Ermattete Riesen

Handfeste Integrations- und Mobilisierungskrisen setzen den deutschen Volksparteien zu. Jetzt will die CDU mit ihrem organisationspolitischen Konzept der "Bürgerpartei" neue Wege gehen - die SPD wird reagieren müssen

Die Nervosität der Funktionäre in den Hinterzimmern verrauchter Gasthäuser und in den karg möblierten Parteigeschäftsstellen wächst: War es nicht eine historische Erfahrung der Parteien, dass ihre Reformkraft und politische Handlungsfähigkeit unmittelbar vom Grad ihrer Organisation abhingen? Waren nicht alle Errungenschaften der eigenen Gruppierung stets das Ergebnis vorbildlich organisierter Interessen gewesen? Und sind nicht Organisation und Status quo ihrer Klientel heute gleichermaßen in Gefahr? Der Stress ist berechtigt, und so wächst in den Parteien die Einsicht, dass sie ihre jeweilige organisatorische Basis ständig an die Herausforderungen der Zeit anpassen müssen.


Die politischen Bindungen sind in Auflösung begriffen. Das sozialdemokratische Milieu, also die von gleichen Interessen einheitlich geprägte Industriearbeiterschaft mit ähnlichen Lebensperspektiven, gibt es immer weniger. Die traditionell entscheidende Ressource der Sozialdemokratie wird knapp.(1) Das bürgerliche Milieu der vormaligen Honoratiorenpartei ist nicht minder von der Individualisierung der Lebensstile betroffen. Die Enkelkinder der (Klein-)Bürgerlichen kehren dieser Lebensweise schon seit einigen Jahrzehnten den Rücken. Die postindustrielle Gesellschaft verändert Bildungsbiografien, Rollenbilder, Erwerbs- und Familienleben.

 

 

 

 

Die alten geschichtlichen Erfahrungen, die einstmals ideologische Bindungen bewirkten, existieren nicht mehr im alten Ausmaß. Zugleich sind neue Anknüpfungspunkte für eine Bindung an die Volksparteien noch nicht recht gefunden. Nun stünde es der SPD nicht gut zu Gesicht, diese Ausdifferenzierung unserer Gesellschaft zu beklagen. Es war immer das erklärte Ziel ihrer emanzipatorischen Politik zu vermeiden, dass die Menschen durch ihre soziale Herkunft an eine bestimmte Entwicklung gebunden sein sollten. Zunehmende soziale Differenzierung sowie gestiegener Wohlstand bei noch immer vorhandenen sozialen Verwerfungen machen es allerdings schwerer, Antworten und Lösungsvorschläge zu bieten, die zumindest für einen Großteil der Bevölkerung nachvollziehbar sind. Die ständigen Kompromisse münden in handfeste Integrations- und Mobilisierungskrisen.

Abgehängt in den alten Hochburgen

Ausdifferenzierung und gesellschaftliche Modernisierung haben auch die Parteiorganisationen "erwischt", wobei jene der SPD vor allen anderen betroffen war. Ihre Funktionäre hatten sich stets aus bildungsbeflissenen, aufstiegsorientierten und orga- nisationenserfahrenen Facharbeitern rekrutiert. "Als in den sechziger und siebziger Jahren das bürgerliche Bildungsprivileg fiel, als sich die weiterführenden Schulen und Universitäten sozial öffneten, waren die Söhne und Töchter dieser Facharbeiterschicht sofort mit von der Partie: Sie machten Abitur, studierten - und verschwanden allmählich aus den Arbeitersiedlungen. ... Mit dem Auszug der früheren Organisatoren aus den Unterschichtquartieren fiel diese Klammer weg, das Milieu zerfiel."(2)

 

 

 

 

Olaf Scholz hat Recht, wenn er betont, dass es prinzipiell eine Stärke von Wohnortorganisationen ist, dass in ihnen verschiedene gesellschaftliche Gruppen, Schichten, Alters- und Berufsgruppen aufeinander treffen. In der Praxis jedoch hat längst eine fatale Segregation stattgefunden: "Wenn in einem großstädtischen Stadtteil mit sozialen Problemen ... kein sozialdemokratischer Kommunal- oder Landespolitiker mehr wohnt, verstehen wir die Sorgen der Menschen dort auch nicht mehr. Der soziale Aufstieg hat viele von uns doch längst in die schönen Vororte gebracht und von dort kommen oft auch unsere neuen Kandidatinnen und Kandidaten - wenn sie kommen. Mit gesicherten Jobs, keiner Drogenberatungsstelle in der Nähe, einem geringen Ausländeranteil lässt sich über soziale Toleranz in unserer Gesellschaft gut reden.

