Europa braucht ein neues Deutschland

Warum es für Europas Zukunft so wichtig ist, dass in Deutschland möglichst bald pro-europäisch ausgerichtete Sozialdemokraten und Grüne regieren

Mit welchen politischen Herausforderungen hat es die Sozialdemokratie beim Aufbau eines „neuen europäischen Kapitalismusmodells“ zu tun? Triebfeder dieses neuen Modells bleibt robustes Wirtschaftswachstum – aber dieses Wachstum ist sozial gerechter organisiert als in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Es kommt allen Regionen zugute, führt zu weniger Ungleichheit, schafft mehr und qualitativ bessere Arbeitsplätze, ist ökologisch nachhaltiger. Und es geht dabei eher um eine bessere Lebensqualität der Bürger und weniger um die bloße Steigerung des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Das mag ein bisschen viel verlangt sein. Möglicherweise müssen auf dem Weg dahin Widersprüche aufgelöst und Kompromisse geschlossen werden. Aber ohne Ehrgeiz wäre die Sozialdemokratie nicht viel wert.

Vieles davon lässt sich nur erreichen, indem unsere nationalen Parteien nationale Wahlen gewinnen und dann wirtschaftliche und soziale Reformen durchsetzen, die den jeweiligen nationalen Besonderheiten Rechnung zu tragen. Mein Argument lautet aber: Sozialdemokratische Regierungen können in der hochgradig interdependenten europäischen Wirtschaft nur unter der notwendigen Bedingung erfolgreich sein, dass sie eine gemeinsame Vision teilen, für deren Verwirklichung spezifische Maßnahmen auf der Ebene der EU eine entscheidende Rolle spielen. Beim Aufbau dieses neuen Kapitalismusmodells geht es also auch darum, die politische Stagnation und die Legitimitätskrise in der EU zu überwinden.

Momentan besteht die Strategie der Parteien der rechten Mitte darin, einfach auf das Beste zu hoffen. Und tatsächlich mag die unerwartete exportgetriebene wirtschaftliche Erholung Deutschlands die Spannungen innerhalb der Eurozone einstweilen lindern. Dennoch sind die globalen Aussichten ungewiss. Wichtige Volkswirtschaften drohen in Double-Dip-Rezessionen zu stürzen, und das derzeitige glückliche Zusammenspiel von wachsender asiatischer Nachfrage und einem geschwächten Euro kann nicht ewig andauern. Mittelfristig steht Europa schlecht da. Die südlichen EU-Länder (und Irland) sind in einem lang währenden, dreifachen Schraubstock der Austerität gefangen. Sie haben keine Alternative, als ihre Haushaltsdefizite nachhaltig zurückzufahren – ungeachtet der negativen Folgen für ihr Wachstum. An erster Stelle muss es ihnen darum gehen, die Sorgen der Märkte um die Zahlungsfähigkeit des Schuldners zu zerstreuen. Und der Schmerz gradueller Deflation, um die Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der Euro-Zone wiederherzustellen (mittels Einschnitten bei Löhnen und Sozialleistungen), könnte über Jahre anhalten. Es drohte ein Jahrzehnt der hohen Arbeitslosigkeit und der sozialen Spannungen.

Auch für die gesamte Union hat die Bankenkrise des Jahres 2008 ernsthafte und langfristige Konsequenzen. Sie hat neue Hindernisse für unseren Wachstumspfad geschaffen. Die geringere Risikobereitschaft der Privatbanken bedeutet weniger Mittel für neu gegründete Unternehmen oder riskante Großprojekte. Parallel wird die notwendige Konsolidierung der öffentlichen Haushalte sozialpolitischen Ambitionen Grenzen setzen und – was für Sozialdemokraten in der Opposition durchaus unbequem sein wird – sie könnte zu höheren Steuern führen, als für Wachstum und Beschäftigung optimal wären. Dieses politische Umfeld stimmt nicht gerade optimistisch. Vor allem auch der überfällige Abbau der öffentlichen Verschuldung wirft lange Schatten voraus, zumal Europa in diesem Jahrzehnt mit den finanziellen Folgen seiner alternden Gesellschaften zurechtkommen muss.

