Erdoğan steht vor der Wegscheide

Nach dem gescheiterten Putsch baut Präsident Recep Erdoğan seine Macht auf repressive Weise aus und schafft ein autoritäres Präsidialsystem. Damit sind weitere innenpolitische Konflikte und ökonomische Einbußen programmiert. Die Folgen werden auch in Deutschland spürbar werden, wo man die regionale Bedeutung der Türkei noch immer unterschätzt

In der Putschnacht stand Recep Tayyip Erdoğan als ein Staatspräsident da, der es trotz all seiner Machtfülle nicht vermocht hatte, einen Putschversuch im Vorfeld zu verhindern. Mit seinem autoritären Führungsstil trägt er zudem eine Mitverantwortung für den gegen ihn gerichteten militärischen Widerstand. Doch mit Hilfe seiner Anhänger schob Erdoğan dem möglichen Machtgewinn der Generäle einen Riegel vor und kompensierte durch landesweite Massenmobilisierung seine politische Schwäche. So hat er wieder Handlungsspielraum gewonnen und sich sogar noch größerer Macht versichert. Die anschließende Annäherung an Russland, die Gespräche mit Israel und Syrien sowie der Einmarsch in Nordsyrien werden in Teilen der türkischen Bevölkerung als außenpolitischer Erfolg interpretiert und Erdoğan gutgeschrieben.

Es mehren sich jedoch auch kritische Stimmen, die vor einem Abgleiten des Landes in eine zivile Diktatur warnen. Währenddessen räumen Optimisten ein, dass nationale und internationale Dynamiken die AKP-Regierung und Erdoğan zu einem moderaten Reformkurs zwingen könnten. Welche dieser gegensätzlichen Prognosen sich langfristig als zutreffend erweisen wird, hängt davon ab, welche der bestehenden Trends sich durchsetzen und welche Akteurskonstellationen die Oberhand gewinnen werden.

Nach dem Putschversuch zeigte sich Erdoğan versöhnlich gegenüber der parlamentarischen Opposition. Er lud die Oppositionsführer der links-säkularen CHP und der nationalistischen MHP zu Konsultationen in den Präsidentenpalast ein, ließ zahlreiche Beleidigungsanzeigen gegen Oppositionelle und Journalisten fallen, erlaubte Demonstrationen und Kundgebungen auf dem Taksim-Platz. Es kam sogar zu einem Meinungsaustausch mit Metin Feyzioğlu, dem Präsidenten der Rechtsanwaltskammer, mit dem sich Erdoğan überworfen hatte. Der Höhepunkt war der gemeinsame Auftritt Erdoğans mit den Vorsitzenden von CHP und MHP bei der „Demokratie-und-Märtyrer-Kundgebung“ in Istanbul, an der Medienberichten zufolge über zwei Millionen Menschen teilnahmen.

Strafrechtliche Verfahren gegen Abgeordnete der mehrheitlich kurdischen Oppositionspartei HDP, deren Immunität das Parlament im Frühsommer aufgehoben hatte, wurden erst einmal auf Eis gelegt, wenngleich Verhandlungen mit der PKK weiterhin nicht auf der politischen Agenda der türkischen Regierung stehen. Zuvor hatte HDP-Chef Selahattin Demirta bereits in der Putschnacht den Umsturzversuch verurteilt, den im amerikanischen Exil lebenden Prediger Fethullah Gülen als Drahtzieher angeprangert und ihn der Sabotage des Friedensprozesses mit den Kurden bezichtigt.

Die Hoffnung auf Aussöhnung ist schon verflogen

Es waren diese Gesten der Versöhnung, die zunächst Anlass zu Optimismus gaben. Doch der repressive Kurs und die personale Machtakkumulation in den Wochen nach dem gescheiterten Putsch sind mit demokratischen Grundsätzen und rechtsstaatlichen Prinzipien unvereinbar. Diese Entwicklungen haben die Aussicht auf einen breiten zivilen Konsens und demokratischen Neuanfang vorerst wieder zunichte gemacht.

Seit der Ausrufung des Ausnahmezustandes regiert die türkische Führung das Land mit Sonderdekreten, mit denen zwei Ziele verfolgt werden: Zum einen wird gegen Beamte und Bedienstete in der Verwaltung, gegen Polizisten, Offiziere, zivilgesellschaftliche Akteure und Organisationen vorgegangen. Ihnen wirft man vor, dem Gülen-Netzwerk anzugehören und – sowohl direkt als auch indirekt – Verantwortung für den Putschversuch zu tragen. Mit dem ersten Dekret nach der Ausrufung des Ausnahmezustandes (Nr. 667 vom 23. Juli 2016) wurden 35 Gesundheitseinrichtungen und 934 private Bildungsinstitutionen, 19 Gewerkschaften, 15 Stiftungshochschulen, 109 Studentenheime und 104 Stiftungen geschlossen. Mit dem darauffolgenden Dekret zwei Tage später wurde eine großangelegte Säuberung im Militär veranlasst, von der insgesamt 117 Generale, 32 Admirale, 1 099 Offiziere und 436 Unteroffiziere betroffen waren.

