Europa findet unten statt

Ob Bürger die Politik der Europäischen Union akzeptieren, hängt angesichts der tiefen Wirtschaftskrise nicht zuletzt von zwei Faktoren ab: Es bedarf wirksamer ökonomischer Impulse, und zugleich müssen die Menschen erkennen können, dass ihre Lebenswelt in Entscheidungen einbezogen wird

Die Globalisierung verändert unsere wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Beziehungen grundlegend. Das stellt nicht nur die Menschen in ihrem Alltag vor enorme Herausforderungen, sondern vor allem auch die nationale Politik: Der Nationalstaat als klassische Organisationsform des Politischen verliert an Bedeutung.

Denationalisierungsprozesse sind zwar auf europäischer Ebene durchaus gewünscht, verlaufen aber nicht ohne Konflikte: Die Globalisierung des Arbeitsmarktes verschärft den Wettbewerb um Arbeitsplätze und erschwert die soziale Sicherung. Gleichzeitig nimmt die Armutsmigration zu. Die Diskussion um das Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten verdeutlicht erneut den transnationalen Charakter des Wettbewerbs und die Schwierigkeit nationaler Handelsbegrenzungen.

Zu wenig kommunale Handlungsspielräume

Tatsächlich obliegen immer mehr Handlungsfelder der Entscheidungshoheit der Europäischen Union. Diese hat durch den Lissaboner Vertrag und die jüngste Europawahl, die das Europäische Parlament ebenso wie das europäische Wahlvolk gestärkt hat, zusätzlich an Bedeutung gewonnen. Die Entscheidungsprozesse sind jedoch immer noch schwerfällig und langwierig.

Problematisch angesichts der hohen (Jugend-)Arbeitslosigkeit in Europa sind vor allem die Maastricht-Kriterien, die den Mitgliedsstaaten wie auch ihren jeweiligen Kommunen nur begrenzte Handlungsspielräume lassen. Dies hindert nationale und kommunale Akteure daran, notwendige Wachstumsimpulse zu setzen. Auch deshalb befindet sich Europa in einer tiefen Wirtschaftskrise. Zugleich stehen wir im weltweiten Wettbewerb mit anderen Regionen. Die Maastricht-Kriterien stellen daher nicht nur die südeuropäischen Länder vor Herausforderungen, sondern auch die Staaten mit einem ausgeglichenen Haushalt, die bei einer Jobgarantie für Jugendliche sofort gegen die Kriterien verstoßen würden. Wenig verwunderlich ist daher, dass die Jugendgarantie bislang nur schleppend umgesetzt wurde. Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles erst kürzlich erklärt hat, dass die im Rahmen der Garantie in Anspruch genommen Mittel nicht auf den Schuldenstand der Mitgliedsstaaten angerechnet werden sollen. Nur so können wir Wirtschaftsimpulse für mehr Wachstum setzen, Standorte stärken und Arbeitsplätze schaffen.

Die Energiewende und der Ausbau der europäischen Verkehrs-, Digital- und Energieinfrastruktur könnten auch die notwendigen Wachstumsimpulse liefern, die Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in seinem 300 Milliarden schweren Investitionsprogramm definiert hat. Das europäische Programm „Transeuropäische Netze“, in dessen Rahmen der Binnenmarkt besser vernetzt und die Verkehrssysteme vereinheitlicht werden sollen, ist bestens geeignet, um einen Transformationsprozess einzuleiten, der die EU auch in den nächsten 30 Jahren als Kraft der globalen Innovation sichert. Jedoch bedarf es zur Verwirklichung dieses europäischen Projekts einer gezielten Strategie und des Konsenses der 28 Mitgliedsstaaten: eine Herkulesaufgabe, zu der aus unterschiedlichen Gründen jedoch die Bereitschaft besteht.

Im Verkehrsbereich wurden bereits neue Korridore geschaffen, die einen intermodalen Verkehr und die bessere Anbindung von Städten, Häfen und Regionen zum Ziel haben. Im vergangenen Jahr erst wurden die „Transeuropäischen Netze“ mit der EU-Verordnung über die „Connecting Europe Facility“ weiterentwickelt, die in den Bereichen Verkehr, Stromtrassen oder Breitband die Netzstrukturen über singuläre Einzelprojekte stellt. Die Mittel für die Verkehrsnetze wurden von knapp 8 Milliarden Euro (2007 bis 2013) auf rund 26 Milliarden Euro (2014 bis 2020) aufgestockt. Im Bereich Transeuropäische Netze Energie und Digitale Strukturen sieht es ähnlich aus.