Bisher hat die EU die Krise gerade eben so gemeistert. Die Bankenrettungsaktionen der Mitgliedsstaaten und die koordinierten Konjunkturimpulse im Jahr 2008, das Rettungspaket für Griechenland 2010, die Vorschläge der Kommission für eine Stärkung der Finanzregulierung auf europäischer Ebene, die Vorschläge der Euro-Gruppe in Bezug auf eine bessere wirtschaftliche Steuerung – alle diese Reaktionen stellen aus Sicht von EU-Institutionalisten eine wesentliche Vertiefung der wirtschaftlichen Integration dar. In gewisser Weise stimmt das, denn am Ende könnten tatsächlich schärfere europäische Regeln dabei herauskommen, was die Regulierung der Finanzmärkte, die Haushaltsdisziplin, das Krisenmanagement und vielleicht sogar Umschuldungen angeht. Dennoch sieht es so aus, als hätten die Mitgliedsstaaten erst gehandelt, als das Kind schon in den Brunnen gefallen war: Dies war nicht die zukunftsorientierte Politik, die Europa zur Kräftigung seiner Wirtschaft braucht.

Im scharfen Gegensatz dazu stand die europäische Politik Mitte der achtziger Jahre, als unter Führung von Jacques Delors der Binnenmarkt geschaffen wurde, um der „Eurosklerose“ ein Ende zu bereiten. Dieses kühne europäische Projekt regte die Fantasien der Linken wie der Rechten gleichermaßen an. Obwohl es auf die Liberalisierung der Wirtschaft zielte, glaubten Sozialdemokraten (und die Gewerkschaften), die arbeitende Bevölkerung würde von neuen Arbeitsplätzen profitieren und von den neuen Möglichkeiten, soziale Errungenschaften auf europäischer Ebene abzusichern.

Kann es die heutige Sozialdemokratie besser? Können wir uns etwas Ehrgeiziges vorstellen, das wir der Trägheit der Mitte-Rechts-Parteien entgegensetzen können und das genug öffentliche Unterstützung erhält, um die wachsende Zahl der europäischen Anti-EU-Populisten auszubremsen? Wie können Sozialdemokraten die Menschen davon überzeugen, dass wir dringend eine ambitionierte europäische Politik benötigen?

Ja doch, Europa hat gemeinsame Interessen

Für viele Linke ist die Forderung nach einer stärkeren EU eine Selbstverständlichkeit, schließlich haben die Kräfte der Globalisierung die nationalen Sozialdemokratien geschwächt. Aber auf die Öffentlichkeit wirkt sie wie eine theoretische Abstraktion. Ein erfolgreiches europäisches sozialdemokratisches Programm muss wieder einen Sinn für die ausgeprägten gemeinsamen Interessen der Mitgliedsstaaten zu schaffen. Hochtrabende Appelle an die europäische Solidarität mögen auf Versammlungen linker Europäer gut ankommen, machen aber auf die heutige Allgemeinheit nur wenig Eindruck. Pragmatische europäische Sozialdemokraten dürfen sich nicht an der Haltung deutscher Arbeiter stoßen, deren Lebensstandard gedrückt wurde, um die wirtschaftliche Erholung Deutschlands in Gang zu bringen. Sie denken gar nicht daran, mit ihrem schwer verdienten Steuergeld andere Europäer zu subventionieren, die sie als verwöhnte oder nutzlose Schmarotzer ansehen. Da hilft es auch nichts, den populistischen Medien die Schuld für die Engstirnigkeit von normalen Menschen in die Schuhe zu schieben.

