Polen auf dem Weg ins Ungewisse

Unter Führung der liberalkonservativen PO war Polen acht Jahre lang ein stabiler und ökonomisch erfolgreicher Partner Deutschlands. Doch die PO-Ära geht zu Ende. Brechen mit dem Wiederaufstieg der konservativen PiS-Partei alte Konflikte neu auf?

Das Wahljahr in Polen hat mit einem politischen Erdbeben begonnen. Im Mai haben die dortigen Wähler für alle Beobachter überraschend einen neuen und bisher unbekannten Präsidenten gewählt. Im Herbst werden sie nun über die Abgeordneten des polnischen Parlaments, des Sejm, abstimmen. Der Wahlkampf dafür startete sofort nach der Präsidentschaftswahl – und das mit ungewöhnlicher Heftigkeit. Klar ist schon jetzt, dass sich die Zusammensetzung des Sejm stark verändern wird. Denn Polens politische Landschaft wandelt sich zurzeit stark. Ein Rechtsruck und ein Regierungswechsel sind wahrscheinlich. Galt Polen bis vor kurzem noch als stabiler und zuverlässiger Partner in Europa, könnte das Land nun aufgrund der neuen politischen Umbrüche deutlich unberechenbarer werden.

Andrzej Duda: Dynamisch und populistisch

Vor der Präsidentschaftswahl im Mai war der Amtsinhaber Bronisław Komorowski von der liberal-konservativen Regierungspartei Bürgerplattform (PO) der klare Favorit auf den Sieg. Noch bis April lag er in allen Umfragen deutlich vorn. Doch der Hauptkonkurrent von der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), der Europaabgeordnete Andrzej Duda, führte konsequent einen dynamischen und populistischen Wahlkampf. In den Umfragen holte er von Monat zu Monat auf und gewann schließlich im zweiten Wahlgang am 24. Mai 2015 mit 51,5 Prozent der abgegebenen Stimmen. Komorowski musste sich mit 48,5 Prozent geschlagen geben. Die Wahlbeteiligung fiel mit 55 Prozent eher niedrig aus; letztlich entschied eine halbe Million Stimmen über den Ausgang. Keine andere Präsidentschaftswahl in Polen ging so knapp aus wie diese – und dennoch verändert sie die politische Landschaft mit Wucht. Die Premierministerin Ewa Kopacz von der Bürgerplattform brauchte volle zwei Tage, um sich zur Wahlniederlage zu äußern.

Wohin Polen unter dem neuen Präsidenten steuern wird, dessen Amtseinführung voraussichtlich am 6. August erfolgt, ist bisher weitgehend unklar. Im Wahlkampf äußerte sich der außenpolitisch unerfahrene Duda zu Fragen der internationalen und europäischen Politik nur vage. Er reklamierte lediglich eine selbstbewusstere Rolle Polens gegenüber Deutschland und innerhalb der EU. Dass er an die konfrontative und letztlich wenig effektive Deutschland- und Europapolitik der Kaczyński-Arä anknüpfen wird, gilt als wenig wahrscheinlich. Allerdings ist dies auch nicht völlig auszuschließen.

Die mittlerweile schon vergessene Instabilität der polnischen Politik und das Scheitern der liberalen proeuropäischen Eliten im eigenen Land können Polen nun zu einem unberechenbaren Land in der EU machen. Die seit acht Jahren ­regierende Bürgerplattform und besonders der ehemalige Premierminister Donald Tusk haben Polen erfolgreich weiter in die Mitte der Europäischen Union geführt – so wie es vorher Politiker des Demokratischen Linksbunds (SLD) getan hatten. Polen wurde so zu Deutschlands wichtigstem Partner für eine weitere Vertiefung der EU-Integration.

Die PO hat das Gespür für die Menschen verloren

Die Bürgerplattform konnte mit den Fördergeldern der EU zwar die wirtschaftliche Modernisierung des Landes und den Ausbau der Infrastruktur vorantreiben. Aber ihr fehlt die Kraft für eine nachhaltige gesellschaftspolitische Transformation und den Aufbau eines modernen Staatswesens. Die Regierung hat mittlerweile zu wenig Gespür für die sozialen Fragen im Land, für die Nöte der Transformationsverlierer und die Sorgen der jungen Leute. Stattdessen beschwor sie im Wahlkampf die Errungenschaften des Fortschritts seit 1989 und wirkte dabei in Verhalten wie Sprache abgehoben. Gerade der nach 1989 geborenen Generation, die große Erwartungen hat, bot sie damit keine ernsthafte Perspektive. Viele junge Leute befinden sich in prekären Arbeitsverhältnissen und haben den Eindruck, die Regierung trage nichts dazu bei, ihre gesellschaftliche und wirtschaftliche Position zu verbessern. Über zwei Millionen junge Polen sind im vergangenen Jahrzehnt emigriert, weil sie im eigenen Land keine Zukunft mehr sahen. Die Verbliebenen votierten jetzt für einen Wechsel.

