Wir müssen uns jetzt ehrlich machen

Die Krisen des Nahen und Mittleren Ostens sind auch zu unseren Krisen geworden. Wir müssen alles uns Mögliche tun, um sie zu entschärfen. Gutes bewirken werden wir dabei nur, wenn wir Widersprüche aushalten und Rückschläge ertragen können

Mit ungeahnter Wucht sind die Auswirkungen der Krisen und Konflikte im Nahen und Mittleren Osten im vergangenen Jahr über Deutschland und Europa hereingebrochen. Innerhalb weniger Monate machten sich hunderttausende Menschen aus der Region auf den Weg über die Westbalkanroute nach Mitteleuropa. Die Folgen sind überall in unseren Städten und Gemeinden deutlich zu spüren: in Bahnhöfen, Schulen und Sporthallen. Und gleich zweimal innerhalb eines Jahres haben Terroristen, inspiriert und gesteuert aus den Zentralen des IS in Syrien und im Irak, entsetzliche Blutbäder mitten im Herzen Europas – in Paris – angerichtet. Das vergangene Jahr 2015 muss Anlass sein, uns ehrlich zu machen – mit Blick auf die Region des Nahen und Mittleren Ostens, aber auch in der Debatte über die Verantwortung deutscher Außenpolitik – einer Debatte, die immer noch zu sehr von der Vorstellung beherrscht wird, Außenpolitik sei „Kür“, in der es vor allem darum geht, eine gute Figur zu machen, und nicht die „Pflicht“, Lösungen für die realen Probleme in unserer Nachbarschaft zu suchen.

Denn dass die blutigen Konflikte und Krisen im Nahen und Mittleren Osten nicht ohne Auswirkungen auf unser Leben in Deutschland und Europa bleiben würden, sollte inzwischen jedem klar sein: Der seit fünf Jahren andauernde Bürgerkrieg in Syrien, vielleicht der grausamste Konflikt unserer Zeit, hat bereits über 300 000 Todesopfer gefordert. Über zehn Millionen Menschen sind in Syrien und den Nachbarländern Türkei, Libanon und Jordanien auf der Flucht. Diese Länder sind schon lange vom Andrang der Flüchtlinge überfordert. Mehr als fünf Millionen Menschen stehen im Irak und Syrien unter der Terrorherrschaft des IS, der alle Andersdenkenden vernichtet und bereits seit Jahren mit seinem pseudoreligiösen Wahn immer wieder auch junge Menschen aus Europa verführt. Hinzu kommen ein blutiger Machtkampf zwischen den verfeindeten Parteien und Milizen in Libyen, in dessen Wirren sich ebenfalls der IS wie ein Krebsgeschwür eingenistet hat, und die Eskalation des Bürgerkriegs im Jemen – schon zu Friedenszeiten das Armenhaus der arabischen Welt.

Trotz all der Unterschiede in ihrer Genese und Erscheinungsform ist all den Konflikten im Krisenbogen vom Maghreb bis zum Golf ein Muster gemeinsam: Überall in der Region zerfallen die alten Strukturen von Herrschaft und Staatlichkeit, ohne dass eine neue Ordnung absehbar wäre. Sicher nicht die alleinige Ursache, aber doch ein sichtbarer Auslöser, war die Irak-Invasion im Jahr 2003. Seitdem erleben wir überall in der Region, mit welcher Zerstörungskraft alte und neue Identitäts- und Konfliktlinien aufbrechen: Schiiten gegen Sunniten, Kurden gegen Araber, Säkulare gegen Islamisten. Politische Rivalitäten um die Vorherrschaft in der Region werden immer stärker ethnisch und religiös aufgeladen, zugleich scheint der Spielraum für politische Kompromisse immer geringer zu werden.

Am Anfang muss die nüchterne Analyse stehen

Vielleicht mehr noch als das Irak-Fiasko hat uns in Europa die bittere Erfahrung des so genannten Arabischen Frühlings gezeigt, wie wichtig es in der Außenpolitik ist, sich von der Begeisterung für idealistische Ziele nicht den Blick auf die Komplexitäten der Realität verstellen zu lassen. Um es ganz klar zu sagen: An der Brutalität und Korruption der alten nahöstlichen Despoten von Muammar al-Gaddafi über Husni Mubarak bis Saddam Hussein gibt es nichts, aber auch gar nichts zu beschönigen. Dass Menschen gegen verbrecherische Diktaturen aufstehen und für Freiheit und Selbstbestimmung kämpfen, ist nicht nur verständlich, sondern auch gut. Und unsere Sympathie für das Aufbegehren der syrischen Revolutionäre gegen die Gewaltherrschaft der Assads war nicht nur aufrichtig, sie war auch berechtigt. Aber die außenpolitische Analyse war zu naiv, wenn sie nicht zugleich im Auge behielt, welche eigenen Interessen und Vorstellungen Akteure wie der Iran und Saudi-Arabien, die Türkei und Katar, aber auch Russland und die Hisbollah für eine Neuordnung Syriens hatten und haben.

