Gemeinsam stärker - Europas Weg aus der Krise

Sparpolitik um jeden Preis bringt die Abwärtsspirale in den Krisenländern des europäischen Südens nur immer weiter auf Touren. Stattdessen braucht Europa ein intelligentes Wachstumsprogramm, das Strukturreformen mit Investitionen auf Zukunftsmärkten verbindet. Noch haben wir Europäer die Chance, gestärkt aus der Krise hervorzugehen - doch die Zeit wird knapp

Vor rund 55 Jahren entwarf der damalige amerikanische Außenminister George Marshall die Vision eines „European Recovery Program“. Es sollte dem zerstörten Europa neue Hoffnung geben – und wurde später unter dem Namen Marshallplan eine große Erfolgsgeschichte.

Die Situation heute ist eine andere. Europa steckt in der tiefsten Krise seit Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Wer hätte noch vor drei Jahren gedacht, dass es bald um das schiere Überleben der EU gehen könnte? Aber genau das ist eingetreten! Wenn es uns nicht gelingt, die gegenwärtige Vertrauenskrise zu überwinden, reden wir demnächst nicht mehr nur über einen Euro-Austritt Griechenlands. Dann steht das gesamte Integrationsprojekt auf dem Spiel!

Damals setzten die Amerikaner ein milliardenschweres Programm auf, um die europäische Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Heute können wir uns nicht mehr darauf verlassen, dass andere uns zur Hilfe kommen. Im Gegenteil: In den USA, in Asien, überall wartet man darauf, dass wir endlich unsere Hausaufgaben machen und nach vielen halbherzigen Rettungsversuchen den Mut zu einem großen Wurf finden. Dieser große Wurf muss mehr umfassen als einen Fiskalpakt und den ESM!

Die Bundesregierung versteht die gegenwärtige Krise allein als eine Staatsschuldenkrise. Doch diese Analyse ist falsch. Auch wenn es in einigen Ländern schon vor der Krise eine hohe Staatsverschuldung gab – auf Staaten wie Spanien oder Irland traf das nicht zu. Mitte 2007 betrug die Staatsverschuldung in Irland lediglich 29 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), in Spanien rund 42 Prozent. Insgesamt lag die Staatsverschuldung in der Eurozone 2007 auf historisch niedrigem Niveau und unter den Werten der übrigen OECD-Länder.

Seitdem ist einiges passiert: eine globale Finanzkrise, nationale Rettungsschirme für Banken und die Realwirtschaft, steigende Kosten für Arbeitslosigkeit. So sind überall in Europa die Schuldenstände nach oben geschnellt – auch in Deutschland um fast 20 Prozentpunkte auf heute 79 Prozent.

Bei Krankheiten gilt, nur wer die richtige Diagnose stellt, kann erfolgreich therapieren. Übertragen auf die Krise bedeutet das: So problematisch hohe Staatsschuldenquoten auf Dauer sind – sie jetzt in kürzester Zeit mit allen Mitteln und ohne Rücksicht auf Verluste nach unten zu drücken, kann nicht unsere Antwort sein.

Das zeigt auch die deutsche Erfahrung. Wir haben in den vergangenen zehn Jahren den Turnaround doch nicht geschafft, indem wir fantasielos nur Ausgaben kürzten. Erinnern wir uns: Im Jahr 2002, nach dem Platzen der Blase an den neuen Märkten, war Deutschland der kranke Mann Europas. Die damalige rot-grüne Bundesregierung hat den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme reformiert. Aber wir haben gleichzeitig darauf geachtet, dass die Konjunktur nicht in den Keller rauscht. Das war der Hintergrund für die heute so gescholtene Aufweichung des Stabilitätspaktes. Und als dann – nach 2008 – die nächste Krise kam, haben wir mit wachstumsfördernden Instrumenten dagegen gehalten. Der deutsche Erfolg geht also nicht auf reine Austeritätspolitik zurück. Er basiert auf einem Mix aus Ausgabendisziplin, Strukturreformen und Wachstumsimpulsen. Und das soll heute nicht mehr gelten?

Märkte verlieren das Vertrauen, wo die Staatsschulden außer Kontrolle geraten – aber auch dann, wenn die Wirtschaft am Boden liegt und keine Aussicht auf Besserung besteht. Wir sind für Konsolidierung. Ob sich Konsolidierung aber allein über Sparen erzwingen lässt, darüber wird zu Recht gestritten. Die deutsche Erfahrung ist jedenfalls eine andere!

Nachhaltiges Wachstum liegt in unserem Eigeninteresse. Wir werden unsere noch robuste Wirtschaftskraft nur dann bewahren, wenn unsere Nachbarschaft wieder auf die Beine kommt. Wachstum in Deutschland, aber Rezession im Rest der Eurozone, Nullzinsen bei uns, während man für italienische Staatspapiere mehr als sechs Prozent zahlt – das wird nicht gut gehen. Das halten eine Währungsunion und eine Solidargemeinschaft, die die EU nun einmal ist, auf Dauer nicht aus.