Nur ist unklar, wohin ein solcher Wechsel führen soll. Duda selbst machte im Wahlkampf viele sozialpolitischen Versprechungen, für deren Durchsetzung er als Präsident aber keine Kompetenzen besitzt. Und sein wichtigstes Versprechen, die Rücknahme der unbeliebten Rentenreform, kassierte er gleich nach der Wahl wieder ein. Offensichtlich wollten viele Wähler vor allem jemand anderen als die Regierenden.

Jarosław Kaczyński hält sich geschickt zurück

Aus dem Wahlausgang lassen sich aber auch andere politische Tendenzen ablesen. So erreichte der ehemalige Rockmusiker Paweł Kukiz als rechtspopulistisch-systemkritischer Einzelbewerber mit mehr als drei Millionen Stimmen (20 Prozent) im ersten Wahlgang aus dem Stand den dritten Platz. In seiner oberschlesischen Heimat, der Wojewodschaft Oppeln, konnte er sogar die meisten Stimmen auf sich vereinen. Dem politischen Newcomer Kukiz gelang es, mit patriotischer Symbolik und dem Slogan „Polen – Du kannst es!“ die Stimmen der unzufriedenen jungen Generation für sich zu gewinnen. Diese Wähler unter 29 Jahren stimmten dann im zweiten Wahlgang mehrheitlich für Duda und gaben damit den Ausschlag für den Wechsel.

Insgesamt rückt das politische Spektrum Polens mit der Präsidentschaftswahl klar nach rechts. Populistische Politik wird von den Wählern belohnt, besonders wenn sie sich gegen die regierenden Eliten richtet. Die nationalkonservative Oppositionspartei PiS geht gestärkt in die Sejm-Wahl und wird im Herbst vermutlich zur stärksten Partei avancieren. Wären die Wahlen bereits heute, würde sie klar den Sieg davontragen.

Der polarisierende Parteivorsitzende von PiS Jarosław Kaczyński war vom Erfolg seines Präsidentschaftskandidaten selbst überrascht, hat sich aber im Wahlkampf und danach zurückgehalten. Offensichtlich ist seiner Partei klar, dass Kaczyński zwar die PiS-Stammwähler mobilisieren kann, auf junge Leute und Wechselwähler aber abschreckend wirkt. Daher spielte er im Präsidentschaftswahlkampf öffentlich keine Rolle und wurde auch nicht zum Spitzenkandidaten für die Parlamentswahl nominiert. Damit bleibt die Frage der Spitzenkandidatur der PiS offen. Auf diese Weise kann die Partei den Schwung des Sieges bei der Präsidentschaftswahl weiterhin für sich nutzen.

Die Ausstrahlung des Wechsels, den der frische und mit 43 Jahren auch junge Präsident in spe verkörpert, gibt weiteren Auftrieb. Duda hat zwar erklärt, er beabsichtige der Präsident aller Polen zu sein, aber de facto ist er schon jetzt der wichtigste Wahlkämpfer seiner Partei für einen Regierungswechsel im Herbst. Bei seinen öffentlichen Auftritten spart er nicht mit ­Kritik an der amtierenden Regierung; der Wahlkampf hat offen begonnen. Duda hat gezeigt, dass es für einen PiS-Kandidaten möglich ist, mehr als ein Drittel der Stimmen zu holen. Jarosław Kaczyński selbst ist das nie gelungen, da er den meisten ­Polen zu schrill, zu aggressiv und auch zu altbacken vorkommt. Andrzej Duda gewinnt somit auch in seiner eigenen Partei an Macht. An ihm wird der Parteivorsitzende nicht mehr vorbei können.

Ein Regierungswechsel könnte im Herbst auch deshalb erfolgen, weil der PiS neue Koalitionspartner zur Verfügung stehen werden, an denen es ihr in den vergangenen Jahren mangelte. Zum einen gilt es als wahrscheinlich, dass Paweł Kukiz eine rechtspopulistische Partei gründen wird. Bisher ist er vor allem als Ein-Mann-Veranstaltung aufgetreten, doch auch hinter ihm stehen politische Netzwerke, beispielsweise mehrere Direktoren kommunaler Versorgungsunternehmen aus kleinen bis mittleren Städten. Aus ihren Reihen könnten Kandidaten für den Sejm rekrutiert werden. Zudem ließe sich bestimmt auch die junge und internetaffine Protestwählerschaft zumindest bis zum Herbst binden, so dass eine wie auch immer geartete Kukiz-Partei im Parlament vertreten sein könnte.

