Der türkische Putin?

Der ehemalige Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan wurde erstmals in einer freien Wahl zum Staatspräsident gewählt. Für viele Beobachter handelte es sich um einen weiteren Schritt in Richtung Diktatur. Doch diese Deutung geht zu weit - und sie führt an dem eigentlichen Paradigmenwechsel vorbei: Die Türkei ist auf dem Weg in die post-nationale Gesellschaft

Am 10. August 2014 wählte das türkische Volk erstmals in der Geschichte der Republik seinen Staatspräsidenten direkt. Der seit 2003 regierende Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan konnte sich mit knapp 52 Prozent durchsetzen und wird nun bis 2019 sein neues Amt bekleiden.

Für viele in der Türkei ist das ein weiterer Schritt in Richtung Diktatur. Auch wenn diese Deutung übertrieben ist, bleibt zu fragen, wie sich die Türkei unter dem Staatspräsidenten Erdoğan innen- und außenpolitisch weiterentwickeln wird. Und wie lässt sich erklären, dass Erdoğan trotz der politischen Turbulenzen der vergangenen Monate und trotz eines gemeinsamen Kandidaten der Opposition bereits im ersten Wahlgang gewinnen konnte?

Schließlich wurden Erdoğan und seine Regierung noch im Juni 2013 von einer landesweiten Protestwelle herausgefordert. Kurz darauf wurden sie mit Korruptionsenthüllungen konfrontiert. Seitdem stehen sie wegen rechtswidriger Eingriffe in Justiz, Bürokratie, Polizei und seit langem wegen der eingeschränkten Pressefreiheit sowie ihrer Syrienpolitik in der Kritik.

In den Nachrichten kam nur Erdogan vor

Dennoch verlief der Wahlkampf um das Präsidentenamt vergleichsweise ruhig. Erdoğan nutzte alle ihm als Ministerpräsident zur Verfügung stehenden staatlichen Ressourcen und Infrastrukturen als Werbeplattform, einschließlich der öffentlichen Fernsehanstalten. Zu Recht kritisierte die Opposition den staatlichen Fernsehsender TRT, der die täglichen Nachrichten fast ausschließlich dem Premierminister widmete.

Trotz dieser äußerst günstigen Bedingungen steigerte sich Erdoğans Partei Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) im Vergleich zu den Kommunalwahlen nur um 800 000 Stimmen auf 20,2 Millionen. Bei den Parlamentswahlen im Juni 2011 hatte er noch 21,4 Millionen Wähler mobilisiert. Dies ist auch deshalb bemerkenswert, weil die Zahl der Wahlberechtigten seit 2011 um etwa vier Millionen angestiegen ist.

Zur Wahl standen bei der Präsidentschaftswahl neben Erdoğan noch zwei weitere Kandidaten: Ekmeleddin İhsanoğlu sowie Selahattin Demirtaş. İhsanoğlu war der gemeinsame Kandidat der Republikanischen Volkspartei CHP und der Partei der nationalistischen Bewegung MHP. Insgesamt zwölf weitere Parteien – darunter auch die rechtsextreme Partei der großen Einheit BBP und die linke Sozialistische Arbeiterpartei der Türkei TSİP – unterstützten ihn. Der international erfahrene Diplomat und Islamgelehrte gilt als konservativ-demokratisch und entstammt demselben geistig-kulturellen Milieu wie die Führung der AKP. Mit seiner Nominierung wollte man die religiös-konservative Schicht ansprechen und gleichzeitig den Laizismus hochhalten. Allerdings stieß die Kandidatur von İhsanoğlu nicht nur in Teilen der CHP auf Ablehnung.

Die Opposition ist uneins und unfähig

Die parteiinternen Kontroversen um die Kandidatur von İhsanoğlu und seine Sozialisation im ägyptischen Ausland boten ideale Angriffsflächen. So konnte Erdoğan sich als volksnaher Staatsmann präsentieren. Am Ende erhielt İhsanoğlu, dem es während des Wahlkampfs zudem an Enthusiasmus und Dynamik fehlte, nur 38 Prozent der gültigen Stimmen. Die Rechnung der national-säkularen Opposition, eine Stichwahl zu erzwingen, ging nicht auf. Die Zustimmung für ihren Kandidaten blieb sogar hinter dem Ergebnis zurück, das beide Parteien bei den Kommunalwahlen im März 2014 erzielen konnten.

