Gegen Spaltung, für Gerechtigkeit



1 Sozialdemokratie ist die Geschichte von der Überwindung der Klassengesellschaft. Wie müde hört sich das an. In vielen Ohren klingt es nach Museum. Eine ehrenwerte Sache, aber eine von gestern. „Arbeiterbewegung“ oder „Arbeitnehmerpartei“, wer will sich denn so noch beschreiben lassen? Die Angesagten reden anders. Sie machen Projekte. Sie managen ihre Idee vom guten Leben. Sie wechseln Ort und Ankerpunkt, wandern aus und ein, legen Identitätsschichten übereinander, an die sich je nach Anlass anknüpfen lässt. Sie bewegen sich in einem sehr weiten Horizont unbestimmter Möglichkeiten, aktivierbarer Netzwerke und „softer“ Bindungen. Andererseits sind sie „tough“. Antrieb ist gut. Leistung muss schon sein. Eine gewisse Härte auch. Performance zählt. Dazu gehören „tough justice“ als Toleranzentzug für notorische Regelverletzer, Kleinkriminelle oder sonstwie Verwahrloste und „tough love“ als Erziehungsleitbild für Kinder, die Linie bekommen und sich durchsetzen sollen.

Diese Lebenslagen und typischen Einstellungen einer zwischen Autonomie und Anomie fluiden Gesellschaft sind noch kein politisches Bekenntnis. Sie werden aber besonders von rechtsliberalen Kräften geschickt bedient. Im Habitus ist der moderne Rechte ein (zumindest scheinbar) erfolgreicher Unternehmer und smarter Kommunikator. Er spricht die Sprache der Mobilen und Schnellen, die ihr Ding machen. Er kann Ironie. Er signalisiert auch Verständnis für Leute, für die Flexibilität eher aufgezwungen als frei gewählt ist. Jedoch bemüht er dabei kein Mitleid, sondern appelliert an den Stolz. Wer sich durchwurstelt, darf sich erhoben fühlen. So wird der moderne Rechte zum Helden des Prekariats. Er nobilitiert den kleinen Eigennutz. Er lehrt zugleich Verachtung, wo Menschen dauernd auf Hilfe angewiesen sind. Seine Botschaften haben im Kern alle etwas Sozialdarwinistisches.

Die Distanz der Sozialdemokratie zur Welt der Projektemacher und Durchwurstler von heute ist keine Frage der richtigen Werbeagentur. Sie ist im Gründungsimpuls und in den programmatischen Tiefenschichten der Partei angelegt. Als Erinnerungsgemeinschaft weiß sie, wie sie einmal in disziplinierter Organisation und Solidarität die Hierarchien eines Obrigkeitsstaates aufgesprengt und die industrielle Ausbeutung des Menschen zurückgedrängt hat. Nur erfasst diese Erzählung immer weniger Wirklichkeit. Ihre Alltagserfahrung finden immer weniger Zeitgenossen darin angesprochen und in Hoffnung übersetzt. Deshalb reicht die Schwäche der demokratischen Linken so tief hinab. Sie hat in einer ökonomisch und sozial verflüssigten Gesellschaft der schwachen Bindungen und nomadischen Existenzen viel von ihrer kulturprägenden Kraft verloren.

2 Dennoch sollte die Linke sehr sorgfältig mit ihrer Erinnerung umgehen. Ihr Ursprung ist das klassische Ideal, das Menschen beständig suchen, wenn sie den Sarkasmus der Desillusionierten satt haben: die großen Erwartungen einer besseren Zukunft. Diese Erwartungen sterben nicht ab. Und sie suchen Projekte, die mehr sind als das Ausleben privater Optionen. Ob daraus eine politische Bewegung zu mobilisieren ist, entscheidet sich zuerst am Prüfstein klarer und glaubwürdiger Wirklichkeitsbeschreibungen, in denen sich viele wiedererkennen. Die typische Lebenserfahrung sucht ihren politischen Ausdruck. Der Absolvent einer technischen Fachhochschule, der zusammen mit einer Handvoll Gleichgesinnter mit Kommunen, Versorgern, Banken und Anlegern verhandelt, um Windparks zu planen, auch in Portugal und Griechenland; die Volkswirtin mit Migrationshintergrund, die ihrer Herkunftsregion verbunden bleibt, indem sie in einem kleinen Beratungsbüro Entwicklungshilfeprojekte konzipiert und koordiniert; der Bachelor, der in diesem Beratungsbüro einen Minijob hat; der Journalist, der sich einen Internetdienst für Buchrezensionen ausgedacht hat; oder die Friseurin, die sich in einen Salon einmietet und auf eigene Kasse arbeitet – sie alle verstehen sich weder als Arbeitnehmer noch als Unternehmer. Sie haben eine Idee. Sie versuchen einen Weg.

3 Alle diese Projektemacher sind potenzielle Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. Was sie verbindet, ist nicht mehr der Betriebsrat. Was sie aber elektrisiert, ist die Frage der Gerechtigkeit. Es ist der stärkste, emotionalste Wert der demokratischen Linken. Und er ist aktuell. Tatsächlich hat sich ein neuer Schatten von Klassengesellschaft über dieses Land ebenso wie über viele andere gelegt. Die Erschütterungen und Risse in der Arbeitswelt, das Schuften ohne Lohn, das zügellose Kapital, die Privatisierung der Gewinne und die Sozialisierung der Verluste, die soziale Frage hinter der ökologischen, die Stromrechnung für die Erneuerbaren, das Gegeneinander in den Einwanderervierteln, das Menetekel von Ghettos und gated communities, der drohende Zerfall des geeinten Europa von den schwächsten Gliedern her. Die Spaltung abzuwenden, für die Gerechtigkeit und den Lastenausgleich einzustehen, ist eine der großen Erwartungen, von denen die Menschen leben. «

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