Erfolgreich ist Außenpolitik dann, wenn an ihrem Anfang eine ehrliche Analyse steht. Besonders im Krisenbogen des Nahen und Mittleren Ostens heißt das: Es gibt kein einfaches Koordinatensystem mehr, das es uns erlauben würde, alle Akteure nach Werten und Interessen fein säuberlich in Freund und Feind zu unterscheiden. Um Konflikte zu befrieden und zu entschärfen, müssen wir in der Lage sein, auch mit solchen Akteuren zusammen zu arbeiten und nach Interessenüberschneidungen und gemeinsamen Nennern zu suchen, mit denen wir fundamentale Meinungsunterschiede haben und deren Positionen in einigen Fragen unseren Vorstellungen vielleicht diametral entgegengesetzt sind. Wir müssen lernen, dass wir in der Außenpolitik nicht immer ohne Widersprüche auskommen werden – vielleicht etwas, das uns Deutschen besonders schwerfällt. Das heißt nicht, dass wir unsere Werte und Prinzipien infrage stellen. Im Gegenteil: In einer unübersichtlicheren Welt brauchen wir sie als Kompass nötiger denn je. Aber wir brauchen zugleich die Fähigkeit, Kompromisse auch mit Partnern zu finden, die unsere Werte nicht teilen.

Die Wiener Atom-Vereinbarung mit dem Iran hat gezeigt, dass dies auch für die schwierigsten Konflikte gilt. Zwei Voraussetzungen waren dafür nötig: zum einen der politische und wirtschaftliche Druck, den die internationale Gemeinschaft mit dem Sanktionsregime über Jahre aufgebaut hatte; zum anderen aber eben auch die Bereitschaft zum Gespräch. Und es war zu keinem Zeitpunkt ein einfaches oder angenehmes Gespräch. Wie oft standen die Verhandlungen in diesen Jahren vor dem Scheitern! Immer wieder war in den langen Verhandlungsrunden in Genf, Lausanne und Wien zu spüren, wie tief nach Jahrzehnten der offenen Feindschaft das gegenseitige Misstrauen immer noch sitzt. Und natürlich sind mit der Atom-Einigung längst nicht alle Differenzen und Konflikte mit dem Iran ausgeräumt. Trotzdem ist es am Ende mit beharrlicher Diplomatie gelungen, für all die schwierigen Fragen Lösungen zu finden, die alle Seiten im eigenen Interesse akzeptieren konnten. Mehr noch: Beide Seiten haben auch den Mut und die Bereitschaft aufgebracht, politische – auch innenpolitische – Widerstände auszuhalten. Dass bei allen Krisen und Konflikten wenigstens die über viele Jahre schwelende Gefahr einer atomaren Aufrüstung in der Region auf absehbare Zeit gebannt ist, macht den Mittleren Osten und die Welt ein kleines Stück sicherer.

Gesprächskanäle erhalten, Vertrauen aufbauen

Ich bin überzeugt: Gerade dort, wo Krisen und Konflikte zunehmend von ethnisch-religiöser Feindschaft überlagert werden, kommt es neben dem Druck der internationalen Gemeinschaft vor allem darauf an, zwischen den Konfliktparteien Gesprächskanäle zu erhalten, Sprachlosigkeit zu überwinden und gemeinsame Interessen zu identifizieren, bei denen Zusammenarbeit und Vertrauensbildung ansetzen kann. Dazu kann auch die deutsche Außenpolitik Beiträge leisten, wo immer es sinnvoll ist und sich die Möglichkeit bietet.

Gelungen ist dies im vergangenen Jahr bei den Verhandlungen um ein Friedensabkommen für Libyen. Anfang Juni hatte der damalige UN-Sondergesandte Bernardino León den Konfliktparteien den Entwurf eines Abkommens vorgelegt. Aber die Parteien lehnten nicht nur den Entwurf ab; sie waren nicht einmal bereit, gemeinsam denselben Verhandlungssaal zu betreten, um Raum für Kompromisse auszuloten.

Auf Bitten Leóns haben wir deshalb am 9. Juni 2015 die Verhandlungsdelegationen nach Berlin eingeladen, um sie hier gemeinsam mit den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates und den wichtigsten Staaten der Region an ihre Verantwortung zu erinnern und an die möglichen Konsequenzen für diejenigen, die sich einer friedlichen Lösung widersetzen. Vor allem aber haben wir sie mit einem protokollarischen Trick – einem Abendessen auf einem Spreedampfer, den drei Stunden lang niemand verlassen konnte – dazu gezwungen, sich erstmals gemeinsam an einen Tisch zu setzen. So konnten wir das Eis brechen.

Das Friedensabkommen wurde schließlich im Dezember unter Vermittlung des neuen UN-Sondergesandten Martin Kobler, einem erfahrenen deutschen Diplomaten, unterzeichnet. Richtig ist allerdings: Bis es vollständig umgesetzt ist und eine Regierung der nationalen Einheit tatsächlich handlungsfähig ist, bleibt noch viel zu tun. Deutschland hat jedes Interesse, diesen Weg weiter zu unterstützen.