In einem ersten Schritt müssen Sozialdemokraten glaubwürdige Verfechter eines stärker wachstumsorientierten makroökonomischen europäischen Rahmens werden. Wir können unsere Wähler davon überzeugen, dass es zwangsläufig ein „gemeinschaftliches Anliegen“ ist, Wachstum zu schaffen – eben weil die wirtschaftlichen Interdependenzen heute weit größer sind als noch vor drei Jahrzehnten. Sozialdemokraten müssen jetzt damit anfangen, dies laut und deutlich zu sagen. Vor allem die Deutschen müssen von wachstumsorientierten Reformen überzeugt werden. Hohe Haushaltsdefizite sind vorübergehend vertretbar, um im keynesiansischen Sinne Rezessionen zu vermeiden. Aber sollten Sozialdemokraten jemals behaupten, dauerhafte staatliche Verschuldung sei „kein Problem“, so wäre dies ein Ausdruck ökonomischer Inkompetenz – und ein Rezept für politische Impotenz. Die Deutschen werden härtere, verbindliche Regeln für unerträglich hohe Defizite sehen wollen. Zugleich aber müssen sie neue Verpflichtungen für Mitgliedsstaaten mit hohen Überschüssen in der Leistungsbilanz akzeptieren, die Binnennachfrage anzukurbeln. Aus technokratischer Sicht heißt das: Neben der Staatsverschuldung muss der Vergleich nationaler Wettbewerbsfähigkeit ein europäisches Thema werden. Aus politischer Sicht bedeutet es einen großen Schritt, nämlich die Europäisierung der Diskussion über Löhne und Gehälter.

Der Hauptgrund für die Schwierigkeiten der südlichen Mitgliedsstaaten des Euro-Raums besteht nicht darin, dass sie nicht abwerten können. Vielmehr sind die Löhne und Gehälter der Produktivität davongelaufen. In Deutschland dagegen hat der Anteil der Unternehmensgewinne am Nationaleinkommen zugenommen, und der Anteil der Löhne ist zurückgegangen. Zudem machen Teile der EU-15 unfairen Lohnwettbewerb dafür verantwortlich, dass die Gehälter am unteren Ende der Einkommensskala gedrückt werden – als Folge der Kapitalmobilität innerhalb des erweiterten Binnenmarkts und der wirtschaftlichen Migration aus den ärmeren Mitgliedsstaaten. Wollen Sozialdemokraten eine gemeinsame Agenda entwickeln, dann müssen Mindestlöhne und neue Formen der Gewinnbeteiligung dazugehören.

Sozialdemokratie und grünes Wachstum

Die Lohnkonkurrenz aus Mittel- und Osteuropa ist eine unvermeidliche und legitime Triebfeder des Aufholwachstums. Allerdings muss sie so gehandhabt werde, dass beide Seiten – Ost und West – sie akzeptieren können. Und die Ökonomen haben Recht: Auch die Arbeitsmigration ist ein zentrales Instrument des Anpassungsprozesses. Die Menschen werden die Zuwanderung aber nur akzeptieren, wenn wir eine neue Balance aus Maßnahmen finden, die sowohl die sozialen Rechte der EU-Migranten erweitern als auch Ängste vor „Sozialdumping“ zerstreuen. Eine politische Gegenreaktion gegen die jüngsten Urteile des Europäischen Gerichtshofes könnte durch eine Überarbeitung der Entsenderichtlinie erreicht werden. Dies sollte Bestandteil eines ausgewogenen Maßnahmenpaketes sein – ebenso wie die Verpflichtung, trotz Haushaltszwängen Zahlungen aus den Strukturfonds an wirtschaftlich schwache Regionen aufrecht zu erhalten. Damit die Bürger der „Nettozahler“ damit einverstanden sind, müssen die Gelder an härtere Bedingungen in Bezug auf gutes Regieren geknüpft werden.  

Darüber hinaus muss die Sozialdemokratie neue Antriebskräfte für nachhaltiges „grünes“ Wachstum identifizieren und fördern. Europa könnte zum globalen Musterbeispiel für den Übergang in eine kohlenstoffarme Gesellschaft und grünes Wachstum werden. Das wäre eine soziale Herausforderung und zugleich eine enorme ökonomische Chance. Die Herausforderung liegt darin, die Entkarbonisierung der europäischen Schwerindustrien zu organisieren. Dafür sind der Schumann-Plan und die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl in den fünfziger Jahren beispielgebend. Die Chance betrifft die Investitionen, die eine Modernisierung und Umgestaltung der europäischen Energie- und Verkehrsinfrastruktur generieren werden. Dafür ist es notwendig, die richtigen wirtschaftlichen, regulatorischen und finanziellen Rahmenbedingungen zu schaffen. Aus der Europäischen Investitionsbank sollte eine EU-weite „kohlenstoffarme Investitionsbank“ entstehen, die steuerlich unterstützte Eurobonds für kohlenstoffarme Infrastrukturprojekte verkauft.

