Frieden oder Eskalation?

Der Nahe Osten ist im Umbruch. Eine umfassende Beilegung des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern ist nicht ausgeschlossen - muss aber bald erzielt werden. Vor allem die Europäer haben allen Grund, jetzt energisch die Initiative zu ergreifen

In diesem Jahr feiert Israel den 60. Jahrestag seiner Staatsgründung. Die Palästinenser gedenken zeitgleich der „Nakba“, der Vertreibung aus den einst von ihnen bewohnten Gebieten. Damit werden bereits die beiden Kernpunkte des Nahostkonflikts deutlich: Land und Souveränität. Die politischen Fragen, die es heute zu beantworten gilt, ergeben sich hieraus – und sie erscheinen durchaus lösbar: Wie kann ein palästinensischer Staat geschaffen und der Staat Israel abgesichert werden? Wie können beide Staaten im Einvernehmen miteinander existieren?

Die Situation ist auch deshalb komplex, weil eine Vielzahl externer Akteure an dem Konflikt beteiligt ist: Staaten wie Ägypten, Saudi-Arabien und Syrien sowie politische Bewegungen wie die Hisbollah und die Hamas sind Teil des Nahostkonflikts und müssen deshalb auch Teil seiner Lösung sein. Eine solche Lösung kann nur unter Vermittlung der Vereinigten Staaten und Europas erreicht werden. Sie würde zwar nicht alle Probleme der Region aus der Welt schaffen, aber mit Sicherheit zur Stabilisierung des gesamten Nahen Ostens beitragen. Ein Abkommen, auf das sich die Konfliktparteien einigen können, muss sich in erster Linie der sechs entscheidenden Streitpunkte, der Endstatusfragen, annehmen.

Erstens ist das der Streit um die Stadt Jerusalem, die Israelis und Palästinenser gleichermaßen als Hauptstadt beanspruchen. Im Sechs-Tage-Krieg von 1967 hat Israel den Ostteil annektiert; die Ausweitung der israelischen Stadtviertel auf palästinensisches Gebiet schuf kaum mehr reversible Fakten. Eine Teilung der Stadt wird von religiösen und nationalistischen Hardlinern, besonders in Israel, abgelehnt. Zugleich ist Ost-Jerusalem für Palästina nicht nur von großer ideeller, sondern auch von enormer wirtschaftlicher Bedeutung.

Israel verändert die Grenze zu seinen Gunsten

Den zweiten entscheidenden Streitpunkt stellen die palästinensischen Flüchtlinge aus den Jahren 1948 und 1967 dar, deren Gesamtzahl sich weltweit auf rund 5,5 Millionen beläuft. Für diese Gruppe muss eine gerechte Lösung gefunden werden. Derzeit werden drei Möglichkeiten diskutiert, die jedoch alle weitere Probleme mit sich bringen: Die Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Herkunftsorte lehnt Israel unter Verweis auf die demografische Gefährdung seines jüdischen Charakters ab. Die Ansiedlung im Gebiet eines zukünftigen palästinensischen Staates ist angesichts der schieren Masse kaum realistisch. Und die Niederlassung der Flüchtlinge in Drittstaaten gefährdet, zumindest in einigen dieser Staaten, das empfindliche demografische Gleichgewicht und wird zudem von palästinensischer Seite offiziell strikt zurückgewiesen. Eine gerechte und für die Palästinenser annehmbare Lösung wird in jedem Fall mit finanziellen Entschädigungen für den Verlust von Land und Gütern verbunden sein.

Als dritter Hauptstreitpunkt erweist sich die Festlegung der Grenzen Israels und eines zukünftigen palästinensischen Staates. Israel versucht derzeit, die Grenze unilateral festzulegen, allerdings nicht entlang des Grenzverlaufs des Jahre 1967, den die palästinensische Seite als legitim akzeptiert. Im Vergleich zur völkerrechtlich anerkannten „Grünen Linie“ verändert Israel die Grenze zu seinen Gunsten. Durch den Ausbau von Siedlungen in der Westbank wird Land annektiert. Die Sperranlage verläuft über weite Strecken auf palästinensischem Gebiet um die Siedlungen herum und schafft zusätzliche Fakten.

Viertens stellen die Siedlungen selbst ein entscheidendes Hindernis auf dem Weg zu einem Friedensabkommen dar. Derzeit leben 418.000 Siedler in 141 Siedlungen im Westjordanland und in Ost-Jerusalem. Diese Siedlungen waren immer wieder Gegenstand von Verhandlungen. So wurde bereits in den Oslo-Abkommen und in der road map ein Stopp des Ausbaus israelischer Siedlungen und der Abbau illegaler Siedlungs-Vorposten vereinbart. Ungeachtet dessen werden große Siedlungsblöcke weiter ausgebaut, was eine Verkleinerung und Zergliederung des palästinensischen Gebietes zur Folge hat. Um die Lebensfähigkeit eines zukünftigen palästinensischen Staates zu sichern, ist eine Lösung der Siedlungsfrage unumgänglich.