 

 

 

 

Die Menschen in mancher alten SPD-Hochburg gehen nicht mehr zur Wahl, weil sie sich längst von uns abgehängt fühlen. Und das ist ein durchaus in Teilen gerechtfertigter Eindruck. Für viele Menschen in den "besseren" Wohnquartieren hingegen sind wir in manchen Bereichen der Politik (z.B. Umweltschutz) eher stehen geblieben. Sie erreichen wir weder mit unserer Programmatik noch mit unseren Politikformen."(3) Das geschwächte Parteileben erschwert die programmatische Orientierung der Mitgliedschaft und die Handlungsfähigkeit in Wahlkämpfen. Franz Walter beschreibt die Sozialdemokratie der Gegenwart denn auch mit den Adjektiven "verzagt", "verunsichert", "kleinmütig" und "ermattet".(4)

Es droht die Diktatur der Zeitreichen

Bildet die Sozialstruktur der Parteimitgliedschaft die der Bevölkerung nicht ab, so hat dies negative Konsequenzen für die innerparteiliche Willensbildung und für die Besetzung von Funktionen und Mandaten. Es droht die Diktatur der Zeitreichen über die Zeitarmen, der Männer über die Frauen und der Alten über die Jungen. Das Reservoir an motivierten, verantwortungsvollen und belastbaren Ehrenamtlichen ist inzwischen zu klein, um die vielfältigen unbezahlten Aufgaben und Positionen auf den unteren Ebenen der Partei mit geeigneten Kandidatinnen und Kandidaten zu besetzten. Der Mangel an Funktionärsnachwuchs bewirkt, dass entlang der Organisationshierarchie kaum noch Bestenauswahl stattfindet. An deren Stelle tritt vielfach der Aufstieg farbloser Parteibeamter nach dem Senioritätsprinzip. Für die SPD wirkt sich erschwerend aus, dass sie mit der Gründungsgeneration der Grünen bereits in einer zentralen Alterskohorte den Anschluss verloren hat.

Die Beiboote dümpeln vor sich hin

Vor dreißig Jahren brachte die Bildungsexpansion einen enormen "Partizipationshunger" hervor. Als Auffangbecken für die jungen, gut ausgebildeten, nachdrängenden Kader schufen alle Großparteien eine Fülle von Vereinigungen, Sonderorganisationen, Parteiarbeitsgemeinschaften und Fachausschüssen. Im Wege der "Doppelstrategie" sollten sie eine strategische Mittlerrolle zwischen Partei und Gesellschaft einnehmen. Man sprach von der "Scharnierfunktion" zwischen den etablierten Parteien und den sozialen Bewegungen. In der CDU war von einer "Brückenfunktion" die Rede. Inzwischen scheint der Ideen-, Interessen- und Erfahrungstransfer indes etwas erlahmt zu sein. Etliche "Beiboote" der großen "Tanker" dümpeln vor sich hin. Ihre ausgezehrten Mannschaften beschäftigen sich häufig mehr mit sich selbst als mit dem gesellschaftlichen Vorfeld oder dem politischen Gegner. Das Hineinwirken in Verbände und Organisationen in den jeweiligen Arbeitsfeldern - durch gemeinsame Veranstaltungen, gezielte Öffentlichkeitsarbeit und persönliches Engagement - kommt zu kurz. Die "Nabelschau"(5) wird noch durch die untauglichen Versuche verstärkt, die Parteistrukturen in den Sonderorganisationen abzubilden. Infolgedessen werden die verbliebenen Ressourcen vor allem durch Prozesse der Selbstlegitimierung gebunden. Sie fehlen für den Diskurs an der Schnittstelle von Partei und Gesellschaft. Tritt die bunte Truppe nach außen, so bedient sie all zu oft die Erwartungen der Medienleute, die an abweichenden Stimmen aus der Partei ein nahe liegendes Interesse haben.(6)

 