Die zweite  Wachstumschance besteht darin, eine neue Welle privatwirtschaftlich angeführter, kommerzieller Innovationen auf dem Gebiet der Hochtechnologien zu stimulieren. In seinen starken Industriesektoren ist Deutschland hoch erfolgreich. Aber ein zu großer Teil der europäischen Wirtschaft hängt noch immer an einem Wettbewerbsansatz, der auf niedrigen Löhnen und Qualifikationen basiert. Angesichts der starken asiatischen Konkurrenz ist das eine aussichtlose Strategie. Ganz Europa muss eine Preisklasse nach oben rücken – genau deshalb benötigen wir öffentliche Investitionen in Forschung, moderne Fertigkeiten und in eine digitale Infrastruktur. Das amerikanische Kapitalismusmodell hat für seine Selbstgefälligkeit die Quittung bekommen – aber bei den Wissensinvestitionen in Forschung, höhere Bildung und Informationstechnik ist es der EU immer noch weit voraus.

Nur wenn wir den Spieß umdrehen, kann den Industriegesellschaften, die Millionen von traditionellen Arbeitsplätzen verloren haben, gezeigt werden, dass das Europäische Sozialmodell in einer globalisierten Wirtschaft überleben und gedeihen kann. Neue Initiativen auf europäischer Ebene können dabei helfen: eine Reform des EU-Haushaltes, indem verschwenderische Agrarausgaben für reiche Landwirte hin zu europäischen Forschungs- und Stipendienprogrammen umgeschichtet werden; für jedes Mitgliedsland an die jeweilige ökonomische Entwicklung angepasste „Wissensinvestitionsziele“; sowie neue Defizitregeln, die bei der Bewertung der Nachhaltigkeit von Staatsfinanzen die „Sozialinvestitionen“ berücksichtigen.  

In jedem Fall müssen Sozialdemokraten erkennen, dass eine Neubelebung des Binnenmarktes die wichtigste Voraussetzung für eine neue Innovationswelle ist. Es könnte viel mehr getan werden, um neue Chancen für dynamisch wachsende Unternehmen zu eröffnen, besonders im Dienstleistungssektor, ohne gleich einem dogmatischen Neoliberalismus zu verfallen. Aber die politische Unterstützung für einen dynamischen Binnenmarkt wächst nur dann wieder, wenn die Früchte des Wachstums fair verteilt werden. Die Gehälter am oberen Ende der Einkommensskala müssen transparent und nachvollziehbar sein; der neue europäische Kapitalismus sollte sich eine Wirtschaftsethik der Langfristigkeit anstelle des kurzfristigen Denkens zu eigen machen; und Sozialpartnerschaft und die Verantwortung gegenüber den Stakeholdern sollten vor dem Shareholder Value gehen. Um das zu untermauern, müssen Corporate-Governance-Gesetze gestärkt werden. Reformen, die auf diesen Grundsätzen beruhen, würden einen unterstützenden sozioökonomischen Kontext für eine tiefere wirtschaftliche Integration schaffen. Ein neu belebter Binnenmarkt würde Produktivität und Innovationen steigern, von denen der künftige Wohlstand Europas abhängt.

