Eine Frage der Freiheit

Das Ende der Wehrpflicht ist absehbar. Was kommt danach? In der vorigen Berliner Republik rief Christian Lange zur Schaffung eines Allgemeinen Sozialen Pflichtdienstes auf. Doch mit dem Leitbild einer "Chancengesellschaft" wäre das nicht vereinbar

Ein echtes Ärgernis in der Debatte um die Zukunft der Wehrpflicht ist ihre Verknüpfung mit dem Zivildienst. Manchmal wird der Eindruck erweckt, der wichtigste Zweck der Wehrpflicht sei deren Verweigerung - des Zivildienstes wegen. Denn was solle man bloß in all den Bereichen tun, in denen heute die "Zivis" eingesetzt werden?

Christian Lange positioniert sich eindeutig gegen die Wehrpflicht, beantwortet aber die Frage nach der Zukunft des zivilen Dienstes mit der Forderung nach einem Allgemeinen Sozialen Dienst. Der Umbau der Bundeswehr zur Freiwilligen-Armee biete "die einmalige Chance, im breiten gesellschaftlichen Diskurs die politischen Grundlagen für einen neuen Geist staatsbürgerlichen Engagements zu legen, der dem Selbstverständnis einer reifen Demokratie im 21. Jahrhundert gerecht zu werden vermag".

In einem "flexiblen Modell für eine offene Gesellschaft" könnten Jugendliche vielfältige und ihren Neigungen sowie beruflichen Interessen entsprechende Dienste für die Gesellschaft leisten. Nicht nur in der Bundeswehr oder im Sozial- und Gesundheitswesen, sondern auch im internationalen Bereich oder etwa in Vereinen, Stiftungen oder Selbsthilfegruppen. Das sei auch gerecht, weil die Entscheidungen bei der Musterung häufig willkürlich erscheinen; aber auch die Differenzierung zwischen den Geschlechtern sei nicht mehr zeitgemäß. Mit dem Allgemeinen Sozialen Dienst werde das "kollektive Zusammengehörigkeitsgefühl", das "bürgerschaftliche Engagement" gestärkt. Im Übrigen sei nach Artikel 12 des Grundgesetzes der Allgemeine Soziale Dienst "nicht nur möglich, sondern geradezu geboten".

Diese Position kann sich ohne Zweifel in weiten Teilen der Sozialdemokratie sehen lassen. Schließlich lässt sie sich durch den Abgleich mit den Grundwerten der Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität begründen und ignoriert den Wert der Freiheit. Die Forderung nach einem Allgemeinen Sozialen Dienst ist aber auch unrealisierbar und teilweise falsch begründet.

Um mit der falschen Begründung zu beginnen: Artikel 12 des Grundgesetzes hat die Berufsfreiheit zum Gegenstand. Der zweite Absatz lautet: "Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht." Ich bin zwar kein Jurist, aber es scheint sich mir doch deutlich um eine vom Grundgesetz eingeräumte Möglichkeit zu handeln, nicht um ein Gebot.

Dienstpflicht für Frauen - ist das gerecht?

Abgesehen von diesem vielleicht als argumentative Feinheit zu betrachtenden Aspekt spricht ein handfester praktischer Grund gegen die Allgemeine Dienstpflicht: das Geld. Wollten wir alle jungen Menschen, also auch die Frauen, zum Dienst verpflichten, müssten diese entsprechend bezahlt werden - und sei es für ihren Dienst in der Selbsthilfegruppe. Und dann käme noch eine Bürokratie zur Abwicklung, Anerkennung, Klärung von Streitfragen et cetera hinzu.

Aber die Kritik am Zwangsdienst sollte nicht mit zu kleiner Münze argumentieren - schließlich kosten alternative Vorschläge auch etwas. Darum zunächst die Frage nach Gerechtigkeit und Gleichheit: Was soll gerecht daran sein, auch die jungen Frauen zum Dienst zu verpflichten? Trotz aller Bemühungen: Realistisch betrachtet werden Frauen lange noch den überwiegenden Teil der Lasten in der Familie, für Erziehung wie Pflege übernehmen. Und jetzt sollen die Frauen vorher noch einer staatlichen Dienstpflicht unterzogen werden? Das kann nicht unser Ernst sein.

Christian Lange hat Recht: Eine Allgemeine Dienstpflicht wäre nur unter Einbezug der Frauen denkbar. Aber das ist das stärkste Argument gegen die Allgemeine Dienstpflicht. Lange bezieht sich mit der Forderung nach Gleichheit der Rechte und der Pflichten auf die Klage von Frauen auf Zulassung zur Bundeswehr. Doch hier ging es ja nun eindeutig nur um die Rechte, nicht um die (Wehr)Pflichten der Frauen. Eine Allgemeine Dienstpflicht würde jedoch nur eine formalrechtliche Gleichbehandlung der Geschlechter in den Pflichten, nicht jedoch in der gesellschaftlichen Realität nach sich ziehen.

Wie funktioniert Zusammenhalt ohne Zwang?

Des weiteren stellt sich die Frage, warum nun ausgerechnet die SPD, die mit ihrer Reformpolitik den Wert der Freiheit stärker betont als bislang in der Linken üblich, einen so massiven Einschnitt in die Freiheit der jungen Menschen fordern sollte. Gerade wenn junge Menschen die Schule oder auch ihre berufliche Ausbildung beendet haben und nun einsteigen wollen in das Leben, sollen sie ausgebremst werden? Auch das können wir nicht ernsthaft wollen.