 

 

 

Der lose verkoppelten Anarchie mangelt es nicht an Binnenpluralismus, sondern an Koordination in der Außendarstellung.
Politische Konzepte werden zunehmend weniger an vorausgesetzten Maßstäben einer guten Gesellschaft gemessen. Ihre Vermittlungsfähigkeit in der Mediengesellschaft gewinnt demgegenüber massiv an Bedeutung. Die Pressestellen der politischen Akteure haben sich längst auf einen Journalismus der Postmoderne eingestellt, der sich fortwährend ironisch, progressiv und dekonstruktivistisch gibt, während er in Wahrheit noch verunsicherter ist als die Politik selbst. Mit der Wechselwahlneigung der Wähler korrespondiert eine mediale Volatilität, die sich immer schneller von einem Trend zum anderen flüchtet. "Was man bei dem einen Kandidaten gestern kritisiert hat, ist morgen vergessen, und übermorgen wirft man dem dritten vor, dass er so ist, wie man den vorletzten gerne gehabt hätte."(7) Weil die Mechanismen der Problemverabeitung an Gremien, an das Ehrenamt und an demokratische Verfahrensregeln geknüpft sind, kommen die Parteien in diesem Spiel oft zu spät. Ihr Einfluss auf die politische Agenda sinkt. Das Ortsvereinsleben wird als beschäftigungstherapeutisches Randphänomen diskreditiert, weil die "richtige Politik" bei Sabine Christiansen gemacht zu werden scheint.

Das Wichtige tun

All diese Einsichten sind in Funktionärskreisen seit Jahren mehr oder weniger anerkannt. Matthias Machnig sprach denn auch noch 2001 davon, seine Partei habe in puncto Organisationsreform kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsdefizit.(8) Bedauerlicherweise ist dieser Befund auch nach seinem Wechsel in die privatwirtschaftliche Organisationsberatung von gewisser Aktualität. Das von Machnig auf der Basis der Thesen des Soziologen Manuel Castells formulierte Konzept der "Netzwerkpartei" setzte auf das Aufbrechen des Entscheidungsmonopols der formalen Parteihierarchie und propagierte ein stark medienorientiertes Politikverständnis.(9) Auch die "Bürgerpartei CDU" will sich unterdessen für die "Netzwerke-Gesellschaft der Gegenwart" fitmachen. Bei Lichte besehen steckt hinter dem modischen Begriff jedoch nicht viel mehr als der gute Vorsatz einer forcierten Öffnung der Partei für den Dialog mit gesellschaftlichen Gruppen - neben und über die Sonderorganisationen hinaus. Mag diese Strategie auch auf der Instrumentenebene richtig sein, um die Responsivität der Apparate zu erhöhen, so gibt sie doch keine Antwort auf die Frage, wie den Grundproblemen sinkender Organisationsgrade und mangelnder Repräsentativität der Volksparteien begegnet werden könnte.

 

 

 

 

Franz Walter trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er formuliert: "die Machnigsche Netzwerkpartei richtet sich allein an Menschen, die professionell kommunizieren, organisieren, konzeptualisieren können, an die ressourcenstarken Partizipatoren also ... sie hat kaum noch Raum für Laien und Amateure, für Vereinsmeier, Parteifestaktivisten und Plakatkleber mit Hauptschulabschluss; und sie hat sich erst recht von der Lebenswelt der Randständigen und Herausgefallenen gelöst".

Traditionelle Stärken sind vergessen

In den vergangenen Jahren wurde versucht, die operative Handlungsfähigkeit der Gliederungen dadurch zu erhöhen, dass in die Qualifizierung Hauptamtlicher, in Software, Computer und Internetlösungen ("Computeralphabetisierung") investiert wurde. Nebenbei sah die Parteispitze im Aufbau zentral administrierter Kommunikationsnetze die Chance, sich von der mittleren Funktionärsschicht als Transporteur von Führungsinformationen etwas unabhängiger zu machen.(10) Diese Neuausrichtung auf die Bedingungen der neuen Zeit leidet allerdings an zwei gravierenden Mängeln: Zum einen ist sie nicht weit genug entwickelt worden, so dass der Modernisierungsprozess in der Fläche über Ansätze kaum hinausgekommen ist.