Die parlamentarische Opposition kritisiert das Vorgehen als unverhältnismäßig und unvereinbar mit dem Rechtsstaat. In der demokratischen Öffentlichkeit der Türkei herrscht die Auffassung vor, dass sich unter den verhafteten und suspendierten Offizieren auch solche befinden, die zwar nichts mit dem Putsch zu tun haben, von der AKP-Führung aber als nicht regierungstreu betrachtet werden. Die Intransparenz der Strafverfolgung sowie die Erinnerung an die aus dem Ruder gelaufenen Ergenekon- und Schlaghammer-Strafprozesse gegen Militärs nähren den Zweifel an einer zufriedenstellenden Aufklärung des Putsches.

Zum anderen nutzt die Regierung die Dekrete in der Zeit des Ausnahmezustands, um den Zugriff der Exekutive auf das Militär zu stärken. Mit dem Dekret Nr. 669, ebenfalls vom 25. Juli, wurden alle Kriegsakademien, Militärgymnasien und Unteroffiziersschulen geschlossen. Für die Offiziersausbildung soll künftig eine „Universität der nationalen Verteidigung“ zuständig sein, die nicht wie bisher der Kontrolle des Generalstabs, sondern dem Verteidigungsministerium unterstehen wird.

Beschlossen wurde ferner die Dezentralisierung der türkischen Streitkräfte: Die Militärpolizei wird dem Innenministerium, die Land-, See- und Luftstreitkräfte werden dem Verteidigungsministerium und der Generalstab direkt dem Staatspräsidenten unterstellt. Es scheint bei dieser Militärreform weniger um die Effektivität und Schlagkraft der Streitkräfte zu gehen als um die Akkumulation von Macht in der Exekutive, vor allem beim Staatspräsidenten. Besonders problematisch ist, dass das Militär der parlamentarischen Kontrolle entzogen wurde – und das Parlament über eine so weitreichende Entscheidung nicht einmal abstimmen durfte.

Regierung und Opposition streiten sich zudem über den Umgang mit der Justiz. Die jährliche Eröffnung des Justizjahres durch Erdoğan im Präsidentenpalast wurde vom CHP-Vorsitzenden Kemal Kiliçdaroğlu als Politisierung der hohen Justiz und Aushebelung ihrer Unabhängigkeit kritisiert.

Einstige Gefährten werden aus dem Weg geräumt

Nach anfänglichen Versöhnungsgesten und einem kurzfristigen Burgfrieden hält der repressive Kurs also an und der Demokratieabbau setzt sich fort. Viele Beobachter fragen sich, was Erdoğan nun noch davon abhalten kann, die Türkei in ein autoritäres Präsidialsystem zu überführen.

Bisher konnte kein politischer Akteur Erdoğan Einhalt gebieten: Die Generäle mussten kürzer treten, einstige Gefährten und Gegenspieler hat er aus dem Weg geräumt. Oppositionsführer Kiliçdaroğlu hat bereits insgesamt sechs landesweite Wahlniederlagen eingesteckt und stellt heute keine ernsthafte Herausforderung mehr dar. HDP-Chef Demirta verhinderte – nach seinem Achtungserfolg bei der Präsidentschaftswahl 2014 – mit seiner Partei bei den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr immerhin eine Zwei-Drittel-Mehrheit für die AKP, die Erdoğan für die Einführung seines Präsidialsystems per Verfassungsänderung benötigt. Doch Demirta hat seine Glaubwürdigkeit und seinen Rückhalt in der Bevölkerung weitgehend verloren, nachdem er sich Ende 2015 zur Forderung nach einem autonomen Kurdistan hinreißen ließ – nach türkischem Recht ein Verfassungsbruch. Ähnlich erging es Fethullah Gülen, der sich 2013 nach langjähriger Allianz mit Erdoğan überwarf. Auch der zum Finanz-, Industrie- und Medienmagnaten aufgestiegene Unternehmer Aydin Dog˘ an konnte es nicht mit Erdoğan aufnehmen und musste eigene Tageszeitungen an regierungsnahe Unternehmen abtreten.

Nur drei Entwicklungen und Dynamiken können Erdoğan heute noch Grenzen setzen:

Erstens: ein Rückgang der Wirtschaftsdynamik. Erdoğan verdankt seine Popularität vor allem dem Wirtschaftswachstum und Wohlstandsgewinn seit seinem Machtantritt im Jahr 2003. Bis 2011 verdreifachte sich das Bruttosozialprodukt und das Pro-Kopf-Einkommen, die Inflation ging zurück, die Verschuldungsrate schrumpfte, die Infrastruktur wurde besser. Eine neue, religiös-konservative Schicht aus Klein- und Mittelunternehmern profitierte von dem exportorientierten Aufschwung und unterstützt seitdem die AKP und den Präsidenten mit Stimmen und Spenden. Sollte Erdoğans autoritärer Kurs jedoch in- und ausländische Investoren verschrecken, einen Braindrain auslösen oder seine Wirtschaftspolitik kontraproduktiv wirken, könnte sich diese Schicht gegen ihn stellen.