Europas Volkswirtschaften sind inzwischen so stark miteinander verwoben, dass die Schwäche des einen die Schwäche des anderen ist. Und spiegelbildlich gilt: Die Stärke des einen ist die Stärke des anderen. Ganze Wertschöpfungsketten sind grenzüberschreitend miteinander verflochten. Fast jedes in Deutschland produzierte Auto schafft Wertschöpfung und Arbeitsplätze in Osteuropa. Dasselbe gilt für die Kundenbeziehungen: Wenn die Italiener keine deutschen Autos mehr kaufen, geht es nicht nur VW und Mercedes schlecht.

Rigoroses Sparen verschärft die Krise

Zweifellos ist Haushaltskonsolidierung wichtig! Schulden müssen abgebaut werden. Wer aber allein auf rigorose Sparpolitik setzt, treibt die Krisenländer immer weiter in eine Abwärtsspirale. Genau das erleben wir heute: Investitionen brechen ein, die industrielle Produktion schrumpft und die Arbeitslosigkeit erreicht immer neue Höchststände. Diese Politik verhindert genau das, was sie eigentlich erreichen will, nämlich solide Haushalte.

Als zweites Standbein neben Ausgabenkontrolle braucht Europa deshalb eine neue Wachstumsstrategie. Nachhaltiges Wachstum entsteht durch eine europäische Re-Industrialisierungsstrategie. Kurswechsel in Richtung Realwirtschaft – das muss unsere Parole sein. Das vergangene Jahrzehnt war in vielen europäischen Ländern durch zwei Trends gekennzeichnet: einen De-Industrialisierungsprozess auf der einen, exorbitant wachsende Finanzmärkte auf der anderen Seite. Die Konsequenz war der Vorrang der Wertabschöpfung vor der Wertschöpfung, eine wachsende Abhängigkeit von den globalen Finanzmärkten – und damit die Gefahr von systemischen Crashs, deren Folgen eine einzelne Volkswirtschaft nicht mehr stemmen kann.

In ganz Europa muss die Schaffung von realen Gütern und Dienstleistungen wieder in den Mittelpunkt rücken: „It’s the real economy, stupid!“ Denn genau hier liegen unsere Stärken: Im produzierenden Gewerbe arbeiten immer noch 35 Prozent aller europäischen Beschäftigten. Viele Dienstleistungen basieren auf einer leistungsfähigen Industrie. Jeder Arbeitsplatz dort schafft zwei hochwertige Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich. Kein Wirtschaftszweig steht so für Wettbewerbsfähigkeit wie eine innovative Industrie. Sie ist der Treiber für Fortschritt: Allein die Ausgaben für Forschung und Entwicklung der Industrie betragen mehr als die Hälfte aller Forschungsausgaben in der EU.

Europa muss die Realwirtschaft wieder zu seinem internationalen Markenzeichen machen: Innovation, Qualität und Know-how sind die Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit. Die Energiewende, die Ressourcenknappheit, der Klimaschutz, die alternden Bevölkerungen oder die zunehmende Mobilität werden ohne neue Technologien und Fertigungsprozesse nicht zu bewältigen sein. Europa wird auf den Leitmärkten der Realwirtschaft aber nur dann zum Vorreiter, wenn es die wirtschaftliche Spaltung in reiche und arme Länder überwindet. In Zeiten von wirtschaftlichen Ungleichgewichten muss das Motto lauten: „Re-Connecting Europe“.

Eine europäische Wachstumsstrategie sollte notwendige Strukturreformen mit Investitionen auf Wachstumsmärkten verbinden. Strukturreformen dort, wo Staat und Verwaltung modernisiert werden müssen, aber auch mehr Investitionen dort, wo das Wachstum der Zukunft entsteht. Der Marshallplan der fünfziger Jahre förderte vor allem die Investitionsgüterindustrie, den Ausbau der Energieversorgung und das Verkehrswesen. Später unterstützte er die exportintensive Industrie sowie kleine und mittlere Unternehmen. Um Europa wieder aufzubauen, geht es auch heute darum, in den Krisenländern private Investitionen zum Ausbau von Energieleitungen, Verkehrswegen und Telekommunikation zu initiieren. Dazu muss das notwendige Kapital bereitgestellt werden. Wir brauchen eine starke Europäische Investitionsbank, damit die Unternehmen auf Kredite für ihre Investitionen zugreifen können. Und durch gezielte strukturelle Maßnahmen gilt es, die Exportkraft der Krisenländer zu stärken, etwa im Energie- oder Tourismusbereich.

Zeitbombe Jugendarbeitslosigkeit

Das Herzstück einer Wachstumsstrategie muss der Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit sein. Dass in Europa mehr als fünf Millionen junge Menschen ohne Arbeit sind, ist eine Schande. Jedes Wachstumsprogramm muss sich daran messen lassen, ob für diese Jugendlichen neue Perspektiven und Chance entstehen.

