Europa allein zu Haus

Jahrzehntelang haben sich die Europäer auf den wohlmeinenden Hegemon Amerika verlassen. Im Gefolge der Weltwirtschaftskrise werden die Vereinigten Staaten als Ordnungsmacht ausfallen. Auf Europa kommt beispiellose globale Verantwortung zu

Manchmal hilft ein bisschen Schwarzmalen, um den Blick frei zu machen für den Kern eines Problems. Dass die sich seit Ende 2007 ankündigende und seit Herbst 2008 voll entfaltende globale Finanz- und Wirtschaftskrise in erster Linie als wirtschaftliches und vielleicht auch als soziales Phänomen betrachtet wird, ist verständlich. Doch hinter den Verlustrechnungen, Wachstumseinbrüchen und Stützungspaketen versteckt sich eine geopolitische Frage ersten Ranges. Mit der westlichen Wirtschaftsordnung, die gerade um die Reste ihrer Glaubwürdigkeit kämpft, steht auch das Thema der Weltordnung auf der Agenda, und damit die Frage nach dem Garanten globaler Stabilität. In Deutschland, wo die Krise real aber auch mental mit einer gewissen Verzögerung eintritt, wird diese Frage bisher nur im Kreis der üblichen Verdächtigen erörtert.

In den Vereinigten Staaten ist man da schon ein paar Schritte weiter, und die Januar/Februar-Ausgabe der Zeitschrift Foreign Affairs stellt mit der Position des früheren stellvertretenden amerikanischen Finanzministers Roger C. Altman gewissermaßen den Mainstream dieser Debatte dar1. Tenor: Die Krise ist ein schwerer geopolitischer Rückschlag für den Westen. Auf mittlere Sicht werden die USA und Europa nicht mehr die Rolle spielen, die sie ohne das Aufkommen der Krise gespielt hätten. Beide stehen vor einer Phase der Weltabwendung und Introspektion und können zudem aufgrund der massiven Geldnöte auch kaum die Mittel für internationale Projekte aufbringen. Und schließlich haben sie auch noch ihre ökonomische Glaubwürdigkeit in der Welt verloren. Bis auf den vagen Hinweis, dass China aus dem Ganzen gestärkt hervorgehen wird, verrät uns Altman aber leider nicht, welche Folgen sein Szenario haben wird. Genau dies aber ist die eigentliche Frage. Deshalb kommt hier ein schwarzmalerischer Versuch.

Der schleichende Bedeutungsverlust des Westens, vor allem aber Amerikas als entscheidender Garant für Stabilität und Sicherheit weltweit ist kein ganz neues Phänomen. Schon seit geraumer Zeit hat sich das Ende des unipolaren Momentes angekündigt, einzig das Zögern und die Unfähigkeit der aufstrebenden Mächte China, Russland und Indien haben dazu geführt, dass die vormals kaum eingeschränkte amerikanische Vormachtstellung noch jenseits ihres eigentlichen Verfallsdatums zum Tragen kam. Die Krise setzt jetzt einen Schlussstrich. Die gigantische Überschuldung Amerikas, sein kräftiger werdender isolationistischer Instinkt und das voraussehbare Scheitern der Stimulanzpakete werden die Ressourcen für globale Stabilisierungsleistungen drastisch verringern. Amerika nimmt ein Jahrzehnt lang Urlaub von der Weltpolitik.