Im Irak hat Deutschland eine Führungsrolle bei der Stabilisierung der Gebiete übernommen, die vom IS befreit wurden. Mit den Vereinten Nationen helfen wir, die öffentliche Sicherheit und Versorgung in der Region zügig wiederherzustellen, Strom- und Wassernetze zu reparieren sowie Schulen und Krankenhäuser wiederaufzubauen. In der Stadt Tikrit konnten so nach wenigen Monaten neunzig Prozent der Vertriebenen, mehr als 150 000 Menschen, in ihre Häuser zurückkehren. Dabei geht es um mehr als Technik und Material: Die Präsenz der internationalen Helfer soll verhindern helfen, dass die Milizen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen nach der Vertreibung des IS in diesen Gebieten neue ethnisch-konfessionelle Trennlinien ziehen. Auch die Wiederaufbauhilfe kann so ein Instrument der Außenpolitik sein, um Konflikte zu entschärfen.

Das Morden in Syrien muss beendet werden

Die größte und schwerste Aufgabe für die Diplomatie in der Region bleibt zweifellos, das Morden in Syrien zu beenden. Der Weg dorthin ist noch weit – das zeigt das Ringen um den Beginn der Genfer Friedensverhandlungen nur zu deutlich. Aber immerhin ist es in Wien und München gelungen, alle entscheidenden internationalen und regionalen Mächte nicht nur an einen Tisch zu bringen, sondern auch auf einen gemeinsamen Fahrplan für Friedensverhandlungen zu einer politischen Lösung zu verpflichten.

Richtig ist: Viele der schwierigsten Fragen sind noch ungelöst. Damit dieser Fahrplan eine Chance hat, Realität zu werden, darf die internationale Gemeinschaft in ihrem Druck auf die Konfliktparteien nicht nachlassen. Entscheidend wird vor allem sein, Iran, Saudi-Arabien und die Türkei, aber auch Russland und die Vereinigten Staaten an Bord zu halten und Gesprächsformate zu erhalten, auf denen sie untereinander Kompromisslinien ausloten können. Auch Deutschland muss deshalb tun, was in unseren Möglichkeiten steht, um zu verhindern, dass die jüngsten Spannungen zwischen Riad und Teheran den in Wien begonnenen Prozess gefährden.

Dass Deutschland übrigens in einem Format wie den Wiener Syrien-Gesprächen inzwischen wie selbstverständlich hinzugezogen wird, ist kein Anlass zum selbstzufriedenen Schulterklopfen – es bedeutet vor allem die Pflicht, uns vor der damit verbundenen Verantwortung nicht zu verstecken.

Auch hier sollten wir uns ehrlich machen: Ja, wir sind das größte Land in Europa, mit einer starken Volkswirtschaft und guten, belastbaren diplomatischen Beziehungen zu vielen Regierungen und Parteien in der Region. Wir genießen Vertrauen in der Region, wenn wir uns für die Lösung von Konflikten einsetzen, nicht zuletzt, weil wir im Gegensatz zu manch anderen Akteuren historisch weniger belastete Beziehungen haben. Und auch das spüre ich bei meinen Reisen in die Region immer wieder: Die Art, in der hunderttausende Deutsche auf die Not der Flüchtlinge mit Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft reagiert haben, hat das Ansehen unseres Landes gestärkt.

So viel ist klar: Abschotten können wir uns nicht

Wir haben Grund, selbstbewusst zu sein. Gleichzeitig müssen wir uns aber auch davor hüten, uns zu überschätzen. Deutschland ist keine Supermacht. Und auch das hat uns das vergangene Jahr vor Augen geführt: Gerade innerhalb Europas löst jeder Anschein eines deutschen Vormachtstrebens nach wie vor ungute Erinnerungen aus. Deswegen muss das gemeinsame Handeln mit unseren Partnern in der EU und der Nato, aber auch im Rahmen der Vereinten Nationen und der Anti-ISIS-Koalition die Grundkonstante deutscher Außenpolitik bleiben.

Wenn das vergangene Jahr der Anlass ist, uns ehrlich zu machen, gehört dazu vor allem diese Einsicht: Wir können uns vor den Krisen in unserer Nachbarschaft nicht abschotten. Spätestens seit dem Jahr 2015 wissen wir, wie unmittelbar und wie massiv ihre Auswirkungen uns auch hierzulande erreichen. Wir können uns also unsere außenpolitische Verantwortung nicht aussuchen: Verantwortung tragen wir so oder so – für unser Handeln oder für die Folgen unseres Nicht-Handelns.

Ich meine: Es bleibt uns gar nichts anderes übrig als zu versuchen, mit unseren Mitteln zu einer Entschärfung der Krisen und einer Stabilisierung im Nahen und Mittleren Osten beizutragen. Dazu müssen wir bereit sein, uns auch dort zu engagieren, wo es keine Erfolgsgarantien gibt – mit dem Mut, auch Rückschläge hinzunehmen, und mit der Beharrlichkeit, es trotzdem immer wieder aufs Neue zu versuchen.

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