Europa misstraut der deutschen Kanzlerin

Zu Amartya Sen, Was aus Europa geworden ist, Berliner Republik 5/2012

Amartya Sen hat eine sehr lesens- und beherzigenswerte Analyse der gegenwärtigen Lage der Europäischen Union geschrieben. Beherzigenswert ist vor allem seine Mahnung, dass zur Demokratie die öffentliche Debatte über umstrittene Fragen gehört – und dass dagegen in den vergangenen Jahren in der Europäischen Union besonders heftig verstoßen wurde. Auch der damit einhergehende Legitimationsmangel gehört zu den gravierenden Problemen, die die EU-Politik der letzten Jahre begleitet haben.

 

Sens Analyse wird in Europa freilich dort auf Kritik stoßen, wo man die bisherige Wirtschaftspolitik unterstützt, so wie sie vor allem von der deutschen Bundesregierung propagiert und auch für die EU weitgehend durchgesetzt worden ist. In dieser Deutung handelt es sich bei der gegenwärtigen Krise in Europa um eine Staatsschuldenkrise, die mit einer strikten Sparpolitik bei Renten und Sozialausgaben überwunden werden soll – Stichwort „austerity“ – sowie damit einhergehenden „Reformen“, die auf die Deregulierung von Arbeitssicherungen, Kündigungsschutz et cetera zielen. An Sens diesbezüglichen Erläuterungen habe ich allerdings nichts auszusetzen. Im Gegenteil – sie erscheinen mir mehr als dringend geboten, und ich wünschte mir, sie würden auch in der deutschen Öffentlichkeit wirksamer diskutiert.

 

Zu zwei Punkten möchte ich aber eine abweichende Einschätzung vortragen: Dass bei dem Beschluss der Einführung der gemeinsamen Währung nicht gleichzeitig eine politische Union zur Legitimation und Koordination der Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltspolitik eingeführt worden ist, war vermutlich von heute aus gesehen ein Mangel, allerdings kein zufälliger. Denn die Wahl bestand damals nicht zwischen einer solchen vorbildlichen Lösung und der dann getroffenen, sondern zwischen dem Verzicht auf die Einführung der gemeinsamen Währung und der mit Mängeln behafteten Lösung, die eben noch keine wirksame europäische Koordination der Politiken herbeiführte. Die Mängel waren allen klar, und man hoffte, sie durch eine faktische Angleichung der Politiken hinsichtlich der Haushaltsverschuldung überwinden zu können. Überdies gab es Überlegungen, dass sich die Staaten über den gestrichenen Spielraum in Sachen Auf- beziehungsweise Abwertung ihrer nationalen Währungen im Klaren sein müssten und sie deshalb freiwillig Haushaltsdisziplin einhalten würden. Schließlich hoffte man darauf, dass die Währungsunion, die für alle Teilnehmer von Vorteil sein würde, langsam auch eine politische Einigung nach sich ziehen könnte. Im Grunde hatte die europäische Integration ihre Dynamik ja immer durch unvollkommene Einigungsschritte entwickelt.

 

Überdies weiß man auch nicht, ob es zu den dramatischen Entwicklungen der Refinanzierungsschwierigkeiten vor allem der südeuropäischen Staaten und Irlands in den vergangenen Jahren ohne die Bankenkrise überhaupt gekommen wäre. Außerdem hat es die forcierte Deregulierungspolitik in den neunziger Jahren und die Fixierung auf den „Standortwettbewerb“ zwischen den europäischen Staaten besonders schwer gemacht, zu einer politischen Koordination zu kommen. Zum Beispiel hätte Deutschland dann weniger Lohnverzicht üben dürfen (ebenso wie die südeuropäischen Staaten ihre zu hohen Lohnsteigerungen hätten unterlassen müssen), was nach der gegenwärtigen herrschenden Meinung in der Wirtschaftspolitik zu den aktuellen deutschen komparativen Vorteilen geführt hat. Wobei man dagegen gut argumentieren kann, dass zu Deutschlands günstiger aktueller Wirtschaftslage nicht die niedrigen Löhne geführt haben (die es in der Exportwirtschaft ja gerade nicht gibt), sondern vielmehr die traditionell eher kooperativen und vertrauensvollen Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit (Mitbestimmung et cetera).

 

In einem zweiten Punkt teile ich die Meinung von Amartya Sen ebenfalls nicht: Dass die europäischen Völker in der Folge der Krise und der falschen Wirtschaftspolitik gegeneinander geraten seien. Ich glaube vielmehr, dass Deutschland sich leider in eine Sonderrolle manövriert hat, indem die deutsche Regierung ihre wirtschaftspolitische Position mit Macht durchgesetzt hat – mit bisher positiven ökonomischen Folgen für die Deutschen (die aus der schwierigen Lage ihrer Nachbarn finanzielle Vorteile ziehen) und zum Teil verheerenden Konsequenzen für die Staaten mit Refinanzierungsschwierigkeiten. Das ist schlimm genug, aber das Misstrauen der Nachbarn gilt bisher (noch) nicht „den Deutschen“, sondern der deutschen Bundeskanzlerin. Insofern hat die europäische Einigung vor allem in der Zivilgesellschaft doch erstaunlich gute Wirkungen gezeigt.

 

Allerdings haben Untersuchungen ergeben, dass sich die öffentlichen Debatten in Deutschland erheblich von denjenigen in den übrigen europäischen Ländern unterscheiden. Besonders die Skepsis der deutschen Regierung gegenüber der europäischen Solidarität und das dauernde stichelnde Infragestellen der Verantwortungsbereitschaft der Nachbarn, verstärken den Mangel an Solidarität in der deutschen Gesellschaft. Die Regierung Merkel meint, auf diesen Mangel an Solidarität wahltaktisch Rücksicht nehmen zu müssen, bekräftigt ihn mit ihrer Haltung aber zugleich.

 

Auf längere Sicht kann es daher durchaus gefährlich werden. Und gerade in Deutschland haben wir allen Grund, die Krise ehrlicher zu analysieren als bisher, unsere Verantwortung an ihr anzuerkennen und möglichst schnell aus der Situation des Lehrmeisters und Besserwissers, der noch dazu bisher von der Krise profitiert hat, herauszukommen – zugunsten von mehr Solidarität mit den Nachbarn. Dazu ist Amartya Sens Analyse sehr hilfreich.

zurück zur Ausgabe