Das nächste Ende muss ein Anfang sein

EDITORIAL

„Willy, aufstehen, wir müssen regieren!“ Mit diesen Worten versuchte einst Kanzleramtsminister Horst Ehmke, seinem zuweilen in Melancholie und  Selbstzweifeln versinkenden Chef neuen Tatendrang einzuimpfen. „Sozialdemokraten, aufwachen, es spricht täglich mehr dafür, dass ihr bald wieder regieren müsst!“ So muss der legendäre Satz für die Gegenwart neu formuliert werden. Der Grund ist das bestürzende Versagen der „bürgerlichen Wunschkoalition“ Merkel/Westerwelle. Frank-Walter Steinmeier brachte es vor einigen Wochen auf den Punkt: „Schwarz-Gelb ist ein Albtraum“. Und weil das immer mehr Menschen in  Deutschland immer klarer wird, fangen sie an,  sich nach Alternativen umzusehen. Das bringt die SPD wieder ins Spiel – höchst unerwartet und mit ungewissem Ausgang.

 Nach ihrer vernichtenden Niederlage bei der Bundestagswahl vor einem Jahr hatten sich eine ganze Menge Sozialdemokraten erst einmal auf eine ausgedehnte Periode in der politischen Wildnis eingestellt. Manchen gefiel diese Aussicht sogar ziemlich gut. Nach einer Ära vermeintlicher Entfremdung in der Exekutive sei nun endlich die Zeit gekommen, die Wunden verheilen zu lassen, die die Agenda 2010 und das Mitmachen in der Großen Koalition  der „Parteiseele“  geschlagen hätten, fanden sie. Auf die sozialdemokratische Tagesordnung wurden erst einmal Nabelschau, Trauerarbeit und die Suche nach dem inneren Selbst gesetzt. Zeit hatte man ja einstweilen genug.

 Dachte man zumindest. Wie groß der Irrtum war, zeigt sich jetzt. Zwar ist ja richtig, dass Parteien gut daran tun, sich beständig damit zu beschäftigen, wofür sie eigentlich stehen wollen. Aber ebenso richtig ist, dass solches soul searching immer auf politisches Handeln in Gegenwart und Zukunft ausgerichtet sein sollte: „Was würden wir eigentlich tun, wenn wir angesichts der Bedingungen und Zielkonflikte der Gegenwart jetzt agieren müssten? Wie würden wir das besser machen, woran die Regierenden gerade so eklatant scheitern? “ Handfeste Fragen wie diese gehören ins Zentrum der sozialdemokratischen Debatte.

Und das ist bloß der Anfang. Die enormen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – Weltwirtschaft, Klima, Energie, Ernährung, Bevölkerungsentwicklung – werden höchst schwierig zu bewältigen sein; und wenn überhaupt, dann nur mit ebenso intelligenter wie kohärenter Fortschrittspolitik. Nun ist allerdings in Deutschland die Ära der großen Volksparteien für immer vorbei und  das real existierende Parteiensystem zunehmend zerklüftet. Will die SPD in Zukunft als regierende Partei an der Formulierung wirklichkeitsangemessener Fortschrittspolitik beteiligt sein, dann muss sie jetzt anfangen, mit den möglichen Partnern einer progressiven Koalition einen wachsenden Vorrat an inhaltlicher (und übrigens auch zwischenmenschlicher) Übereinstimmung aufzubauen.

„Die Schlüsselbegriffe für eine neue progressive Ära lauten Kooperation, Kreativität und Gleichheit“, schreibt Robert Misik völlig zu recht. Es ist deshalb strategisch überhaupt nicht klug und löst kein einziges Problem unseres Jahrhunderts, wenn Sozialdemokraten heute vor allem Unterschiede zwischen der SPD und denjenigen Parteien herausarbeiten, die für künftige Fortschrittskoalitionen gebraucht werden. Ohne die Grünen wird es solch ein Bündnis sowieso nicht geben. Auch eine zur Wirklichkeit bekehrte Linkspartei und, gewiss, eine sozialliberal erneuerte FDP sind denkbare Partner. Was immer heute die Schnittmengen progressiver Politik erweitert, vergrößert die Chance, dass morgen auf den schwarz-gelben Albtraum etwas substanziell Besseres folgt. Dieses Ende muss ein Anfang sein.

Tobias Dürr, Chefredakteur

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