Selahattin Demirtaş errang als Kandidat der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) mit knapp unter 10 Prozent immerhin einen Achtungserfolg. Doch auch für die HDP wäre eine Stichwahl wichtig gewesen, um ihre Verhandlungsposition bei den Gesprächen mit der Regierung zur Zukunft der Kurden zu stärken.

Wie aber konnte Erdoğan trotz der innenpolitischen Wirren im Land dieses Wahlergebnis einfahren? Zunächst einmal ist hierfür die schwache und perspektivlose Opposition verantwortlich. Nach außen unterstützten zwar viele Parteien den gemeinsamen Kandidaten, doch es gelang den Parteiführern nicht, ihre Basis zu überzeugen. Die größte Oppositionspartei CHP ist organisatorisch schwach, programmatisch steif und in der Kurdenfrage zu ambivalent. Gleichwohl sie sich neu ausrichten möchte und einen vorsichtigen Kaderwechsel vollzieht, ist sie noch immer zu stark auf den Erhalt des Status quo ausgerichtet. Und weil sie deshalb nicht als Kraft für eine demokratische Umgestaltung wahrgenommen wird, schafft sie es nicht, religiöse und ärmere Bevölkerungsschichten und die Kurden anzusprechen.

Erdoğan verkörpert den sozialen Aufstieg

Neben der schwachen Opposition wirkt vor allem Erdoğans Charisma. Nicht nur sind seine Rhetorik und seine Volksnähe legendär, auch verkörpert er wie kein anderer Politiker den Traum vom sozialen Aufstieg: Aus bescheidenen Verhältnissen stammend, stieg er entschieden die soziale Leiter hinauf und entriss den säkularen Eliten die Macht.

Gemeinsam mit seiner Partei schaffte er es nach der Wirtschaftskrise im Jahr 2001, den Menschen eine politische Alternative anzubieten. In den Folgejahren bestand er zahlreiche Konflikte mit der kemalistisch ausgerichteten Armee, Bürokratie und der Justiz. Das Vertrauen der Menschen gewann er, indem er Hoffnungen auf etwas „Neues“ weckte: „Eine fortschrittliche Demokratie“, „Eine neue Türkei“ oder eine „Emanzipation von der militärischen Bevormundung“. Zudem versteht es Erdoğan bis heute, die Massen von seinem dualistischen Weltbild zu überzeugen: Dabei steht der nationale Wille, der von der AKP vertreten wird, immer wieder gegen „die dunklen in- und ausländischen Mächte“. Er zeichnet ein Bild von der demokratisch-legitimen Regierung hier und den angeblichen „parallelen Strukturen“ der Gülen-Bewegung im Staatsapparat dort.

Doch es ist nicht nur sein Charisma, sondern auch die Wirtschaftsdynamik der letzten Jahre, die ihn beflügelt. Um durchschnittlich etwa fünf Prozent wuchs die Wirtschaft zwischen 2003 und 2013. Zugleich fiel in dieser Zeit die Inflation deutlich unter zehn Prozent, die Gesundheitsversorgung wurde verbessert, die städtische Infrastruktur und Verkehrsnetzwerke wurden ausgebaut. Darüber hinaus stieg das Bruttosozialprodukt pro Kopf deutlich an, während die Armut zurückging und die soziale Ungleichheit verringert wurde. Die türkische Zentralbank befeuerte mit ihrer Politik des günstigen Geldes einen Immobilienboom, der insbesondere den Mittelschichten zugutekam. Ganz klar: Erdoğan und seine Regierung stehen in den Augen vieler Türken für Prosperität und persönliches Wohlergehen.

Ein weiterer Faktor ist die Dominanz der Identitätspolitik. Auschlaggebend bei Wahlen sind weniger politische Inhalte, sondern vielmehr die kollektiven Gruppenidentitäten. Religiös-Konservative wählen überwiegend die AKP, die Säkularen die CHP, türkische Nationalisten die MHP und kurdische Nationalisten die HDP. Auch bei der Präsidentschaftswahl haben die Wähler weniger aus inhaltlichen Überlegungen heraus entschieden, sondern für den Kandidaten gestimmt, der ihnen kulturell nahestand. Die Polarisierung entlang des Lebensstils und der kollektiven Gruppenidentität stellt sich als vorteilhaft für die AKP heraus, weil sie den religiös-konservativen Teil der Gesellschaft repräsentiert, der eindeutig in der Mehrheit ist.