Der Abschied des weltweiten Dienstleisters

Damit aber geht der Welt nicht nur der ungeliebte Einmischer Amerika verloren, dessen Rolle als Weltpolizist vor allem als dreiste Anmaßung bewertet wird, sondern vor allem der einzige globale Dienstleister, der in der Lage ist, an allen Ecken des Globus zur Not den Deckel auf überkochenden Töpfen zu halten. Der die Seewege freihält, welche die Globalisierung erst möglich machen. Der Indien und Pakistan davon abhält, sich in nukleare Abenteuer zu stürzen. Der mäßigend auf Israel einwirkt und damit öfter Erfolg hat als öffentlich sichtbar ist. Der den Nordkoreanern ihre Grenzen aufzeigt. Der sich darum kümmert, dass im Nahen Osten kein atomarer Rüstungswettlauf beginnt. Der seit 60 Jahren seinen nuklearen Schirm über Europa spannt und so gegenüber Russland ein freies Westeuropa garantiert, das dieses niemals selbst leisten könnte. Der dafür sorgt, dass Japan und China einander nicht zu sehr ins Gehege kommen. Der den Balkan befriedet hat, Griechen und Türken auseinander hält und in Nordirland die Konfliktparteien diszipliniert. Der bei all dem zwar auch schreckliche Fehler macht, aber dessen Leistungsbilanz im Stabilisierungsgeschäft dennoch unter dem Strich deutlich positiv ist. Stellen wir uns also vor, diese Weltmacht fiele aus. Nicht über Nacht, aber doch beinahe über Nacht. Sie muss nun all ihre Energie aufbringen, um die massiven Verwerfungen im eigenen Land zu bewältigen und das an allen Ecken und Enden knirschende Getriebe seines Gemeinwesens zusammenzuhalten (man muss ja nicht gleich das Auseinanderbrechen der Vereinigten Staaten in sechs Teile noch für dieses Jahr herbeiorakeln, wie dies der kremlnahe Chef eines russischen Think Tanks kürzlich in vortrefflicher Planübererfüllung tat). Durch ein massives Sparprogramm büßt Amerika zudem sukzessive die diplomatischen und militärischen Mittel ein, um weiterhin der Anker im globalen System zu sein.

Die Folgen sind unabsehbar. Sicher ist, dass jemand das Vakuum füllen würde. Unklar ist, wer. Kleine und mittlere Potentaten in Asien, Nahost und Lateinamerika haben die Diskreditierung Amerikas durch die katastrophale Ära Bush bereits genutzt, um sich freizuschwimmen. Was werden sie erst tun, wenn Amerika ganz ausfällt? Konfliktparteien, die jetzt noch stillhalten, weil Amerika den Preis für eine Eskalation hoch hält, werden vielleicht alle Hemmungen fallen lassen.

Ersatz ist nirgendwo in Sicht

Ein verlässlicher Ersatz für die amerikanische Führungsrolle ist nirgendwo in Sicht. Russland ist ein Koloss ohne stabilen Unterbau, eine Atommacht ohne Zivilkraft, bedroht von der demografischen Katastrophe und einseitig abhängig vom Energieexport. Wichtiger noch, Russland ist aufgrund seiner historischen Befangenheiten, seines hochwirksamen Minderwertigkeitskomplexes und seiner Fixierung auf die Wiederherstellung einstiger Großartigkeit vor allem mental nicht in der Lage, eine verantwortungsvolle und konstruktive Rolle außerhalb seiner Grenzen zu übernehmen. Und schließlich hat sein Gesellschaftsmodell eine Strahlkraft von unter Null, weshalb das Land auch hinsichtlich seiner soft power ein Vollausfall ist.

China hat sich trotz seines phänomenalen Aufstiegs in den vergangenen Jahren mit weltweiten Stabilisierungsdienstleistungen bisher sehr zurückgehalten. Die Gründe liegen auf der Hand: Die Wahrung des inneren Zusammenhalts einer nicht freiheitlichen Gesellschaft dieser Größe frisst fast alle Ressourcen auf. Chinas militärische Fähigkeiten entwickeln sich nur sehr langsam und lassen allenfalls eine regionale Machtprojektion zu, nicht aber eine globale. Als regionale Vormacht hat es zwar sowohl auf Nordkorea als auch auf Burma einen gewissen Einfluss, allerdings auch vitale Interessen an der Wahrung des geschäftlich (Burma) und strategisch (Nordkorea) günstigen Status quo. Einzig in der Piratenfrage hat sich die Exportnation China konstruktiv eingebracht.

Indien hat bisher keinerlei externen Gestaltungsanspruch angemeldet und besitzt aufgrund seiner dauerhaft prekären innenpolitischen Lage auch gar nicht die politische Kraft dazu.