Allerdings bestehen auch hier Umsetzungsprobleme – besonders auf der kommunalen Ebene, wo der Widerspruch zwischen politischer Herausforderung und tatsächlichen Einflussmöglichkeiten besonders groß ist. An der untersten, aber zugleich direktesten Schnittstelle zwischen Bürger und Staat sind die Erwartungen der Bürger an lokale Problemlösungen hoch. Dennoch kann kaum ein Projekt – angefangen von Bahnverbindungen und Straßenprojekten bis hin zu Stromtrassen – auf kommunaler Ebene positiv oder negativ beeinflusst, geschweige denn entschieden werden.

Ein Fallbeispiel: Anfang November 2014 versammelten sich über 1 000 Demonstranten in idyllischen 700-Einwohner-Dorf im Rheinland, um gegen den geplanten Bau eines Stromkonverters zu protestieren. Es handelt sich um ein zweifellos notwendiges Bauvorhaben im Zuge der Energiewende. Vorausgegangen waren diesem Protest zwei Jahre einer völlig unkoordiniert verlaufenden Diskussion über Sinn und Unsinn von Stromtrassen, Hochspannungsgleichstromübertragung und eben diesen Stromkonverter, der Wechselstrom in Gleichstrom (und umgekehrt) umwandeln soll. Ein Projekt gigantischen Ausmaßes: Der mehr als 20 Meter hohe Stromkonverter wird rund 100 000 Quadratmeter Fläche, also fast 20 Fußballfelder, in Anspruch nehmen. Hinzu kommen unzählige Hochspannungsmasten, die die 380 000 Volt von den Windkraftanlagen im Norden der Republik in den Süden bringen sollen, wo nach 2020 die bestehenden Kernkraftwerke abgeschaltet werden. Die Standortsuche vorab war ein kommunikatives Desaster, aber auch eine Herausforderung für die lokale Politik, die weder an der Entscheidung beteiligt war, noch einen Einfluss darauf hatte.

Endlich Gestaltungsoptionen vor Ort

Kein Zweifel, die Energiewende ist nicht nur aus umweltpolitischen Gründen erforderlich. Doch weil dieses Erfordernis noch nicht angemessen kommuniziert wurde, sind die Reaktionen der Bevölkerung durchaus nachvollziehbar. Sie zeigen das kommunikative Dilemma der nationalstaatlichen (und erst recht der kommunalen) Politik auf: einerseits fehlende Handlungsmöglichkeiten mangels nationalstaatlicher Kompetenzen, andererseits Verständnislosigkeit seitens der Bevölkerung. So verspielt die nationale Politik den verbliebenen Rest ihres Vertrauens. Dabei bieten gerade die Energiewende und die europäischen Netze große Chancen für neue Impulse.

Die Notwendigkeit einer professionellen Öffentlichkeitsarbeit wird in Wirtschaft und Politik immer deutlicher. Doch während sich die Kommunalpolitik redlich bemüht, Entwicklungen nicht zu verschlafen – was sich aufgrund begrenzter Ressourcen der meisten Feierabendpolitiker oft als schwierig erweist –, fehlt national oder gar global handelnden Unternehmen in vielen Fällen der kommunikative Zugang zur Entscheidungsebene „vor Ort“.

Die große europäische Vision der „Connecting Europe Facility“ muss also von beiden Seiten begleitet werden. Das Werben für sinnvolle Planungen, funktionierende Finanzierungsstrukturen und langfristig einheitliche Lebensbedingungen sowie Entwicklungschancen in Europa darf nicht durch nationalen Egoismus oder Prinzipienreiterei behindert werden. Aus Sicht der Kommunen müssen endlich Gestaltungsoptionen vor Ort geschaffen werden. Es bedarf zudem einer angemessen finanziellen Ausstattung dieser untersten Ebene, die dem Bürger zugleich am nächsten ist. Nur dann können Städte und Gemeinden den wachsenden He­rausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht werden.

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