder benötigen mehr staatliche Interventionen oder höhere Steuern, und andere das Gegenteil. Manchen nutzt John Maynard Keynes mehr, anderen Friedrich Hayek. Um beim Bild vom Nachbarn zu bleiben: Der eine Bewohner eines Mietshauses braucht eine Zimmertemperatur von 27 Grad, um sich wohlzufühlen, während ein anderer 19 Grad bevorzugt. Wenn die Hausverwaltung für alle Wohnungen eine einheitliche Temperatur von 23 Grad festsetzt, führt das zu Unzufriedenheit und Erkältungen bei beiden Mietparteien.

In diesem Haus wird es nie ordentlich zugehen

Wie es derzeit aussieht, ist das von allen Nachbarn ersehnte große Narrativ erst realistisch, wenn Deutschland eine sozial-demokratisch geführte Regierung hat. Aber ist das linke politische Lager in Deutschland wirklich imstande, die große Erzählung zu liefern? Dazu muss es sich in jedem Fall bewusst sein, dass Europa nie reibungslos funktionieren wird. Eine perfekte Lösung für die Krise, die sich einfach in die europäischen Verträge reinschreiben ließe, gibt es eben nicht. Ihr Deutsche müsst Euch klar machen, dass es in Eurem von 27 Nachbarn bewohnten Haus immer chaotischer zugehen wird als in Eurer eigenen gemütlichen Wohnung.


zurück zur Person