Es bleibt denjenigen, die an Stabilität ein Interesse haben, also vor allem auch uns, als einzige Hoffnung: Europa. Doch die alte Welt ist ein schwieriger Hoffnungsträger, weil bei der globalen Rolle der EU Selbstanspruch, Potenzial und Wirklichkeit weit auseinanderklaffen. Europa besitzt zwar hohe Strahlkraft, enormes ökonomisches Gewicht und reichlich soft power, doch am Ende fehlten der Realitätssinn und die Entschlusskraft, um eigene Stabilität dauerhaft und mit Nachdruck an ferne Orte zu exportieren. Seit Gründung der Nato daran gewöhnt, dass eine externe Macht seine Sicherheit garantiert, hat Europa eine Versorgungsmentalität in Sachen hard power entwickelt und seine Bevölkerungen glauben gemacht, dass aus einer leidlich bewältigten eigenen kriegerischen Vergangenheit ein Anspruch auf dauerhaftes Inruhegelassenwerden erwächst.

Niedergang des gesamten Westens?

Amerikas Ausfall als globale Ankermacht wäre deswegen für Europa gleich doppelt bedeutsam: Es verlöre die Schutzmacht, die seine Sicherheit garantiert. Und es verlöre seine Führungsmacht, von deren Gnaden Europa an den Schaltstellen der Weltpolitik mitmischt (Afghanistan, Iran, Nahost). Der unmittelbare Bedeutungsverlust Europas in der Welt bei einem Bedeutungsverlust Amerikas wäre folgerichtig und unvermeidbar. Diese Schwarzmalerei führt die Abhängigkeit Europas von den USA also noch einmal deutlich vor Augen. In Roger C. Altmans Analyse ist dieses Phänomen schon stillschweigend als gemeinsamer Niedergang des Westens eingepreist und kaum noch einer länglichen Erklärung bedürftig.

Doch Europa muss sich der wie selbstverständlich dargestellten Logik des Niedergangs entziehen und sich aus der Abhängigkeit von Amerika befreien. Aber eben gerade nicht zur Gegenblockbildung oder zur Herstellung von Äquidistanz zwischen Moskau und Washington, sondern weil es bei einem Ausfall Amerikas als globaler Stabilitätsanker diese Rolle selbst wird wahrnehmen müssen. Nicht nur, um der Welt einen Gefallen zu tun, und schon gar nicht, um neo-koloniale Ideen auszuleben, sondern schlicht um seine Interessen zu wahren und ein Mindestmaß an Stabilität zu gewährleisten. Europa muss selbständig werden nicht weil es zu viel Amerika gibt, sondern weil es möglicherweise bald zu wenig davon geben könnte. Europa wird selbständig werden müssen, weil es nicht darauf zählen kann, dass in Abwesenheit des wohlmeinenden Hegemons Amerika andere genauso bereitwillig seine Interessen mit wahrnehmen werden.

Der Sprung, den Europa dafür wird machen müssen, ist viel größer als bei bisher zu lösenden Aufgaben. Zusätzlich zu all den Widrigkeiten, die das Problemlösen mit 27 Staaten ohnehin schon schwierig machen, muss eine Mentalität der globalen Verantwortung Europas geschaffen werden. In Amerika gab es diese trotz aller Provinzialität und nationalen Selbstüberhöhung immer. Die internen Hausaufgaben, die Europa zu erledigen hat, sind hinlänglich bekannt. Nun könnten externe Hausaufgaben hinzukommen, die noch weit jenseits all dessen liegen, was heute schon für kaum durchsetzbar gehalten wird. Europa muss Weltmacht werden, hat Alan Posener mit Recht gefordert. Die theoretische Einsicht in diese Notwendigkeit ist im Grunde längst vorhanden. Doch schon Jean Monnet wusste, dass Europa nur in Krisen zu echten Veränderungen in der Lage ist. Zur Einsicht muss sich der Leidensdruck gesellen. Wenn Altman auch nur annähernd Recht hat, und wenn man seine Analyse nur ein paar Schritte weiterdenkt, dann könnte sich dieser Leidensdruck schon bald einstellen.

1 Roger C. Altman, The Great Crash, 2008: A Geopolitical Setback for the West, in: Foreign Affairs 88 (2009) 1, S. 2-14

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