Wasser für die gesamte Region

Fünftens muss ein Abkommen der beiden Konfliktparteien die Sicherheit des israelischen und eines zukünftigen palästinensischen Staates gewährleisten. Gewaltsame Angriffe eines Staates beziehungsweise nichtstaatlicher Akteure auf das Territorium des anderen müssen unterbunden werden. Diese Forderung richtet sich auch an Staaten wie Syrien und Libanon, die Israel bis heute nicht offiziell anerkannt haben. Sie ist indes mit dem Risiko behaftet, zu einem Zirkelschluss zu werden: Die Gewährleistung von Sicherheit ist eine staatliche Aufgabe. Die Errichtung eines palästinensischen Staates ist das Ziel eines Abkommens. Wird Sicherheit aber als Voraussetzung eines Abkommens betrachtet, so besteht die Gefahr, dass diese nicht zu erfüllen ist, wodurch wiederum das Abkommen unmöglich gemacht wird.

Schließlich gilt es sechstens zu gewährleisten, dass das Wasser an alle Bewohner der Region gerecht verteilt wird. Die Ressourcenknappheit im Nahen Osten macht Wasser zu einem wichtigen Streitgegenstand – im israelisch-palästinensischen Konflikt ebenso wie in den Konflikten mit den Nachbarn Syrien und Libanon.

Nach wie vor ist an der Zweistaatenlösung festzuhalten, die mittlerweile im Prinzip auch von allen Seiten anerkannt wird. Diese umfasst die Errichtung eines lebensfähigen palästinensischen Staates ebenso wie die Sicherung des Staates Israel. Dass es dennoch bislang nicht gelungen ist, ein Friedensabkommen zu schließen, macht eine regionale Lösung des Nahostkonflikts umso notwendiger.

In diesem Kontext sind zunächst Hamas und Hisbollah zu nennen, die Israel als Terrororganisationen einstuft. Die Hamas errang bei den Wahlen zum Palästinensischen Legislativrat im Januar 2006 die absolute Mehrheit und beanspruchte daraufhin das Recht zur Bildung der palästinensischen Regierung. Diese wurde jedoch von der Internationalen Staatengemeinschaft nicht anerkannt. Das Nahost-Quartett, bestehend aus den Vereinigten Staaten, den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und Russland, stellte der Hamas für eine Anerkennung drei Vorbedingungen: die Anerkennung der bereits unterzeichneten Abkommen zwischen Israel und den Palästinensern, die Anerkennung des Existenzrechts des Staates Israel in den Grenzen von 1967 und den Verzicht auf Gewalt.

Da die Hamas diese Forderungen nicht erfüllen wollte, rief die Internationale Staatengemeinschaft einen wirtschaftlichen und politischen Boykott aus, der auch nach der Bildung einer Einheitsregierung unter Beteiligung der Fatah nicht aufgehoben wurde. Nach nur 90 Tagen scheiterte die Einheitsregierung und die Hamas übernahm mit gewaltsamen Mitteln die Herrschaft im Gazastreifen. Seither sind die palästinensischen Gebiete faktisch gespalten in den von der Hamas kontrollierten Gazastreifen und die so genannten A- und B-Gebiete der Westbank, die von der Palästinensischen Autonomiebehörde unter Präsident Mahmoud Abbas regiert werden.

Kein Frieden ohne Hamas und Hisbollah

Die schiitisch-libanesische Hisbollah trat im Juli 2006 in den Fokus der Weltöffentlichkeit, nachdem Israel eine Kommando-Aktion der Hisbollah zum Anlass genommen hatte, der Organisation den Krieg zu erklären. Im Juli und August bombardierte die israelische Armee weite Teile Süd- und Ostlibanons sowie die Hauptstadt Beirut. Dabei erwies sich die Hisbollah als gut vorbereitet und beschoss über Wochen den Norden Israels mit etwa 3.000 Katyusha-Raketen.