 

 

 

 

Zum anderen sind traditionelle Stärken der Organisation durch diese Strategie etwas in den Hintergrund geraten: Die Verankerung am Arbeitsplatz, in der Familie und im Verein, die ehrenamtlichen Straßenwahlkämpfe, die SPD- Sommerfeste. Das eigentliche Parteileben, also politische Diskussion vor Ort, zwischenmenschliche Interaktion von Parteimitgliedern mit verschiedensten sozialen und beruflichen Hintergründen, geraten an den Rand. Zu Lasten der Sozialdemokratie wirkt sich hier aus, dass es in ihren gewählten Spitzengremien an Protagonisten der "Partei als lebendigem Organismus" fehlt. Bis jetzt ist es nicht gelungen, ein organisationspolitisches Leitbild für die SPD zu entwerfen, dass einerseits zeitgemäß und andererseits organisationsintern mehrheitsfähig wäre. Mit ihrem Reformkonzept einer "Bürgerpartei" hat die CDU den Wettbewerbsdruck auf die Sozialdemokraten jetzt noch weiter erhöht.(11)

Der Parteisoldat wird bald Geschichte sein

Wer das Überleben der Volksparteien sichern will, darf sich nicht an der Scheinkontroverse zwischen altbackenem Ortsvereinsleben einerseits und virtueller Netzwerkpartei andererseits abarbeiten. Vielmehr kommt es darauf an, zugleich das traditionelle Parteileben zu aktivieren und die Medien- und Netzwerkkompetenzen der Volksparteien weiter zu entwickeln. Volksparteien, die eine Zukunft haben wollen, müssen an ihrer Basis beides sein: einerseits volksnah und im Milieu verankert, andererseits mediengerecht und auf der Höhe der Zeit. Sie müssen sich zu "partizipativen und mobilisierungsfähigen Volksparteien" wandeln.

 

Wo es den Parteien heute noch gelingt, Attraktivität und Problemlösungskompetenz zu vermitteln, geschieht dies über eine enge Einbindung in das "ganz normale Leben" der Elternbeiräte, Sportvereine, Feuerwehren, Kulturinitiativen, Arbeitnehmer-, Schüler- und Studierendenvertretungen. Hier sind die Menschen, die sich für die Gemeinschaft engagieren. Ihnen sollten die Volksparteien ihre Organisationskraft leihen. Die innerparteiliche Kultur muss mit der Alltagskultur kompatibel sein, in der die Mitglieder zu Hause sind. Die CDU spricht zu Recht von einem "Ort von Gemeinschaft und Nachbarschaft mit Ereignis- und Erlebnischarakter". Wer Ansprüche an die Ortsvereine formuliert, darf nie übersehen, dass hier Ehrenamtliche nach Feierabend in ihrer Freizeit Politik machen. Dies geschieht in Konkurrenz zur Familie, zu Freunden, zur Freizeitgesellschaft und zum Vereinsleben. Die aktiven Mitglieder dürfen nicht überfordert werden. Der abrufbereite Parteisoldat wird schon bald Geschichte sein. Ehrenamtliche Mitarbeiter wollen motiviert und gewonnen werden.

Plastikkarten sind keine Lösung

Die Parteimitgliedschaft muss, bei allen richtigen Bemühungen um Öffnung und Durchlässigkeit der Organisation, in ihrem spezifischen Wert gestärkt werden. Mitglieder werden andere für die Mitarbeit in ihrer Partei gewinnen, wenn sie selbst vom Wert ihrer Mitgliedschaft überzeugt sind. Durch bloße optische Korrekturen (wie die Einführung einer Mitgliedskarte aus Plastik) lässt sich die Mitgliederarbeit nicht substantiell verbessern. Die Mitgliedschaft muss gewichtiger, spannender und verantwortungsvoller werden. Die Parteien müssen dem Einzelnen etwas bieten, das er nur dort bekommen kann. Sie sollten ihr Alleinstellungsmerkmal unterstreichen, das vor allem im Privileg der Mitwirkung und Mitentscheidung liegt. Selbstbewusste Mitglieder fordern aus guten Gründen einen besonderen Zugang zu politischen Informations- und Qualifizierungsangeboten. Sie wollen das Gefühl haben, durch ihre Arbeit einer guten und gerechten Sache zu dienen. Sie wollen stolz sein auf die politischen Erfolge der gesamten Partei. Gefragt ist deshalb ein Konzept der Mitgliederwerbung und -betreuung, das diese Bedürfnisse zu erfüllen hilft.