Vom Kemalismus zum post-nationalen Staat

Der türkische Staat hatte die Gesellschaft seit 1923 als eine ethnisch einheitliche und kulturell homogene Nation dargestellt und partikulare ethnische Identitäten sanktioniert. Davon hat sich die Regierung der AKP verabschiedet und betont stattdessen die multiplen Identitäten der Türkei, die sich aus der Geografie, Geschichte und Religion ergeben. Die Kandidatur von Demirtaş, die Genehmigung des Gebrauchs kurdischer Sprache und anderer Sprachen bei Wahlkämpfen sowie Diskussionen über eine mögliche „Autonomie“ für die mehrheitlich von Kurden besiedelten Südosten der Türkei reihen sich in diesen Wandel ein. Die Türkei entwickelt sich in Richtung einer post-nationalen Gesellschaft.

In diesem Zusammenhang steht nun auch die Wahl des Staatspräsidenten. Bisher war er zum einen ein Repräsentant der Republik, zum anderen der Hüter der kemalistischen Tradition (Laizismus). Gemeinsam mit der hohen Justiz und der Militärs bildete das Amt des Staatspräsidenten ein Gegenwicht zur mehrheitlich konservativ-religiösen Gesellschaft. Weil der Staatspräsident nun vom Volk gewählt wird und der Staatspräsident nicht mehr dem kemalistischen Milieu entstammt, entfällt diese Funktion.

Durch die direkte Wahl wird das Amt des Staatspräsidenten gestärkt. Insofern ist sie ein Schritt in Richtung eines semi-präsidialen Systems. Ob dieser Prozess damit abgeschlossen ist oder, wie von Erdoğan angekündigt, fortgesetzt wird, bleibt abzuwarten.

Beide Tendenzen sind zunächst positiv: Die Entwicklung in Richtung einer post-nationalen Gesellschaft erweitert die Artikulationsmöglichkeiten für partikulare Identitäten, schwächt ethnische Konflikte, stärkt die ethno-kulturelle Kohäsionskraft der Gesellschaft und mindert die Gefahr einer ethnischen Fragmentierung. Damit wird einem möglichen Zerfall des Landes vorgebeugt.

Im Zuge der Entwicklung in Richtung Post-Kemalismus stehen autoritäre Strukturen zur Disposition. Das Verhältnis von Militär, Staat und Gesellschaft normalisiert sich und der Staatslaizismus verliert seinen bevormundenden Charakter. Allerdings betreibt die Regierung parallel einen Demokratieabbau von oben.

Der Erfolg der AKP könnte ihr Ende besiegeln

Mit der Konsolidierung der Wählerbasis, dem beachtlichen Wirtschaftswachstum, der Zurückdrängung der Macht der Militärs sowie der Verlangsamung des EU-Verhandlungsprozesses haben Erdoğan und seine Regierung das Interesse an einer weiteren Demokratisierung des Landes verloren. Die AKP ist auf Distanz zu säkular-liberalen Intellektuellen gegangen. Sie hat sich vom Westen ab- und der Nahostregion zugewandt. Die jüngsten Äußerungen Erdoğans und des neuen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlus deuten darauf hin, dass der autoritäre Führungs- und polarisierende Politikstil nach einem Freund-Feind-Schema fortgesetzt wird.

Auf diese Weise will die AKP-Führung die eigenen Reihen enger schließen, jegliche Kritik an den Verhandlungen mit der PKK unterbinden und Forderungen nach einer Aufklärung der Korruptionsvorwürfe abwehren. Allerdings sind dieser Strategie Grenzen gesetzt. Denn sie beschleunigt die personelle und ideologische Schließung der AKP, wodurch die AKP-nahen sozialen und wirtschaftlichen Netzwerke schrumpfen werden. Das könnte am Ende dazu führen, dass sich wichtige Wählerschichten von der AKP abwenden.

(Dieser Text ist am 2. Oktober 2014 parallel als Online-Spezial-Beitrag der Berliner Republik und beim Think Tank "Das Progressive Zentrum" erschienen.)