Sozialdemokraten können wirtschaftliche Sicherheit nicht durch eine Rückkehr in die Vergangenheit erreichen. Ein entschlossener Kraftakt für erneuertes Wachstum durch Innovationen und den Übergang in eine kohlenstoffarme Gesellschaft würde einen enormen Strukturwandel der europäischen Wirtschaft mit sich bringen. Unsere Arbeitsmärkte müssten die Anpassungsprozesse effektiver unterstützen, als sie es heute tun. Unsere Wohlfahrtsstaaten müssten modernisiert – und nicht zurückgefahren – werden, um die aktuellen Herausforderungen wie zunehmende Ungleichheit, Benachteiligung aufgrund sozialer Herkunft, die rasch alternde Bevölkerung oder anhaltende Migration bewältigen zu können. Die wichtigsten Impulse für diese Reformen müssten aus den Mitgliedsstaaten selbst kommen. Jedoch hängt der Sozialstaat überall in Europa von einem ausreichenden Steueraufkommen ab, und um dieses abzusichern, sollten Sozialdemokraten eine neue Initiative für die fiskalische Koordinierung in der EU unterstützen. Nachdem die Steuereinnahmen im Gefolge der globalen Krise gelitten haben, müssen die Mitgliedsstaaten einen ruinösen Steuerwettbewerb verhindern. Ohne gemeinsame fiskalische Koordinierung zeichnet sich ein race to the bottom vor allem auch bei den Unternehmenssteuern ab.

Außerdem gibt es erhebliche Potenziale für neue EU-weite Steuern, die Mitgliedsstaaten nicht wirksam auf eigene Faust erheben können, ohne sich im Wettbewerb zu schaden – beispielsweise Steuern auf Finanztransaktionen und Kohlendioxid-Emissionen. Zwar sollte ein Großteil dieser Steuereinnahmen an die Mitgliedsstaaten zurückfließen (um Steuern und Sozialabgaben der Niedrigverdiener zu senken und damit neue Arbeitsplätze zu schaffen). Aber ein reformierter und vielleicht leicht vergrößerter EU-Haushalt könnte dabei helfen, die Idee eines sozialen Europa wiederzubeleben. Sozialdemokraten sollten für ein neues soziales Programm auf europäischer Ebene plädieren, das die Bekämpfung von Benachteiligungen im Lebensverlauf zum Ziel hat; dieses Programm sollte mithilfe von gemeinsamen Zielen, wechselseitigem Lernen und konditionierten Zahlungen aus dem Europäischen Sozialfonds funktionieren. Solche gemeinsamen soziale Ziele könnten sein: die frühe Unterstützung benachteiligter Kinder; bessere Kinderbetreuung, damit beide Eltern arbeiten können; gemeinsame Standards im Hinblick auf Rechnen und Lesen und die Senkung der Schulabbrecherquote; neue Rechtsansprüche auf Weiterbildung; und eine bessere Unterstützung der beruflichen Übergänge. Ein solcher europäischer Rahmen würde den Mitgliedsstaaten keine konkrete Sozialpolitik vorschreiben, aber Anreize für progressive nationale Reformen schaffen.

Wir brauchen neue pro-europäische Koalitionen

Das sind große Ideen, die die Fantasie der Öffentlichkeit anregen und das Vertrauen in Europas Fähigkeit stärken können, seine wirklichen Probleme anzugehen. Ist die europäische Sozialdemokratie in der Lage, sich diese Ideen zueigen zu machen – in Abgrenzung zur Trägheit der Parteien der Rechten Mitte? Diese befinden sich zunehmend in Gefangenschaft der Rechtspopulisten, die der EU zutiefst feindlich gegenüberstehen wie zum Beispiel die furchtbare „Partei für die Freiheit“ von Geert Wilders in den Niederlanden oder die Lega Nord in Italien. Im Vereinigten Königreich herrscht in den Reihen der regierenden Tories tiefe Europaskepsis. Nur der Pragmatismus von Premierminister David Cameron (und von Außenminister William Hague) und die Zwänge der Koalition mit den pro-europäischen Liberaldemokraten halten den Deckel auf dem Topf. Darunter brodelt blanker Anti-Europäismus. Dementgegen müssen Sozialdemokraten eine neue pro-europäische Koalition bilden. Damit sie erfolgreich sein kann, sollten die Grünen und – wenn möglich – auch die weniger dogmatischen linken Anti-Globalisierer mit an Bord geholt werden. Außerdem gilt es, Brücken zum Sozialkatholizismus und zu den verantwortungsbewussten und nachdenklicheren Teilen der Wirtschaft zu schlagen.