Mitreden und Mitgestalten

Ebenso ist ein mitwirkungsfreundliches Klima vonnöten. Echtes Parteileben kann sich vor Ort nicht entwickeln, wenn nur noch die Vorstände regelmäßig tagen, die Mitglieder aber nur zu Weihnachten, zur Jahreshauptversammlung oder zur Aufstellung von Listen eingeladen werden. Die örtlichen Gliederungen sollten angehalten werden, durch regelmäßige Mitgliederversammlungen mehr Möglichkeiten des Mitredens und Mitgestaltens zu schaffen. Der Zugang einfacher Mitglieder zu Gremiensitzungen ist verbesserungsbedürftig. Waren die Mitwirkungsmöglichkeiten in Sach- und Personalfragen für das einfache Mitglied bisher in beiden Großparteien mehr oder weniger auf die unterste Ebene begrenzt, so hat sich die Union neuerdings entschieden, auch für Stadt-, Stadtbezirks- Gemeinde und Kreisverbände den Übergang vom Delegierten- auf das Mitgliederprinzip zu erleichtern. Daneben räumt die CDU auf ihren Kreisparteitagen künftig jedem Mitglied des Kreisverbandes Rede- und sogar Antragsrecht ein. Man muss kein Prophet sein, um zu erkennen, dass dieser Vorstoß auch auf die Partei Willy Brandts ("Mehr Demokratie wagen!") Handlungsdruck ausüben wird. Zu einer Partizipationsoffensive würde es auch gehören, den Zugang zu echten Funktionärsposten zu erleichtern. Zu häufig ist in den Volksparteien die innerparteiliche Macht in der Hand weniger konzentriert. Es ist daher angezeigt, Ämterhäufung zu bekämpfen und die Verantwortung auf möglichst viele Schultern zu verteilen. Eine Verschärfung oder verschärfte Durchsetzung von Inkompatibilitätsvorschriften könnte diesen Prozess unterstützen.


 

 

 

Die Parteitage müssen die Orte sein, auf denen man sich auf die politischen Leitplanken des parlamentarischen Wirkens und Regierungshandelns verständigt. Sie sollen keine detaillierten Gesetzesvorgaben machen und dem Führungspersonal ausreichend Spielraum für das operative Geschäft lassen. Andererseits muss das natürliche Streben der Parteiführungen nach Autonomie von einer demokratischen Mitgliederpartei in Schach gehalten werden. Wo der Eindruck entsteht, dass die Parteitage nur noch als Kulisse für Jubelveranstaltungen dienen, wird es gefährlich: Zu keinem Zeitpunkt darf die Willensbildung von unten nach oben verdrängt werden. Keine Organisation kann auf Dauer überleben, wenn das Führungsverhalten die Bewusstseinslage der Basis nicht widerspiegelt. Dies gilt auch für die Mitwirkung im Verbund der immer bedeutender werdenden europäischen Parteien. Ihren Organen muss etwas von der Exklusivität des glatten, diplomatischen Parketts genommen werden. Der Einfluss der Gliederungen in den Regionen auf die personelle Zusammensetzung und die inhaltliche Willensbildung europäischer Parteistrukturen ist weiterhin steigerungsfähig.

Gegen Förmelei und Rituale

Parteitage müssen spannend sein. Ritualisierte Geschäftsordnungsabläufe sollten so wenig Zeit wie möglich in Anspruch nehmen, damit mehr Raum für die eigentliche politische Diskussion gewonnen wird. Um die häufig überaus ermüdenden Wahlverpflichtungen zu verringern, sollten die Wahlverfahren gestrafft werden, was allerdings nicht zu einem realen Verlust an Partizipationschancen führen darf. Die Union hat inzwischen vorgeschlagen, den im Parteiengesetz vorgeschriebenen Wahlzyklus von zwei auf drei Jahre zu verlängern. Hier liegt zweifellos ein Potential, um besonders den kommunalen Gliederungen Entlastungsmöglichkeiten zu verschaffen.