Wer den Menschen Chancen geben will, ihren Weg zu wählen und sich an der von ihnen gewünschten Stelle zu engagieren, kann ihnen nicht verordnen, zunächst nicht zu studieren oder keinen Beruf zu ergreifen. Da ändert auch die von Christian Lange eingeräumte verbreiterte Auswahlmöglichkeit der zum Dienst Verpflichteten nichts im Grundsatz. Die volkswirtschaftlichen Schäden einer solchen Fehlallokation von Kompetenz und Arbeitskraft wären im Übrigen erheblich.

Christian Lange entwirft ein Bild der gesellschaftlichen Wirkung einer Allgemeinen Dienstpflicht, das auffallend der Idealisierung der Bundeswehr als "Schule der Nation" ähnelt. Da wird der Dienst zu einer wichtigen Ingredienz der Zivilgesellschaft - und diese sei schließlich "Schule der Demokratie". "In der gemeinsamen Arbeit für die Gemeinschaft Tag für Tag" werde den jungen Menschen der "unveräußerliche Wert ihrer eigenständigen Persönlichkeit" verdeutlicht. Wir sollten skeptisch sein, ob sich diese erzieherischen Leistungen tatsächlich erbringen lassen und ob - auch gut gemeinte - kollektive gesellschaftliche Erziehungsziele überhaupt anzustreben sind. Menschen sollten sich in selbst gewählten Zusammenhängen weiter entwickeln können.

Aber zweifellos werden hier ernsthafte Fragen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt aufgeworfen. Wie stärken wir Verantwortung und Gemeinwohlorientierung? Wie und von wem werden notwendige Dienste geleistet? In der Diskussion um ein neues sozialdemokratisches Grundsatzprogramm betont das Netzwerk Freiheit und Chancen und deren verantwortliche Nutzung durch die Menschen. Wolfgang Thierse, Michael Müller und andere Vertreter der Linken in der SPD verwenden den Begriff der "öffentlichen Güter", die bereitgestellt werden müssen. In der hier angesprochenen Frage der sozialen Dienste wird es konkret, hier zeigen sich Schwerpunktsetzungen und auch Realitätstauglichkeit der beiden Konzepte.

Eine Nagelprobe für das Netzwerk

Ohne Frage ist die Erbringung gesellschaftlich notwendiger Dienste wie etwa Betreuungsleistungen für Kranke, Behinderte, pflegebedürftige Menschen, aber auch für Kinder und Heranwachsende von zentraler Bedeutung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Es handelt sich um öffentliche Güter, deren Bereitstellung durch den Staat organisiert werden muss. Die unter den gegenwärtigen Bedin- gungen schwindende Bereitschaft zu ehrenamtlichem Engagement und die demografische Entwicklung werden in den nächsten Jahren das Problem der "Produktion" dieser öffentlichen Güter stetig anwachsen lassen.

Das ist eine Nagelprobe für das Netzwerk-Konzept. Ist die Gesellschaft, ist der Staat in der Lage, diese öffentlichen Güter unter Wahrung der Freiheit der Einzelnen bereitzustellen? Der Allgemeine Soziale Dienst für junge Menschen - wie wohlklingend auch begründet - wäre die Bankrotterklärung für das vom Netzwerk entwickelte Leitbild der "Chancengesellschaft". Es geht also um die Bewältigung dieser gesellschaftspolitischen Herausforderung ohne Zwangsdienst.

Ein Mix mehrerer Elemente wird nötig sein, der auch den bei Christian Lange zu kurz kommenden Aspekt der notwendigen Qualität von erbrachten sozialen Diensten berücksichtigt. Zum einen ist die Ausweitung der professionellen Dienste notwendig. Sie ist über Steuern respektive Sozialsysteme zu finanzieren. Natürlich ist auch das nicht einfach, aber aufgrund der Einbeziehung aller unter Beachtung der individuellen finanziellen Leistungsfähigkeit sowohl solidarisch als auch gerecht - und letztlich alternativlos. Darüber hinaus gibt dies Menschen Chancen, eine qualifizierte Erwerbstätigkeit auszuüben.

Des Weiteren müssen die Rahmenbedingungen für freiwilliges Engagement verbessert werden - Vorschläge zur Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements, auch des Freiwilligen Sozialen Jahres, liegen vor und sollten mit Nachdruck verwirklicht werden. Dabei können in der Tat auch wichtige berufliche Erfahrungen gemacht und Weichenstellungen vorgenommen werden - für die, die es so wollen.

Und es muss damit ernst gemacht werden, dass alle Menschen ein faires Arbeitsangebot erhalten. Soweit jedoch der erste Arbeitsmarkt dafür nicht ausreicht, müssen auf dem zweiten Arbeitsmarkt gesellschaftlich sinnvolle Tätigkeiten angeboten werden. Solidarität ist eben keine Einbahnstraße. Hier können die Einzelnen Solidarität an die Gesellschaft zurückgeben - im Rahmen eines gerechten Verhältnisses von Leistung und Gegenleistung. Die Freiheit ist hier in zumutbarer und notwendiger Weise eingeschränkt. Wer aber seinen eigenen Weg gehen kann, ohne die Solidarität der Gesellschaft in Anspruch nehmen zu müssen, sollte das tun dürfen.

Die Wehrpflicht muss fallen. Und sie wird fallen. Doch an ihre Stelle dürfen wir kein neues Zwangsinstrument setzen. Die "Chancengesellschaft" soll Wege öffnen, nicht Wege verschließen. Soziale Dienste können genutzt werden, um Menschen zu aktivieren - soweit sie es wollen oder es nötig ist. Soziale Dienste sollten aber nicht aktive Menschen daran hindern, ihre eigenen freien Entscheidungen zu treffen.

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