Die Zukunft der Fairness

Verteilungsfragen sind Gerechtigkeitsfragen. Aber wir tun gut daran, künftig mehr darauf zu achten, dass Menschen überhaupt dazu befähigt werden, vollwertig am Leben der Gesellschaft teilzunehmen. Amartya Sens fruchtbares Konzept der "Verwirklichungschancen" weist über sterile Debatten der Vergangenheit hinaus

Sozialdemokraten tun häufig so, als beziehe sich der Begriff fairness wie selbstverständlich nur auf Umverteilungsgerechtigkeit. Sie sehen sich – mit Recht – als die Sachwalter von fairness. Aber wie Patrick Diamond und ich in unserem Buch Beyond New Labour zeigen, ist dies in Wirklichkeit nicht der Fall: Bei vielen politische Maßnahmen verweisen Sozialdemokraten überhaupt nicht explizit darauf, dass und in welcher Weise diese zum Ziel der sozialen Gerechtigkeit beitragen. Dieser Missstand hat konkurrierende und fehlgeleitete Sichtweisen von fairness, oder genauer unfairness befördert: beispielsweise, dass Einwanderer angeblich die sozialen Bedingungen der einheimischen Bevölkerung verschlechtern, oder dass Asylsuchende besonders großzügig behandelt würden.

Die verbreitete Kritik, New Labour habe eine falsche Vorstellung von fairness und beziehe den Begriff ausschließlich auf Armut, nicht aber auf Ungleichheit, ist nur halb richtig. Sicherlich kann man New Labour dafür kritisieren, dass die Partei die rasant wachsenden Einkommen am oberen Ende des Spektrums weitgehend ignoriert hat. Aber es ist abseitig, bezogen auf New Labour –  so wie es Adam Smith vielleicht getan hätte – zu beklagen, „die Neigung, die Reichen und Mächtigen zu bewundern, ja fast anzubeten, und Personen, die in armen und schäbigen Verhältnissen leben, zu verachten oder zumindest zu vernachlässigen ... [sei] die große und universellste Ursache für die Korrumpierung unserer moralischen Empfindungen“.

Es stimmt zwar, dass New Labour die Tiefe und Komplexität der Herausforderungen unterschätzt hat, die im Großbritannien des 21. Jahrhunderts durch Ungleichheit verursacht werden. Aber zugleich gab und gibt es eben keinen eindeutigen gesellschaftlichen Konsens darüber, welche Gehälter angemessen oder nicht angemessen sind. Deshalb hatte es die Partei in der Vergangenheit so schwer, ihre ehrgeizigen Ziele zu erreichen. Jedenfalls für die arbeitende Bevölkerung ist fairness vor allem dann besonders wichtig, wenn es um Transferleistungen für Arbeitslose geht oder um Verfahrensgerechtigkeit bei der Frage, ob und wann neu in Großbritannien angekommene Einwanderer Ansprüche auf Leistungen wie Sozialwohnungen haben.

Natürlich ist die Idee, dass viele unterschiedliche Menschen sich darauf verständigen können, offenkundige Ungerechtigkeiten aus der Welt zu schaffen, einer der Grundsteine unserer sozialliberalen und progressiven Tradition. Progressive müssen nicht in jedem einzelnen Detail übereinstimmen, bevor sie den Mut aufbringen, den nächsten Schritt zu tun.

In seinem neuen Buch The Idea of Justice räumt Amartya Sen mit den Gewissheiten des sozialdemokratischen Rawlsianismus und dessen „Differenzprinzip“ auf. Dieser Ansatz war im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts häufig das Leitmotiv der linken Mitte. Dahinter steckt der Gedanke, dass unterschiedliche Vergütungen solange moralisch gerechtfertigt sind, wie es die Existenz von Anreizen ermöglicht, die Lage der sozial Schwächeren zu verbessern.

Brauchen wir wirklich Regeln für die perfekte Gesellschaft?

Sen ist skeptisch gegenüber „transzendentalen Institutionalisten“ wie Rawls: Damit ist jene intellektuelle Tradition gemeint, die sich von Hobbes bis zu den Sozialvertragstheorien erstreckt. Im Kern geht es bei ihr immer um die Frage, wie eine vollkommen gerechte Welt aussehen würde, welche Institutionen und Regeln eine solche perfekte Gesellschaft haben müsste. Sen dagegen konzentriert sich darauf, real existierende Ungerechtigkeiten zu verringern, um eine bessere Welt zu schaffen – auch wenn sie dann noch immer nicht perfekt sein mag. Er bevorzugt diesen Ansatz, weil er es ihm ermöglicht, logisch über das Streben nach „globaler Gerechtigkeit“ nachzudenken. Für die transzendentalen Institutionalisten ist globale Gerechtigkeit eine Schimäre, weil Gerechtigkeit aus ihrer Sicht von Institutionen und Regeln abhängt, die auf transnationaler Ebene – ohne Weltregierung – kaum vorhanden sind. 

Bei der Suche nach Gesetzmäßigkeiten für globale Gerechtigkeit hat Sen die Ideen entwickelt, mit denen er heute am meisten in Verbindung gebracht wird: Die Vorstellung, dass jedes Individuum ein Anrecht auf bestimmte Verwirklichungschancen – capabilities – hat, die die Voraussetzungen für seine Fähigkeit sind, überhaupt zu „funktionieren“. Aus meiner Sicht hat die Idee der „Verwirklichungschancen“ aber noch mehr zu bieten: Intensiver als bisher müssen wir darüber nachdenken, wie dieses Konzept sowohl bezogen auf soziale Demokratie im nationalstaatlichen Rahmen als auch bezogen auf globale Gerechtigkeit Anwendung finden kann. In unser individualistisches Zeitalter passt es jedenfalls besser als die unauflösbaren Debatten zwischen „Chancengleichheit“ und „Ergebnisgleichheit“.

Doch ungeachtet des vorherrschenden Individualismus sollten wir uns zugleich daran erinnern, dass denjenigen, die keine individuellen Verwirklichungschancen besitzen, nur durch einen effektiveren Staat geholfen werden kann. Und, mehr noch, dass die größere individuelle Zufriedenheit, die Sens „effektives Funktionieren“ mit sich bringen soll, nur im Kontext einer starken Bürgergesellschaft erreicht werden kann, in der wir uns einander verpflichtet fühlen. «    

Aus dem Englischen von Michael Miebach 

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