Gemeinschaft und Gesellschaft

Am Ende aller Sicherheiten - wer gibt Orientierung? Tönnies? Marx?

Der Film zeigt schwitzende Proletarier, die nach der Arbeit duschen müssen. Er zeigt tanzende und singende Arbeiter, die mit Großfamilie, Kollegen und Nachbarn ein mitreißendes Hochzeitsfest feiern. Er zeigt wehrpflichtige Söhne der Arbeiterklasse, die in einen furchtbaren Krieg gezogen werden. Diese Kinogeschichte könnte 1917 spielen oder 1943 oder 1972. Es ist Michael Ciminos Vietnamstory The Deer Hunter (Die durch die Hölle gehen), die als Hommage an Robert De Niro in diesem Jahr noch einmal auf der Berlinale zu sehen war - als Blick zurück in eine vergangene, versunkene, fast schon vergessene Welt.

Heute sind alle Bilder anders. Computerarbeit ist geruchsneutral, Familienfeste gelten als spießig, und unsere Kriege werden aus großer Höhe geführt. So sieht der Fortschritt aus, nicht nur im Kino.

Haben wir also gewonnen? Wir lassen den giftigen Industrialismus, die stressige Massengesellschaft hinter uns und surfen - den Kapitalismus nehmen wir mit - hinüber in die saubere, individualisierte Informations- und Dienstleistungsgesellschaft: "Can I help you? You are welcome!" Die große Erzählung des 21. Jahrhunderts beginnt.

Begonnen hat vor allem die Umwertung aller Werte. All die alten Sinngeber müssen als unmodern entlarvt und lächerlich gemacht werden: Nation und Staat, Religion und Kirche, Sorge und Familie, Klasse und Gewerkschaft, Weltanschauung und Partei. Was bleiben darf, sind freie einzelne Menschen, jung und stark, weltläufig und mobil, egoistisch und flexibel. Wir sollen lernen, dass der freien Wirtschaft der gleiche moralische Überbau im Wege steht wie der freien Liebe: weg damit! Wir sollen uns nicht binden wollen, antiautoritär leben, antiinstitutionell denken, uns selbst genug sein. Indem wir glauben, Bindungslosigkeit sei die Voraussetzung für ein wahrhaft selbstbestimmtes Leben, machen wir uns radikaler als jede vorherige Generation abhängig von den Konjunkturen der Marktgesellschaft. Bequem ist das nicht unbedingt, denn Autonomie im automatisierten Dienstleistungszeitalter heißt immer öfter: Mach′s Dir doch selbst!

Die Trendjournalisten, die interessierten Unternehmer, Politiker und Wissenschaftler greifen nicht zu hoch, wenn sie einen "Epochenwechsel" bejubeln. Mit der "digitalen Revolution", der Veränderung der ökonomischen Grundlage, zieht eine neue Zeit herauf, eine neue Gesellschaft bricht sich Bahn.

Da ist es nur auf den ersten Blick erstaunlich, dass in neueren sozialwissenschaftlichen Diskussionen plötzlich alte Namen auftauchen. Ulrich Beck und Richard Sennett bemühen zur Deutung der Gegenwart nicht nur ihre eigenen transmodernen Erkenntnisse, sondern auch wieder die deutschen Klassiker Karl Marx und Ferdinand Tönnies (Die Zeit, 6. April 2000) - wohl weil sie Orientierung zu geben suchten in sozialen Umbrüchen, die hundert, hundertfünfzig Jahre zurückliegen. Denn je mehr Sicherheiten infrage gestellt sind, desto drängender wird der Wunsch nach Gewissheit. Was bleibt?

Was bleibt, wäre vielleicht der Glaube an die unerbittliche Dialektik von Basis und Überbau. Marx schrieb 1859 im Vorwort zu seiner Kritik der politischen Ökonomie: "In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. (...) Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um."

Oder schon 1848 (gemeinsam mit Friedrich Engels) im Manifest der Kommunistischen Partei: "Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisieepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen."

Dass diese Verehrung für Bewegung und Beschleunigung auch anderthalb Jahrhunderte später noch als aktuelles radikalliberales Deregulierermanifest zu lesen ist, zeigt: Festes und Altehrwürdiges, Stehendes und Heiliges sind hartnäckiger und erneuerungsfähiger, als Marx glaubte. Denn das Widerständige, das Langsame, das sich nicht Ändernde, der feste Halt - das sind menschliche Lebensnotwendigkeiten. Das bleibt.

Orientierung gibt hier Ferdinand Tönnies mit seinem Begriffspaar Gemeinschaft und Gesellschaft. Oder auch Max Weber, der in seinen Soziologischen Grundbegriffen zwischen "Vergemeinschaftung" und "Vergesellschaftung" unterscheidet. Es sind die gemeinschaftlichen Beziehungen zwischen Menschen, die - im Verband mit alten Vergesellschaftungen - immer wieder den neueren gesellschaftlichen Beziehungen im Weg stehen.

"Vergemeinschaftung", schreibt Weber, "soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns (...) auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht." Das kann ebenso die Familie wie die Gemeinde sein, die erotische Beziehung, die "nationale" Gemeinschaft, die kameradschaftlich zusammenhaltende Truppe. Die reinsten Typen der Vergesellschaftung sind dagegen "a) der streng zweckrationale, frei praktizierte Tausch auf dem Markt: ein aktueller Kompromiß entgegengesetzt, aber komplementär Interessierter; b) der reine, frei praktizierte Zweckverein (...); c) der wertrational motivierte Gesinnungsverein." Aber: "Jede noch so zweckrationale und nüchtern geschaffene und abgezweckte soziale Beziehung (...) kann Gefühlswerte stiften, welche über den gewillkürten Zweck hinausgreifen."

Das Menschenbedürfnis nach Gemeinschaft, nach Liebe und Mitleiden, gemeinsamem Tanz und Gesang, nach gemeinschaftlich gefühltem Schicksal, setzt der bindungslosen Flexibilität Grenzen. Gemeinschaft braucht Zeit und Zuverlässigkeit. Wer ständig den Ort oder die Identität wechseln muss, geht jeder Vergemeinschaftung verloren. Aber ohne Lebensgemeinschaften, die Kinder erziehen, ihren Nächsten lieben und zur Not Nachbars Blumen gießen, gibt es auch keine Vergesellschaftungen. "Gemeinschaft" geht "Gesellschaft" voraus und liegt ihr zugrunde. Die störenden Affekte und Traditionen, so sehr sie sich im Laufe der Geschichte wandeln mögen, sind nur überwindbar - um den Preis der menschlichen Existenz selbst.

In dem 1999 sehr erfolgreich gelaufenen Science-Fiction-Film Matrix von Larry und Andy Wachowski ist das Bewusstsein der Menschen endlich vom Körper und von jedem anderen Menschen getrennt. Leben wird nur noch als Computerspiel in ihren Köpfen elektronisch simuliert. Tatsächlich bewegt sich gar nichts mehr. Und die Simulationsprogramme sind jederzeit änderbar. Gegeben wird das Spiel einer Vergangenheit, die angesichts dieser Zukunft eine glückliche gewesen sein wird.

zurück zur Ausgabe