Zweitens: ein parteiinterner Machtkampf. Ein Großteil der alten Führungsriege der AKP – Abdüllatif Şener, Erkan Mumcu, Abdullah Gül, Bülent Arinç – wurde auf Erdoğans Betreiben aus der Partei ausgeschlossen oder entmachtet. Im Mai 2016 musste Premier Ahmet Davutoğlu, der die AKP zum Wahlsieg 2015 geführt und das Flüchtlingsabkommen mit der Europäischen Union ausgehandelt hatte, auf Erdoğans Druck hin zurücktreten. Zuletzt bekam Innenminister Efkan Ala den Zorn des Präsidenten zu spüren und musste ebenfalls demissionieren. Wer wird als nächstes entmachtet, als Mitglied einer Terrororganisation entlarvt oder aus der Partei ausgeschlossen? Gegenwärtig dürften viele AKP-Mitglieder um ihre politische Karriere und Existenzgrundlage besorgt sein, zumal Gerüchte über eine weitere Säuberungswelle innerhalb der Regierungspartei kursieren. Diese Sorge und Ungewissheit könnte viele Parteimitglieder der AKP dazu motivieren, Erdoğan im Schulterschluss mit den Ausgegrenzten und Entrechteten herauszufordern. Analysten halten es außerdem für möglich, dass Rücktritte aus der AKP-Fraktion die Partei ihre Regierungsmehrheit kosten könnten.

Drittens: Bedarf nach neuen Allianzen. Der Putschversuch hat offen gelegt, dass Erdoğan Staat und Militär nicht fest im Griff hat. Sein Schulterschluss mit kemalistischen Generälen und säkular-nationalen Kreisen ist ein weiteres Zeichen dafür, dass er nicht so fest im Sattel sitzt, wie es den Anschein hat. Politische Akteure, auf deren Unterstützung Erdoğan angewiesen ist, können seine Macht eindämmen und die Transformation in ein autoritäres Präsidialsystem zumindest verzögern.

Die Schockwellen erreichen längst Deutschland

Die Türkei ist vordringlich auf Wachstum, auf Innovationen und Absatzmärkte angewiesen. Sollte sich Erdoğan auf sein Ziel der Einführung eines Präsidialsystems versteifen, werden er und die AKP-Regierung kaum die nötigen Kapazitäten für neue Wachstumsansätze und strukturelle Reformen aufbringen können. Der Staatspräsident steht vor der Wahl: Entweder er ergreift Maßnahmen, die das Vertrauen in die Institutionen stärken und zudem ein neues Wachstumsmodell einführen, das neben dem Tourismus und der Baubranche verstärkt auf private Investitionen im Industriesektor, auf die Steigerung der Arbeitsproduktivität und der Frauenerwerbsquote sowie auf die Schaffung hochproduktiver Erwerbsmöglichkeiten setzt. Oder Erdoğan hält weiterhin an seinem autoritären Kurs und Wirtschaftspopulismus fest, um sein Präsidialsystem zu verwirklichen.

Die aktuellen Entwicklungen deuten auf den zweiten Weg hin, womit weitere innenpolitische Turbulenzen, wirtschaftliche Einbußen und außenpolitische Spannungen programmiert sind, die ihre Schatten auch bis nach Deutschland werfen werden. Die Auseinandersetzungen in der Türkei haben Deutschland ohnehin schon erreicht und belasten innenpolitisch nicht nur die Integration der türkeistämmigen Bevölkerung und ihr Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft, sondern außenpolitisch auch die deutsch-türkischen Beziehungen.

Die nationalistische Rhetorik türkischer Entscheidungsträger und ihre Vorwürfe gegen europäische und deutsche Politiker verschärfen die deutsch-türkischen Spannungen weiter. Verkompliziert werden die bilateralen Beziehungen zudem durch die allgemeine Türkeiskepsis der deutschen Öffentlichkeit. Zwar ist Kritik an den politischen Verhältnissen in der Türkei berechtigt. Hingegen wird mit der Ablehnung von erleichterten Visa, Forderungen nach dem Abbruch der EU-Beitrittsgespräche sowie einem härteren Ton gegenüber Ankara der Bogen deutlich überspannt. Die deutsche Öffentlichkeit überschätzt ihre Einwirkungsmöglichkeiten auf Ankara, und sie unterschätzt zugleich die regionale Bedeutung der Türkei. Umso wichtiger ist es, dass die deutsche Politik die Entwicklungen in der Türkei nicht nur durch die Brille bestimmter ethnischer oder religiöser Gruppen betrachtet, sondern ihren Blick für verschiedene Sichtweisen öffnet.

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