Der ritualisierte Arbeitsstil der Parteien und ihre bürokratische Streitkultur sind auch nach Jahrzehnten innerparteilicher Frauenbewegung nicht geschlechtergerecht. Der Frauenanteil ist trotz wahlrechtlicher Notbehelfe in Form von Quoren und Quoten nicht wesentlich gestiegen. Die Parteien täten gut daran, die Mechanismen ihrer Elitensukzession unter Gender-Gesichtspunkten noch einmal kritisch zu überprüfen. Wo immer dies möglich ist, sollten konkrete Projekte mit fassbaren Ergebnissen und überschaubaren Verbindlichkeiten Förmelei und "Sitzungssozialismus" ablösen. In Mentorinnen- und Mentorenprogrammen können erfahrene Parteimitglieder ihr Wissen an Nachwuchskräfte weitergeben. Dies ist besonders auch ein geeigneter Weg, um die Vernetzung weiblicher Funktionärinnen gezielt zu fördern.

Projektarbeit und flache Hierarchien

Die tradierten Formen der Zielgruppenarbeit reichen heute nicht mehr aus, um zu allen relevanten Gruppen der Gesellschaft mit ihren atomisierten Lebenswelten tragfähige Brücken zu bauen. Um den Dialog der Volksparteien mit der Gesellschaft zu verbreitern, bedarf es neuer Formen. Dies hat die Mehrzahl der Neben- und Sonderorganisationen der Parteien bereits erkannt: Sie können und müssen flexibler arbeiten als die Volksparteien selbst. Da sie aber in der Regel nicht weniger organisationskonservativ sind als ihre Mutterparteien, tun sie sich schwer, die Konsequenzen zu ziehen.

 

 

 

Wie man die Spielräume nutzt, machen das Wissenschaftsforum, das Kulturforum und das Forum Ostdeutschland der Sozialdemokratie oder der Wirtschaftsrat der CDU vor: Mehr Projektarbeit, wenig Parteibürokratie und flache Hierarchien. Die Mutterparteien wären gut beraten, für diese unvermeidliche Entwicklung ein Rahmenkonzept vorzugeben. Sie sollten auch die erforderlichen technischen Randbedingungen erfüllen. So scheint die CDU erkannt zu haben, welche überragende Bedeutung der zentralen Erhebung und Pflege von Empfängerdaten zukommt. Wer heute zielgruppengerecht mit Sympathisanten und Mitgliedern kommunizieren will, muss wissen, mit wem er es zu tun hat. Die Adressverwaltung der SPD bietet solche Möglichkeiten nur unzureichend. Sie ist ein geeignetes Instrument, um den Beitragseinzug zu managen und den Mitgliederschwund zu bilanzieren. Sie sollte zu einem Instrument entwickelt werden, mit dem sich echte Organisationspolitik betreiben lässt.

Jung zu sein bedarf es wenig

Generationenkonflikte nehmen leider auch in den Parteien an Schärfe zu. In diesem Punkt ist das innerparteiliche Leben Abbild der Gesellschaft. Die Volksparteien sind gut beraten, in ihren eigenen Reihen eine Streitkultur zwischen Jung und Alt zu etablieren, die von Sachlichkeit und Fairness geprägt ist. Hans-Jochen Vogel hat Recht, wenn er verlangt, dass die Jungen mitreden und mitentscheiden, aber auch zum Zuhören in der Lage sein müssen. Jung zu sein allein ist kein personalpolitisches Argument - soziale Kompetenz mit tragfähigen Perspektiven dagegen schon. Dabei kommt dem Thema Qualifizierung Ehrenamtlicher naturgemäß eine Schlüsselaufgabe zu: Das Projekt "Kommunalakademie" der SPD und der Sozialdemokratischen Gemeinschaft für Kommunalpolitik (SGK) hat das Zeug dazu, als Vorlage für dezentrale Breitenangebote zu dienen. Letztlich erwirbt man politische Qualifikation aber nur über praktische Erfahrung. Junge politische Talente kann man nicht durch eine Jugendquote dekretieren. Wer aber engagiert, kompetent und charakterlich geeignet ist, muss die Chance erhalten, sich in Ämtern und Funktionen zu bewähren.