Hamas und Hisbollah haben deutlich gemacht, dass ohne sie ein Frieden im Nahen Osten nicht zu verwirklichen ist. Der Schlüssel, um Hamas und Hisbollah in den Friedensprozess zu integrieren, liegt in Syrien. Das Regime Bashar al-Assads verfügt selbst nicht über ausreichende militärische Kapazitäten, um in den Nahostkonflikt einzugreifen, hat aber die Möglichkeit, jeden Friedensprozess zu torpedieren. Das politische Büro der Hamas befindet sich in Damaskus, von hier aus operiert die Führung der Bewegung. Syrien und Iran unterstützen die Hisbollah finanziell, zudem ist die Organisation abhängig von der syrischen Bereitschaft, durch ihr Territorium iranische Waffenlieferungen an die Hisbollah zu gewähren. Ein Friedensabkommen mit Syrien ist somit die einzige Möglichkeit, Hamas und Hisbollah als kriegsrelevante Akteure auszuschalten.

Ein besonders dringliches Problem stellt derzeit der Gazastreifen dar. Gegen ihn verschärfte Israel seinen Boykott im September 2007 nochmals, seither dürfen nur noch bestimmte Waren – meist Grundnahrungsmittel und Medikamente – eingeführt werden. Zudem wurden Ende 2007 Treibstofflieferungen stark beschränkt. Infolge des Boykotts sind inzwischen mehr als 80 Prozent der Bewohner des Gazastreifens von Lebensmittelhilfen abhängig, der akute Mangel an Treibstoff führt immer wieder zu Stromausfällen. Wird diesem Notstand nicht abgeholfen, droht dem Gazastreifen eine humanitäre Katastrophe. Die Mitte Juni 2008 unter der Vermittlung Ägyptens ausgehandelte Waffenruhe zwischen Hamas-Kämpfern und israelischer Armee scheint eine erste Möglichkeit, dieser Katastrophe zu entgehen. Seit die Waffen schweigen, beginnt Israel die Einfuhrblockade zu lockern. Bei allem Optimismus darf aber nicht außer Acht gelassen werden, dass diese Waffenruhe momentan nur für den Gazastreifen gilt. Im von der Fatah dominierten Westjordanland hat Israel weiterhin freie Hand. Kommt es dort zu größeren Verhaftungswellen oder gezielten Tötungen, sind erneut palästinensische Vergeltungsaktionen zu erwarten, die den gesamten Prozess destabilisieren könnten.

Auf Ägypten und Saudi-Arabien kommt es an

Ein entscheidender Akteur bleibt Ägypten. Nicht nur steht Ägypten gemeinsam mit Jordanien stellvertretend für die Möglichkeit eines Friedensvertrags mit Israel, auch verfügt das Land über erhebliche Einflussmöglichkeiten in den palästinensischen Gebieten, besonders im Gazastreifen, der bis 1967 unter ägyptischer Verwaltung stand. Ägypten fungiert als Vermittler zwischen den palästinensischen Gruppierungen und ist zudem in der Lage, durch ein entsprechendes Grenzregime zur Lösung der humanitären Krise im Gazastreifen beizutragen. Ägypten verfügt über die mit Abstand größte Armee des Nahen Ostens sowie über erhebliches politisches Gewicht. Ohne Ägypten wird die Krise des Gazastreifens nicht zu lösen sein, wird es keinen Friedensvertrag zwischen Israel und seinen Nachbarn geben.

Die Möglichkeit, im Rahmen weit gefasster arabisch-israelischer Verhandlungen zu einem Friedensabkommen zu gelangen, wird sich ferner nur dann als realistisch erweisen, wenn Saudi-Arabien im Verhandlungsprozess eine entscheidende Rolle einnimmt. Zum einen hat Saudi-Arabien in der Vergangenheit durch die von ihm ausgehende arabische Friedensinitiative seinen Willen zur umfassenden, alle arabischen Staaten einbeziehenden Beilegung des Konflikts gezeigt. Auch die palästinensische Einheitsregierung kam unter saudischer Vermittlung zustande. Zum anderen ist Saudi-Arabien unverzichtbar, um die finanzielle Seite eines Friedensabkommens abzusichern. Die Entschädigung der vertriebenen palästinensischen Bevölkerung fällt ebenso unter diesen Punkt wie die notwendigen Maßnahmen zum Aufbau des palästinensischen Staates.

Wie die Gewaltspirale gestoppt werden kann

Diesem Wunsch nach einer umfassenden Lösung unter Beteiligung aller regionalen Akteure entsprach Ende November 2007 der Gipfel von Annapolis, an dem neben Mahmud Abbas und Israels Präsident Ehud Olmert auch Vertreter Syriens und zahlreicher weiterer arabischer Staaten teilnahmen. Unter Vermittlung des amerikanischen Präsidenten George W. Bush, der in den sieben vorangegangen Jahren seiner Amtszeit keinerlei Initiative zur Lösung des Konflikts ergriffen hatte, einigten sich Olmert und Abbas darauf, die Friedensverhandlungen wieder aufzunehmen und die erste Stufe der road map zu verwirklichen. Alle Seiten sprachen von der Möglichkeit einer Lösung des Konflikts bis Ende 2008. Kurz darauf wurden Verhandlungsteams mit der Aufgabe betraut, Lösungen für Kernstreitpunkte zu finden und deren konkrete Umsetzung vorzubereiten. Bislang blieben sichtbare Schritte in Richtung einer Lösung des Konflikts jedoch aus.