Eine Überraschung in Bezug auf die Visionslosigkeit der Rechten Mitte gibt es: Zuletzt zog es Bundeskanzlerin Angela Merkel vor, sich auf die hinteren Plätze des europäischen Busses zu verziehen, anstatt wie erwartet den Fahrersitz einzunehmen. Merkels Verhalten steht im Gegensatz zu ihren ersten Auftritten auf europäischer Bühne, als man in Brüssel noch glaubte, die EU hätte ihren zweiten Helmut Kohl bekommen. Während der deutschen Ratspräsidentschaft hatte Merkel den Lissaboner Vertrag gerettet und weitreichende Maßnahmen gegen den Klimawandel durchgesetzt. Doch seither scheint sie die emotionale Distanzierung der Deutschen von der EU ganz einfach mitzumachen. Gewiss, Deutschland trägt immer noch einen großen Teil des EU-Haushaltes. Aber was das Land dafür durch den Binnenmarkt und den Euro zurückbekommt, wird häufig nicht gesehen. Bei aller Angst vor dem Bailout Griechenlands – ihren Exportboom verdanken die Deutschen dem Euro. Würde die D-Mark noch existieren, wäre sie in einer unvermeidlichen Periode europäischer Währungsturbulenzen nach der Krise des Jahres 2008 zulasten der deutschen Wettbewerbsfähigkeit stark aufgewertet worden. Das hätte die Kohärenz des Binnenmarktes ernsthaft beschädigt.

Das heutige Deutschland verhält sich so, als hätte es all seine Ziele durch die gegenwärtige Europäische Union bereits erreicht. Die Erweiterung hat zur Festigung von Demokratie und Sicherheit an seinen Ostgrenzen geführt. Der Vertrag von Lissabon gibt der EU die verfassungsrechtliche Struktur, die Deutschland immer wollte. Der Binnenmarkt bietet eine starke Basis für die deutsche Wirtschaft, um im globalen Wettbewerb zu bestehen. Der Euro schafft, wenn er verantwortungsbewusst verwaltet wird, finanzielle Stabilität wie einst die D-Mark. Was sonst könnte die EU für Deutschland wohl noch tun?

Für die Sozialdemokratie ist dies eine Kernfrage. Es kann kein glaubwürdiges sozialdemokratisches europäisches Projekt ohne deutsche Führung und deutsches Engagement geben. Die britische Labour Party – nicht im Euro-Raum angesiedelt, daheim nicht an der Macht und ohne neue europapolitische Ideen – ist in der EU derzeit marginalisiert. Die französische Linke mag überzeugender über Europa reden und Verbündete in einigen südlichen Parteien gewinnen können. Doch gerade die jüngste Krise des Euros zeigt es erneut: Die hegemoniale Macht in der EU, ohne die sich nicht viel ändern kann, ist nolens volens nun einmal Deutschland. Nur Deutschland kann mit den neuen Mitgliedsländern eine Einigung erzielen, die die EU ökonomisch und sozial voranbringt. Kurzum, das Schicksal der europäischen Sozialdemokratie und der EU selbst liegt in deutscher Hand.

Angesichts der düsteren Konjunktur glauben einige Linke fatalistisch, dies sei nicht die Zeit für die Sozialdemokratie. Ein ehemaliger Vorsitzender einer sozialdemokratischen Partei auf dem Kontinent sagte neulich zu mir: „Sozialdemokraten sind nicht sehr gut im Kürzen von Haushaltsplänen – vielleicht ist es gut, dass die Rechte in der Verantwortung ist.“ Das aber bedeutet nicht, dass die Wähler voller Begeisterung für die rechten Parteien sind, wie die französischen Regionalwahlen oder die Wahlen in Nordrhein-Westfalen zeigen. Die Politik ist offen und im Fluss. Vielleicht gewinnen Sozialdemokraten – entgegen ihren eigenen Erwartungen – bald schon wieder Wahlen. Sie sollten dann wissen, was sie zu tun haben. «

Aus dem Englischen von Michael Miebach

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