Deshalb brauchen wir eine konzertierte Aktion, ein europäisches „Bündnis für Ausbildung und Arbeitsplätze“. Alle müssen an einem Strang ziehen: die Europäische Kommission, Gewerkschaften, Unternehmen und die Nationalstaaten. Wir brauchen gemeinsame Konzepte speziell für junge Arbeitsuchende, grenzüberschreitende Ausbildungs- und Jobprogramme sowie Anreize für Unternehmen, Jugendliche auszubilden und neu einzustellen.

All das kostet Geld. Und weil wir kein weiteres schuldenfinanziertes Konjunkturprogramm wollen, müssen wir mit der Finanztransaktionssteuer Ernst machen. Wir haben der Bundesregierung gesagt: Wer die Zustimmung der Opposition zum Fiskalpakt will, muss neben dem Sparen neues Wachstum in den Mittelpunkt stellen. Und er muss bei der Finanztransaktionssteuer endlich Dampf machen. Wenn es im Kreis der 27 oder in der Eurogruppe nicht geht, dann eben auf dem Weg der verstärkten Zusammenarbeit. Eine moderne Finanztransaktionssteuer ist etwas anderes als die britische stamp duty, die ein Überbleibsel aus dem 19. Jahrhundert ist. Eine effektive Steuer, wie sie die Kommission vorschlägt, umfasst am Ende alle Kapitalmarktprodukte.

In Spanien erleben wir derzeit, dass der europäische Bankensektor noch lange nicht stabil ist. Der spanische Staat unternimmt verzweifelte Konsolidierungsanstrengungen. Aber die Krise im spanischen Bankensystem hat er bisher nicht im Griff. Es ist zu begrüßen, dass die EU-Kommission jetzt ernsthaft über eine europäische Bankenunion nachdenkt, mit einer einheitlichen – und hoffentlich strengen – Bankenaufsicht und einem europäischen System der Einlagensicherung. Es bleibt das Gebot der Stunde, die Finanzmärkte zu regulieren, sonst sitzen wir weiter auf einer tickenden Zeitbombe.

Eine Bankenunion, strenge Regeln für die Finanzmärkte, Fiskaldisziplin und eine Wachstums- und Re-Industrialisierungsstrategie – das sind die Bausteine für ein europäisches Anti-Krisen-Programm. Zudem müssen wir bei der Vergemeinschaftung neue Wege gehen. Es ist zu begrüßen, dass in Brüssel unter den Überschriften „Fiskalunion“ und „Wirtschaftsunion“ über weitere, ehrgeizige Integrationsschritte nachgedacht wird. Eine engere Abstimmung der nationalen Wirtschafts- und Steuerpolitiken ist dringend erforderlich. Die SPD wird diese Überlegungen mit großer Sympathie begleiten und sich an der Diskussion beteiligen.

Darüber hinaus braucht eine gemeinsame Währung neue Elemente der Solidarität, unter anderem einen europäischen Schuldentilgungsfonds. Es ist erfreulich, dass diese Idee, die zuerst von den deutschen Wirtschaftsweisen entwickelt wurde, in der europäischen Diskussion immer mehr Anhänger gewinnt.

Der Fonds macht Schluss mit der bisherigen Praxis, Schulden durch immer höhere Schulden abzusichern. Stattdessen sollen aufgelaufene Schulden der Euroländer, die oberhalb von 60 Prozent des BIP liegen, in einen gemeinsamen Tilgungsfonds mit gemeinschaftlicher Haftung ausgelagert werden. Für jedes Land wird dann ein Konsolidierungspfad angelegt, in den die ausgelagerten Schulden in 20 bis 25 Jahren zurückgezahlt werden. Der Pfiff: Durch die gemeinschaftliche Haftung während der Tilgungsphase entsteht den teilnehmenden hochverschuldeten Ländern ein Zinsvorteil auf die im Fonds enthaltene Schuld, der gleichzeitig zur Tilgung der Schuld genutzt werden kann. Ja, auch das ist eine Form von Eurobonds. Aber wir können doch nicht das Denken einstellen, nur weil einigen die Überschriften nicht passen.

Über diesen Vorschlag muss ernsthaft diskutiert werden. Denn jenseits aller ökonomischen Gründe, die für einen solchen Fonds sprechen – er ist ein klares Signal, dass das Motto Europas nicht „chacun pour soi“ ist, sondern „Alle für einen, einer für alle“.

Der Trend zur Entsolidarisierung in Europa muss ein Ende haben. Wer in Deutschland Vorurteile über angeblich faule Südeuropäer schürt, treibt ein gefährliches Spiel. Wie übrigens auch derjenige, der jeden Appell an die Eigenverantwortung als Einmischung versteht! Solidarität ist notwendig, aber keine Einbahnstraße. Weil im Schuldentilgungsfonds Solidarität und Eigenverantwortung zusammenkommen, halte ich ihn für eine wirklich gute Idee. Europa steht am Scheideweg. Noch haben wir die Chance, gemeinsam und stärker aus der Krise herauszukommen. Aber die Zeit drängt!

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