Solche Schritte wären jedoch dringend erforderlich, um den gerade wieder angelaufenen Friedensprozess nicht zum Stillstand kommen zu lassen. Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt kann nicht durchbrochen werden, solange beide Seiten auf ihrer Sichtweise bestehen, sie würden jeweils nur in Reaktion auf die Aktionen der Gegenseite handeln. Diese Unterscheidung ist schon lange nicht mehr möglich. Und solange jede Provokation sofort mit harter Hand und einer Racheaktion beantwortet wird, sind Friedensbemühungen zum Scheitern verurteilt.

Notwendig sind konkrete Lösungen für die Kernstreitpunkte des Konflikts und spürbare Verbesserungen für die Menschen auf beiden Seiten. Es ist problematisch, dass in Annapolis die Implementierung eines Abkommens von seiner Unterzeichnung abgekoppelt wurde. Jede weitere Verhandlung muss die Endstatusfragen als Kernpunkte enthalten, es müssen für alle Seiten akzeptable und praktikable Lösungen gefunden werden. Der Zuspruch, den die Fatah und damit der Friedensprozess von der palästinensischen Bevölkerung erhalten, hängt wesentlich von den erreichten Fortschritten ab. Bleiben diese wie in der Vergangenheit aus, wird die öffentliche Unterstützung für den Friedensprozess wegfallen, und Kräfte wie die Hamas werden an Unterstützung gewinnen.

Die Chance auf Frieden droht zu schwinden

Auch bei der konstruktiven Gestaltung von Friedensverhandlungen kommt externen Akteuren eine wichtige Rolle zu. Vor allem Europa darf nicht bloß Zuschauer sein, sondern muss die Initiative ergreifen – so wie es zunehmend auch Israel fordert. Ein erster Schritt war die Wiederbelebung des Nahost-Quartetts unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft Anfang 2007. Ihm müssen weitere folgen. Auch ist deutlich geworden, dass ohne amerikanische Vermittlung Fortschritte im Friedensprozess nicht zu erwarten sind.

Außerdem gilt es, die regionalen Mächte in den Friedensprozess zu integrieren. Zentrale Streitfragen des Nahostkonflikts wie etwa die der Flüchtlinge, des Wassers und der Grenzziehung betreffen die Nachbarn Israels direkt. Eine Friedenslösung kann nur dann nachhaltig sein, wenn diese Länder sie mittragen. Es ist daher als positive Entwicklung zu bewerten, dass die regionale Komponente zunehmend an Gewicht gewinnt. Die Anwesenheit zahlreicher arabischer Staaten beim Gipfel von Annapolis war hierfür ein gutes Zeichen, ebenso wie die Friedensinitiative Saudi-Arabiens und die Wiederaufnahme der syrisch-israelischen Verhandlungen. Es muss allerdings darauf geachtet werden, dass hinter diesen weithin begrüßten bilateralen Friedensverhandlungen nicht die übrigen, ebenso relevanten Inhalte in Vergessenheit geraten. Gleichwohl unterstreichen die von Saudi-Arabien ausgehende arabische Friedensinitiative und die syrische Verhandlungsbereitschaft das Interesse der arabischen Staaten an einer umfassenden Lösung für den Nahen Osten.

Doch die Zeit schreitet voran, und die Chance auf eine Beilegung des seit 60 Jahren ungelösten Konflikts droht zu schwinden. Auch wird es angesichts der zunehmenden Fragmentierung der palästinensischen Gebiete durch israelische Siedlungen und deren Infrastruktur immer schwieriger, einen überlebensfähigen palästinensischen Staat aufzubauen. Ohne konkrete Ergebnisse gewinnen überdies auf beiden Seiten Extremisten an Zuspruch. Wird keine umfassende Lösung gefunden, droht der Ausbruch einer dritten Intifada, die auch auf Palästinenser, Araber und Muslime außerhalb des eigentlichen Konfliktgebiets übergreifen könnte.

Die umfassende Beilegung des Konflikts ist möglich. Die Kernstreitpunkte sind benannt und sollten regional-kooperativ gelöst werden. Ansätze dafür sind vorhanden und müssen konsequent verfolgt werden. Der Nahe Osten befindet sich im Umbruch. Es liegt an den Beteiligten, ob am Ende dieses Prozesses eine Friedenslösung oder eine Eskalation steht.

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