 

 

 

Niemand sollte glauben, Organisationsreformen seien eine Wunderseife, mit der man den Volksparteien nur den Pelz waschen müsste. Zeitgemäße Parteiorganisation ist für die Parteien eine notwendige, aber keine hinreichende Überlebensbedingung: In den Parteien engagiert sich, wer den Eindruck gewinnt, etwas davon zu haben. Dabei dominieren für die meisten nicht materielle oder organisatorische, sondern originär programmatische Motive. Man will wissen: "Wofür?" Für die SPD war diese grundsätzliche programmatische Frage stets mit der Frage nach der Organisation von Interessen verknüpft. Rosa Luxemburg verdanken wir die Einsicht, dass der Weg zu politischer Verantwortung, von den gesellschaftspolitischen Zielen nicht zu trennen ist.(12) Nun scheinen aber die für das Publikum erkennbaren politischen Fundamentalalternativen seit einigen Jahren dramatisch zu schwinden. Der Einsatz, um den es im Parteienwettbewerb geht, wird scheinbar kleiner.(13) So begrüßenswert der Abschied von allem Eifernden und Doktrinären auch ist: Engagement braucht Ideen, Überzeugung, Ethos und Sinn.(14) Die Debatte um das Grundsatzprogramm muss aufzeigen, dass nicht weniger, sondern mehr auf dem Spiel steht. Nur Parteien, die sich in lebendigem Meinungsstreit auf eine mobilisierungsfähige Programmatik verständigen und vorbehaltlos ihre innere Ordnung immer wieder auf den Prüfstand stellen, werden das Etikett "Volkspartei" auch in Zukunft verdienen.


(1) Franz Walter, Die SPD: Vom Proletariat zur Neuen Mitte, Berlin 2002, S. 240.
(2) Franz Walter und Tobias Dürr, Die Heimatlosigkeit der Macht: Wie die Politik in Deutschland ihren Boden verlor, Berlin 2000, S. 95 f.
(3) Sigmar Gabriel, Die SPD 2010: Von der Partei des öffentlichen Dienstes zur Dienstleistungspartei, in: Netzwerk 2010 (Hrsg.), Die Chancen der neuen Zeit nutzen: Dokumentation des Kongresses am 9. September 2001 im Berliner Willy-Brandt-Haus.
(4) Walter, Die SPD (Anm. 1), Berlin 2002, S. 261 f.
(5) Vgl. Michael Scholing, Modernisierung der Partei: Ein Projekt nimmt Gestalt an, in: Malte Ristau, Michael Scholing und Johannes Wien (Hrsg.), Tanker im Nebel: Zur Organisation und Programmatik der SPD, Marburg 1992, S. 77 ff., hier S. 81.
(6) So schon Peter Glotz, Organisationsprobleme einer Volkspartei in den 80er Jahren: Rede des Bundesgeschäftsführers auf der organisationspolitischen Tagung der SPD am 2. und 3.10.1981 in Bonn-Bad Godesberg: "Angriffe ... auf die Gesamtpartei und auf die von der Partei getragene Regierung, die ... dem politischen Gegner oft für Tage und Wochen Munition bieten, wirkungsvoll auf uns zu schießen."
(7) Ulrich von Alemann, Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, 3. Auflage, Opladen 2003, S. 197.
(8) Matthias Machnig, Vom Tanker zur Flotte: Die SPD als Volkspartei und Mitgliederpartei von morgen, in: Hans-Peter Bartels und Matthias Machnig (Hrsg.), Der rasende Tanker, Göttingen 2001, S. 101 ff., hier S. 116.
(9) Ebenda.
(10) Richard Meng, Der Medienkanzler: Was bleibt vom System Schröder?, Frankfurt am Main 2002, S. 126.
(11) http.//www.cdu.de/tagesthema/21.06.03.beschluss.buergerpartei.pdf.
(12) Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution? In: Ossip K. Flechtheim, Rosa Luxemburg, Politische Schriften, Bd. 1, Frankfurt am Main 1966 (erstmals 1898), S. 114.
(13) Thomas Meyer, Kommunikationsspitzen und Aktivmitglieder, in: Bartels und Machnig, Vom Tanker zur Flotte (Anm. 8), S. 55 ff., hier S. 56 sowie Ute Vogt, Neue Generation - neue Partei?, ebenda, S. 141 ff., hier S. 144.
(14) Walter, Die SPD (Anm. 1), S. 263.

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