Darüber hinaus nutzte der Ökonom und ehemalige Bankmanager Ryszard Petru die politische Dynamik nach der Präsidentschaftswahl, um eine neue liberale Vereinigung „Modernes Polen“ zu gründen, die er mit großem finanziellen Einsatz in die Parlamentswahl führen will. Petru ist eng verbunden mit dem liberalen Politiker Leszek Balcerowicz, der Polen Anfang der neunziger Jahre mit radikalen Reformen in die Marktwirtschaft führte. Zum einen könnte Petru die regierende Bürgerplattform schwächen, wenn sich viele Liberale seiner Vereinigung zuwenden, zum anderen wäre eine libertär-konservative Verbindung mit der PiS vorstellbar, sofern sich dort die jungen Kräfte um Duda durchsetzen.

Die polnische Linke liegt am Boden

Für die zersplitterte und schwache polnische Linke hätte die Präsidentschaftswahl eine Chance sein können, langsam ­einen Wiederaufstieg einzuleiten. Leszek Miller, der Vorsitzende der SLD stellte aber im Januar die junge Magdalena Ogórek als Präsidentschaftskandidatin und vermeintliche Hoffnungsträgerin der polnischen Sozial­demokratie vor. Am Ende entschieden sich nur 2,4 Prozent der polnischen Wähler für sie. Ogórek besaß so gut wie keine ­politische Erfahrung. Sie hatte lediglich 2011 ohne Erfolg bei der Parlamentswahl kandidiert, und 2014 moderierte sie eine Nachrichtensendung. Millers fatale Personalentscheidung verhinderte die Stärkung des progressiven Lagers und hat zur weiteren Boulevardisierung der polnischen Politik beigetragen.

Viele außerhalb des engen Führungszirkels des SLD hatten erwartetet, die Partei werde die Präsidentschaftswahl dazu nutzen, ein neues Gesicht ins Rennen zu schicken, um dann von einem guten Ergebnis getragen einen Neuanfang der polnischen Linken einzuleiten. Der Intellektuelle Sławomir Sierakowski befürwortete in der größten polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza die Kandidatur der Twój-Ruch-Politikerin Barbara Nowacka oder des ehemaligen Sejm-Abgeordneten und jetzigen Bürgermeisters von Słupsk, Robert Biedro ´ n. Beide gelten als Hoffnungsträger einer modernen, vom Postkommunismus befreiten Linken in Polen. Die Nominierung von Ogórek enttäuschte diese Erwartungen, weil mit ihr die Aufstellung einer charismatischen und starken Persönlichkeit verhindert wurde.

Damit hat der SLD zugleich einen Neuanfang auf der linken Seite des politischen Spektrums verbaut. Denn statt gemeinsam anzutreten, stellten alle linksorientierten Parteien eigene Kandidatinnen. Selbst innerhalb des SLD stieß die Entscheidung für Magdalena Ogórek auf wenig Verständnis. Ein halbher­ziger, inhaltlich beliebiger Wahlkampf und eine vernichtende Wahlniederlage waren die Quittung. Mit einer demoralisierten Partei ist ein gutes Wahlergebnis bei der Parlamentswahl nun in weite Ferne gerückt. Der einst starke SLD wird bei bestenfalls 8 Prozent stagnieren oder gar noch tiefer sinken.

Droht jetzt ein Sejm ohne progressive Fraktion?

Aber vielleicht ist genau dieser Weg notwendig, um einen wirklichen Neuanfang für ein progressives Polen zu schaffen. Die jungen Politiker des SLD, die nicht mehr mit dem untergegangenen System der Volksrepublik in Verbindung stehen, sowie die unabhängige neue, auf gesellschaftspolitische Modernisierung setzende Linke stehen vor der Aufgabe, eine gemeinsame sozialdemokratische Plattform zu schaffen. Dabei ruht die Hoffnung auf den progressiven jungen Kommunalpolitikern, die es in beiden politischen Formationen durchaus gibt. Sie müssten den gemeinsamen Aufbruch wagen. Doch ihr Weg wird lang und steinig. Vorerst könnte es sein, dass sich der neue Sejm im Herbst ganz ohne eine progressive Kraft konstituieren wird.«

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